Baltrumer Bärlauch

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Gerdje war wie vor den Kopf geschlagen. Kaum hörte sie noch die Worte, die unablässig aus Olgas Mund zu sprudeln schienen. »Gerdje, Gerdje, alles klar mit dir? Du süchst ja richtig krank ut. Mach doch wohl all’ns nicht stimmen. Vielleicht habe ich das auch nur verkehrt verstanden. Mensch, Gerdje, nun warte doch eben.«

Aber Gerdje hatte sich auf ihr Fahrrad gesetzt und sauste wie von Furien gehetzt los, immer die Hellerstraße entlang, am Spielteich vorbei bis kurz vor das Hotel Fresena. Im scharfen Bogen lenkte sie ihr Rad durch das Deichschart geradeaus bis zur Schule und ohne rechts oder links zu schauen direkt über die Kreuzung bis zum Insel-Markt. Dann weiter auf den Weg, der unterhalb der Randdünen entlang führte. Zwei Mal war sie knapp davor, einen der Fußgänger zu überfahren, die auf dem Weg zum Strand waren.

Plötzlich versagten ihr die Beine. Gerade schaffte sie es noch, das Fahrrad in die dichten Büsche zu werfen, die den Weg einrahmten, und zu Willys Utkiek hoch zu laufen. Schwer atmend fiel sie auf eine der hölzernen Bänke. Sie presste beide Hände zur Faust geballt auf ihre Brust. Seitenstiche drohten ihr den Atem zu nehmen. Das durfte einfach nicht wahr sein. Würde er das wirklich tun? Ohne sie zu fragen? Er wusste es doch. So vernagelt konnte er nicht sein. Selbst wenn er sich die letzten Jahre für nichts mehr interessiert hatte, was seine Frau anging. Er konnte es einfach nicht vergessen haben. Er wusste, wie sehr sie ihren Garten unterhalb der großen Düne liebte. Ihr Garten, der genau an die hohe Düne grenzte, in die die Flak­station damals kurz vor dem Zweiten Weltkrieg eingebaut worden war.

Nach dem Krieg hatte der Raum jahrelang leer gestanden, bis ihre Eltern ihn gepachtet hatten, um Gartengeräte unterzubringen und alles, was sie gerade nicht benötigten. Als dann an Stelle des alten Insulanerhauses das neue gebaut wurde und Gerdje und Hinrich es irgendwann mitsamt den Gästen übernahmen, war der Pachtvertrag einfach weitergelaufen. Jahr für Jahr hatte Gerdje zwischen dem Haus und der Düne an ihrem Garten gearbeitet. Geschuftet hatte sie. Mutterboden mit dem Sandboden gemischt. Sträucher und Stauden angepflanzt. Wege gezogen und alles mit einer Eibenhecke eingefasst. Sicher gab es Insulaner, die meinten, dass ein parkähnlicher Garten für Baltrum untypisch sei. Sie aber hatte sich davon nicht abbringen lassen. Gerdje hatte sich mit dem Garten einen Traum erfüllt. Und am Ende des Gartens lag unterhalb der Düne der Geräteschuppen, der nun nicht mehr ihrer sein sollte.

Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie merkte nicht einmal, dass zwei Gäste den Weg heraufkamen, sie neugierig und verwundert anschauten und dann auf der anderen Seite wieder verschwanden. Und dann war da noch … Nein, sie konnte es nicht zulassen. Sie würde es ihm verbieten. Schlichtweg verbieten. Immerhin hatte sie das ganze Anwesen mit in die Ehe gebracht. Er hatte sich in seinem ganzen Leben nicht um den Garten und den Flakstand gekümmert. Sie konnte die beiden Räume, die vor langer Zeit in den Fuß der Düne gegraben worden­ waren, nicht aufgeben. Sie konnte einfach nicht.

Langsam ließen ihre Seitenstiche nach und ihr Blick suchte das Wasser. Unaufhörlich rollten die Wellen an den Strand. Wie im richtigen Leben, dachte sie. Es geht immer weiter, mal oben, mal unten, und immer muss man rudern, um das Gleichgewicht zu halten, nicht unterzugehen. Und irgendwann kommt die letzte Welle und rollt im weichen Strandsand aus.

Langsam liefen ihr Tränen über die Wangen und tropften­ auf ihre Hose. So saß sie eine lange Zeit und dachte nicht mehr an ihren Einkauf.

Donnerstag

Fynn fuhr Inga mit dem Auto von Worpswede zum Bremer Hauptbahnhof. Nicht, um ihr einen Gefallen zu tun, das war ihr klar, sondern weil er dem Paula-Modersohn-Becker-Museum in der Böttcherstraße einen Besuch abstatten wollte.

Er versuchte allerdings, ihr noch einmal ernsthaft ins Gewissen zu reden. »Du hast wohl vergessen, dass unsere Abschlussarbeiten in der nächsten Woche abgegeben werden müssen.« Süffisant grinste er sie von der Seite an. »Aber so sind meine Chancen, ausgezeichnet zu werden, natürlich noch etwas höher. Tak for det.«

Sie hatte ihm nicht erzählt, dass ihre Lieblingsskulptur, der Leopard mit den wachen Augen, bereits auf dem Tisch der Juroren lag. Sie war glücklich über ihre letzte Arbeit, denn sie hatte genau das aus dem Holz herausarbeiten können, was ihr wichtig erschien. Das Spiel der Muskeln beim Absprung – fast meinte sie, die Bewegung spüren zu können, wenn sie über das warme Holz strich.

Inga machte es sich im Regionalexpress gemütlich. In Norden würde der Bus der Reederei Baltrum-Linie auf sie warten und sie nach Neßmersiel bringen. Und dann noch eine Schifffahrt, dachte sie, so habe ich an einem Vormittag fast alle gängigen Verkehrsmittel durch.

Es war ruhig im Zug. Inga lehnte sich entspannt zurück und dachte an den Mann mit dem mächtigen Schnurrbart und dem ausladenden Künstlerhut.

Sie hatte viel unternommen in den letzten Tagen, um ihrem neu erkorenen Lieblingsmaler näher zu kommen. Sie hatte sich im Internet bei Artprice seine Bilder angesehen, die Biografie gelesen und sich in den Worpsweder Museen und Galerien umgeschaut. In der Käseglocke, einem kleinen, runden, wunderschönen Museum mit außergewöhnlicher Architektur mitten im Wald, hatte sie in einer gläsernen Vitrine Geschirr entdeckt, das von seiner Frau Erna bemalt worden war. Auch vor dem ehemaligen Wohnhaus Bertelsmanns, einem der ältesten Bauernhäuser in Worpswede, hatte sie gestanden, aber nicht den Mut gefunden, die Klingel zu drücken.

Inga hatte auch versucht, etwas über das Baltrum im Jahre 1905 zu erfahren, dem Jahr, in dem Walter Bertelsmann die Insel besucht hatte. Allerdings waren da die Informationen eher mager gewesen. Sie hoffte, direkt auf der Insel mehr herauszufinden.

*

Es war November, als er sich auf den Weg nach Baltrum machte. Ein aufregender Entschluss, denn um diese Jahreszeit gab es die Annehmlichkeiten des gerade erblühenden Tourismus auf der Insel nicht, und die Verbindung dorthin war recht langwierig. Aber er wusste, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Er stieg in Bremen in den Schnellzug, der ihn in die kleine Stadt Norden brachte. Von dort nahm er die ostfriesische Küstenbahn für eine halbstündige Fahrt nach Dornum. Unterkunft fand er im Hof von Ostfriesland.

»Wohin soll Ihr Weg gehen?«, fragte ihn der Hotelbesitzer­ Wilhelm Fokken.

»Ich möchte nach Baltrum, obwohl das Wetter nicht gerade zum Baden einlädt.« Er zeigte auf seinen großen Reisekoffer. »Aber ich habe genügend wetterfeste Sachen dabei. Als Norddeutscher ist man mit Sturm und Kälte vertraut, nicht wahr? Außerdem stecken hier noch viele Mal-Utensilien drin. Sagen Sie, wie komme ich morgen nach Neßmersiel? Von dort fährt doch das Schiff, wenn ich mich richtig informiert habe?«

Fokken nickte. »Ich bin nicht nur Hotelier, sondern auch Fuhrunternehmer hier im Ort. Ein Landauer und eine offene Chaise stehen bei mir im Stall. Damit könnte ich Sie morgen nach Neßmersiel bringen. Ob das Schiff fährt, kommt auf die Wetterlage an. Haben wir Sturm, besonders starken Ostwind, müssen Sie noch ein wenig länger meine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen.«

Walter Bertelsmann versprach, am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück reisebereit in der kleinen Hotelhalle zu warten.

Er nutzte die Zeit und schaute sich in dem beschaulichen­ ostfriesischen Ort das Schloss und die alte Kirche mit ihrer prächtigen Orgel an.

Am nächsten Tag wartete er bereits ungeduldig auf seine Kutsche, als Wilhelm Fokken hereinkam. »Sie haben Glück, heute fährt der Postbus nach Neßmersiel, so ersparen Sie es sich, in der kalten Kutsche zu sitzen. Sehen Sie«, er zeigte nach draußen, »dort steht er schon. Er fährt zwei Stunden vor Ablegen des Schiffes los, denn es kann immer sein, dass das Schiff wegen schwankender Wasserverhältnisse etwas früher als im Fahrplan ausgedruckt die Leinen lösen muss. Nun kommen Sie. Ich trage Ihren Koffer.«

Am kleinen Hafen unterhalb des Fährhauses lag das Schiff bereit zur Abfahrt. Er sah, dass außer ihm noch ein paar andere Gäste die Überfahrt antreten wollten. Auch ein wenig Fracht wurde noch geladen. Dann ging es unter Segeln durch einen gewundenen Priel Richtung Wattenmeer. Das Wetter war klar, und bald schon konnte er die Silhouette der Insel mit den kleinen Insulanerhäuschen in der Ferne liegen sehen. Kapitän Eilts, so hatte der Schiffsführer sich vorgestellt, hatte ihm erzählt, dass das Schiff bis zur Buhne M des Schutzwerkes fahren würde, von dort könne man ganz bequem in einem kurzen Fußmarsch die Insel erreichen.

Bertelsmann hatte vor der Reise einen Brief von seinem Vermieter erhalten, der seine Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht hatte, dass jemand mitten im Winter­ Baltrum besuchen wolle. Dennoch hatte der Mann versprochen, ihn an der Buhne abzuholen, und ihm ein Zimmer in seinem kleinen Hotel zur Verfügung zu stellen. Frühstück, Mittagessen und Abendessen wird in der geheizten Küche bereitgestellt, hatte er am Schluss seines Briefes geschrieben. Und mit Hinrich Janssen Küper, Hotelier unterschrieben.

Inga schlug verschlafen die Augen auf. Der Zug fuhr gerade langsam in den Emder Bahnhof ein. Glück gehabt, dachte sie, hätte ich nur ein wenig länger geträumt, wäre ich womöglich erst in Norddeich aufgewacht, und das wäre für meine Reise nach Baltrum ganz bestimmt nicht günstig gewesen.

Den Rest der Fahrt verbrachte sie damit, die Felder und Wiesen zu bewundern, die sich rechts und links des Schienenstranges bis zum Horizont erstreckten. Ab und zu fuhren sie durch einen der kleinen ostfriesischen Orte. Marienhafe las sie. Hatte hier nicht der berühmte Pirat Klaus Störtebeker im Kirchturm gehaust und zusammen mit den Ostfriesen der Hanse die Stirn geboten?

 

In Norden am Bahnhof stand der Bus schon bereit. Inga machte es sich auf einem Fensterplatz gemütlich. Am Marktplatz stiegen noch einige Leute ein, beladen mit Einkaufstaschen und voll bepackten Rollwagen. Bald entspann sich unter den Zugestiegenen eine angeregte Unterhaltung. Das müssen Insulaner sein, kombinierte Inga messerscharf, denn sie verstand nicht ein einziges Wort. Sie stammte zwar aus Schleswig-Holstein, konnte aber kein Plattdeutsch. Das kann ja heiter werden, dachte sie. Hoffentlich verstehen die mich auf der Insel überhaupt!

Nach einer knappen halben Stunde sah sie den Hafen vor sich. Eine große Fähre legte gerade an, und ein kräftiger Wind wehte ihr beim Aussteigen um die Nase. Inga bestieg das Schiff und schaute sich auf dem Oberdeck um. Die meisten der blauen Bänke waren noch leer, obwohl herrlicher Sonnenschein dazu einlud, die Überfahrt draußen zu genießen.

Auf einer der Bänke saß eine junge Frau, die viele bunte Schleifchen in ihre knallrote Mähne geflochten hatte, und lächelte Inga an. Sie machte einen so offenen und freundlichen Eindruck, dass Inga das Gefühl hatte, sie schon ewig zu kennen. »Darf ich mich zu Ihnen setzen? Ich heiße Inga Tarmstedt.«

»Ich bin Lena Schirrmacher. Sie wollen sicher Urlaub machen.«

Inga nickte. »Ja, und ein bisschen Recherche betreiben. Ich folge den Spuren eines Künstler, der hier gewesen sein soll.«

»Ich besuche meine Großeltern«, erklärte Lena Schirr­macher. »Habe zwei Wochen Urlaub und spontan beschlossen, die Insel könnte mir mal wieder ganz gut tun. Wir vermieten auch. Zimmer mit Frühstück. Oma hat bestimmt was frei. Haben Sie schon ein Zimmer?«

»Ja, ich habe im Ostdorf eine kleine Ferienwohnung gemietet. Im Haus Seegras.«

»Ach, das ist ja super. Das Haus von meinen Großeltern liegt gleich gegenüber. Dann können wir uns morgens beim Zähneputzen zuwinken.« Lena lachte. »Lassen wir doch das blöde ›Sie‹. Ich bin Lena. Sollen wir uns mal auf ’nen Kaffee treffen? Wie wär’s morgen um drei im Kluntje?«

Inga war froh, gleich so eine nette Bekanntschaft gemacht zu haben. »Wenn du mir nun auch noch erklären würdest, wo das Kluntje ist? Bin neu hier.«

»Klar doch, du läufst einfach Richtung Osten, am Friedhof vorbei und dann links über den Deich. Gleich dahinter ist das Café.« Lenas ausgestreckter Arm zeigte eine für Inga undefinierbare Richtung an. Trotzdem versprach Inga: »Ich werde pünktlich da sein.«

Als das Schiff auf Baltrum anlegte, fragte Lena: »Wirst du abgeholt, oder willst du deine Sachen mit bei uns auf die Wippe stellen, ich meine natürlich unsere kleine Transportkarre?«

»Frau Meyer hat gesagt, sie stände mit einer Wippe« – Inga lachte und betonte das Wort ›Wippe‹ deutlich, »und einem Namensschild vor der Brust am Hafen. Lasse mich also überraschen. Bis bald.«

*

Schon als sie die hintere Gangway der Baltrum I herabstieg, sah Lena ihre Großmutter aus der Ferne winken. Sie winkte zurück, und eine große Freude erfasste sie bei dem Gedanken, ihre Oma gleich in die Arme schließen zu können. Opa war natürlich nicht mit zum Hafen gekommen. War wohl zu viel verlangt. Aber er würde schon früh genug ihre neue Frisur missbilligend in Augenschein nehmen, mit seinem typischen verständnis­losen Kopfschütteln wieder zum Strand latschen und nach drei Stunden mit einer Karre voll zusammengesuchtem Strandgut wieder auf der Matte stehen.

»Oma, Oma!« Mit ausgebreiteten Armen lief sie auf die wartende Frau zu, sobald sie festen Boden unter den Füßen spürte.

»Mensch, Lena, ist das schön, dass du da bist.«

Lena sah Tränen in den Augen ihrer Großmutter. »Was ist denn mit dir los? So nah am Wasser gebaut kenne ich dich gar nicht. Ist irgendwas? Du siehst müde aus.«

»Ach was, gar nichts ist los. Ich bin nur froh, dass du da bist. Und ein bisschen geschafft von der Saison. Die vielen Monate ohne einen freien Tag, das geht an die Nieren. Aber reden wir nicht davon. Komm, pack deine Sachen in die Wippe. Du weißt ja: Der Weg ins Ostdorf ist lang, aber schön.«

Lena nahm ihren Koffer aus dem Container, schaute sich nach ihrer neuen Freundin um und sah, dass deren Vermieterin zur Stelle war. »Wir können los. Wie geht es meinem muffeligen Großvater?«

»Ach, gut. Wie immer.«

Lena betrachtete sie argwöhnisch. »Oma, was ist los? Du hast doch was.«

»Es ist alles in Ordnung, mein Kind, glaube mir. Hast du gehört, dass neulich ein Film hier gedreht worden ist? Über die Theatergruppe?«

»Nein, erzähl mal.«

Und Gerdje erzählte alles, was sie über die Filmaufnahmen wusste. Trotzdem wurde Lena das Gefühl nicht los, dass ihre Oma ganz andere Dinge auf dem Herzen hatte als das, was sie ihrer Enkelin als aufregende Neuigkeit verkaufen wollte.

*

Inga hatte ihrer Vermieterin kurzerhand das Fahrrad mit der Wippe aus der Hand genommen und gesagt: »Sie zeigen mir den Weg und ich schiebe das Rad. Sind schließlich meine Koffer hintendrauf.«

Frau Meyer hatte daraufhin erfreut genickt. »Manche Gäste kämen gar nicht auf den Gedanken, mir die Arbeit abzunehmen. Aber ich will mich nicht beklagen«, sagte sie mit einem entschuldigenden Lächeln. »Die meisten sind nett und zuvorkommend. Wie Sie.«

Im Haus wurde Inga gleich von der hellen und freundlichen Atmosphäre gefangen genommen. Alles war so dekoriert, wie Inga sich immer ›nordischen Stil‹ vorgestellt hatte. Auf den Kiefernmöbeln lagen blaue Deckchen und neben einigen typischen maritimen Holzschnitzereien fanden sich ein paar außergewöhnliche Arbeiten, die Ingas Aufmerksamkeit fesselten.

»Mein Mann«, erklärte Frau Meyer. »Er macht solche Dinge. In seiner Freizeit. Sie können ihn nachher ruhig in seiner Laube besuchen. Er wird sich freuen. Aber erst zeige ich Ihnen Ihre Wohnung.«

Inga nickte erfreut. Das ging ja gut los. Kaum auf der Insel und schon ein Gleichgesinnter. Wenn die Chemie stimmte, würde daraus sicher die eine oder andere Fachsimpelei entstehen. Möglicherweise konnte der Mann ihr einige Türen öffnen.

Von ihrer neuen Bleibe war Inga begeistert. Große Fenster gaben auf der einen Seite die Aussicht auf die Dünen und auf der anderen Seite zu den Häusern und Gärten des Ostdorfes frei. Als Frau Meyer die Tür zum Schlafzimmer öffnete, fiel Ingas Blick auf eine riesige bunte Patchworkdecke, die das große Bett einhüllte. »Was für eine großartige Arbeit«, sagte sie beeindruckt.

»Die habe ich geschneidert. An langen dunklen Winter­abenden«, erklärte ihre Vermieterin. »Ich sitze an der Nähmaschine, wenn mein Mann sein Schnitzmesser schwingt.«

Auch die blitzblanke Küche und das von einer gemütlich aussehenden blauen Couchgarnitur dominierte Wohnzimmer überzeugten Inga. »Hier werde ich es problemlos die erste Woche aushalten, und vielleicht bleibe ich noch länger. Mal sehen.«

Frau Meyer nickte. »Die Wohnung ist frei. Sagen Sie nur Bescheid.«

Inga ließ sich den Weg zu den Einkaufsmöglichkeiten beschreiben und packte dann ihre wie immer viel zu reichlich mitgenommene Kleidung in den Schrank. Schließlich weiß man nie, was an der Nordsee für ein Wetter herrscht, versuchte sie sich einzureden. Das wechselt doch ständig.

Im Moment brauchte sie für einen Strandspaziergang nur ein T-Shirt und eine leichte Hose. Der Spätsommer­ zeigte sich von seiner schönsten Seite. Aber zuerst musste sie einkaufen. Sie wusste nur zu gut, dass ein leerer Kühlschrank bei ihr das Gefühl von Verlorenheit wachrief. Ein guter Tag begann für Inga immer mit einem ausgedehnten Frühstück.

Als sie aus dem Haus trat, sah sie in der Tür gegenüber Lena mit ihrer Oma. Sie winkte fröhlich, erhielt aber keine Antwort. Dann eben nicht, dachte sie, und hatte das Gefühl, dass die beiden sich gerade in einer nicht angenehmen Unterhaltung befanden.

Sie lief an der Aussichtsdüne vorbei und sah links einen kleinen Park, versteckt in einem Dünental. Sie bog ab, um einen Blick hineinzuwerfen. Die schwere Tür quietschte beim Öffnen. Sie wunderte sich, dass dieser hübsche Garten mit den muschelbedeckten Wegen so hoch eingezäunt war. Ein kleines, blaues Schild wies sogar darauf hin, dass die Tür wieder zu schließen sei. Seltsam.

»Das ist wegen der Karnickel und der Rehe«, hörte sie plötzlich eine Stimme. Auf einer der Bänke saß ein Mann in den Fünfzigern, neben sich ein aufgeschlagenes Buch und eine Flasche Wasser. »Entschuldigung, aber Sie sahen so ratlos aus. Ich hoffe, ich bin Ihnen nicht zu nahe getreten.«

»Nein, genau diese Frage habe ich mir gerade gestellt. Gibt es denn auf der Insel so viele davon?«

»Jede Menge. Darum ist auch das Friedhofstor so stabil angelegt. Müssen Sie mal drauf achten, wenn Sie dort einen Besuch abstatten sollten.«

Inga bedankte sich und ging weiter, am Kinderspielhaus und am Schwimmbad vorbei. Rund um den Marktplatz herrschte reges Treiben. Kleine Kinder spielten auf einem blauen Ungetüm, das Inga nach langer Betrachtung als einen Wal erkennen konnte. Sie fragte sich, ob aus dem Loch im Kopf des Monstrums ab und zu Wasserfontänen zur Belustigung der Gäste austraten. In diesem Moment tat sich allerdings gar nichts. Das Becken war ausgetrocknet, der blaue Verputz blätterte ab. Ein Gitter, das in guten Zeiten wohl das gewaltige Gebiss des Wals hatte darstellen sollen, war seltsam achtlos neben seinem vorgesehenen Platz abgestellt worden. Der Freude der Kinder tat der Verfall des Kunstwerkes allerdings keinen Abbruch. Sie tobten herum, während die Eltern auf den Bänken saßen und sich von der Sonne bescheinen ließen oder vielleicht in den Geschäften rundherum ihre Einkäufe erledigten.

»Hallo, junge Frau, dürfen wir dich zu einem kühlen Getränk einladen?«

Erstaunt blickte Inga sich um. Vor einem Lokal saßen vier junge Männer, jeder mit einem gefüllten Glas Weizenbier in der Hand. Einer von ihnen, braun gebrannt und mit einem blonden Wuschelkopf, winkte ihr fröhlich zu.

Inga lachte. »Grundsätzlich schon, aber im Moment gerade nicht.«

»Du stehst deinem Glück aber mächtig im Wege«, antwortete der Blonde, und ein anderer fiel zaghaft ein: »Und unserem erst …!«

»Kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete sie. »Ihr seht doch aus wie das Urlaubsglück pur. Zumindest du.« Sie nickte dem Blonden zu, bevor sie sich den anderen zuwandte, die missmutig in ihre Gläser starrten. »Ihr drei solltet allerdings etwas an eurer Laune arbeiten. Bis dahin: Macht’s gut.«

Hoffentlich bin ich denen nicht zu nahe getreten, dachte sie, als in Richtung Insel-Markt weiterging, aber eigentlich war es ihr egal. Ingas Programm hieß Lebensmittel besorgen, schwimmen gehen und dem Schöpfer der skurrilen Skulpturen in ihrem Ferienhaus einen Besuch abstatten.

Lena kam ihr mit wehenden Haaren auf dem Fahrrad entgegen und brachte es mit einem waghalsigen Bremsmanöver genau vor ihr zum Stehen.

»So trifft man sich wieder.« Inga lächelte. »Ich hab euch vorhin zugewinkt, aber ihr wart wohl ins Gespräch vertieft, du und deine Oma.«

»Ach Mensch, hör bloß auf«, winkte Lena ab. »Mir könnte schlecht werden, wenn ich sehe, wie Oma sich duckt und windet, wenn das Gespräch auf Opa kommt. Dabei hat sie immer die Karre am Laufen gehalten mit der Pension, während der alte Knabe zeitlebens seine Rückenschmerzen gepflegt hat. Nichts kann er mehr, aber jeden Tag Fahrrad und Wippe durch den tiefen Strandsand schieben, das geht. Und seine alten, verrotteten und salzwassergetränkten Holzbalken auf die Wippe laden, das geht auch! Und sie will es einfach nicht einsehen. Da kann ich reden wie ’ne Blöde.«

Inga schaute ihre neue Freundin nachdenklich an. »Ich kenne deine Großmutter nicht, aber vielleicht hat sie sich in all den Jahren in diesem Zustand eingerichtet und möchte da gar nicht rausgeholt werden?«

Lena nickte. »Genau das ist der springende Punkt. Aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Dabei will ich Oma natürlich auf keinen Fall unter Druck setzen. Also, wenn überhaupt, dann vielleicht ein bisschen. Sie soll wissen, dass wir auf ihrer Seite sind, wenn sie endlich anfängt, Opa zu zeigen, wer der Herr im Hause ist.« Lena lächelte. »Aber wie auch immer, wir sehen uns morgen beim Kluntje? Ach was, wir können genauso gut zusammen hingehen. Also um drei Uhr auf der Straße? Noch besser, ich hole dich ab. Basta.«

Inga nickte. »Dann bis morgen. Mach’s gut.«

*

»Wie schade, nun ist sie fort«, seufzte Bernd und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas.

»Nun fahr mal wieder runter, Bernd.« Karsten schaute sein Gegenüber mürrisch an. »Du weißt genau, wie die Aufgabe lautet: Kontakte knüpfen, aber nicht auffallen.«

 

Leonard schloss die Augen. Hörte der denn nie auf zu meckern? Er wünschte sich Ruhe, nichts als Ruhe, aber Karsten gab unerbittlich seine Anweisungen.

»Leonard und ich gehen heute Nachmittag zum Hafen und schauen, was läuft. Bernd, du und Manfred, ihr beide macht am Strand euren Job. Also schluckt nicht mehr so viel, damit ihr nicht mit besoffenem Kopp im Wasser landet. Wir sehen uns dann heute Abend. Und denkt alle dran: keine scharfen Weiber anbaggern.« Karsten strich im Aufstehen über sein sorgfältig gestyltes Haar. »Na ja, wenn ihr mir eure Herzis zeigt und ich sie für gut befinde, will ich mal nicht so sein. Tschüss dann, bis später.«

»Das war’s dann mit der Stimmung«, murmelte Manfred, als Karsten außer Hörweite war. »Die Kleine von eben ist weg. Und glaubt mir, das mit dem ›für gut befinden‹ hat der wörtlich gemeint. Erst will er selber drübersteigen und wenn er genug hat, dann dürfen wir mal.«

»Jus primae noctae«, sagte Bernd. »Da wäre er nicht der Erste, der auf dem Recht der ersten Nacht besteht. Na ja, eigentlich habe ich nichts gegen gebrauchte Ware. Bin schließlich im Second-Hand-Laden der Caritas groß geworden. Aber bei Mädels bin ich mir da nicht so sicher.« Er grinste schief. »Wie sagt man doch immer: Der größte Feind des Rechtes ist das Vorrecht.«

»Das ist alles zu hoch für mich.« Manfred reckte sich. »Lass uns jetzt zum Strand gehen, Bernd, sonst wird Kars­ten böse.«

»Ich für meinen Teil will noch ein Bier und dann ein Schnarchpäuschen.« Bernd schaute über den Marktplatz. »Ganz nett hier, aber wenn alles gut läuft, sind wir in drei Tagen schon auf Langeoog. Dann können wir dort den Bestand der Töchter aufmischen.«

»Meine Fresse«, sagte Leonard, »müsst ihr immer über Weiber reden? Gibt doch auch Wichtigeres im Leben. Ihr zahlt. Nicht vergessen, wir wollen uns nicht unbeliebt machen auf dieser schönen Insel.« Er wollte aufstehen, aber Bernd drückte ihn zurück auf den Stuhl.

»Schau mal, dort, der Süße, der die Folienkartoffel mit Krabben vor sich stehen hat. Ein echter Hingucker. Die Kartoffel meine ich natürlich«, flüsterte er Leonard ins Ohr.

Leonard stöhnte genervt auf. »Lasst mich doch in Ruhe«, sagte er leise. »Ist doch mein Ding, oder?«

»Da hat er recht, Bernd, und jetzt lass uns endlich zum Strand gehen«, sagte Manfred. »Wie sollen wir denn unseren Job machen, wenn wir das Zeug nicht haben?« Unbewusst fasste er sich an die Nase. Seine Finger fühlten den schlecht zusammengewachsenen Knochen, der seinem Gesicht seit einigen Monaten ein verwegenes Aussehen verlieh. Die grobporige Haut und die schlecht geschnittenen schwarzen Haare mit den tiefen Geheimratsecken taten ihr Übriges.

»Du wirst doch nicht schlapp machen, Manni? Ein Bierchen wirst du noch können, oder?« Bernd schaute sich nach der Bedienung um. »Soll Karsten doch selber an den Strand gehen. Schließlich ist das alles seinetwegen. Aber was soll’s. Letztendlich sind wir hier, weil wir eine Aufgabe zu erledigen haben. Aleae jactae sunt. Das war doch in dem Moment klar, als wir auf diese Insel gekommen sind, oder? Aber wie auch immer, wir trinken noch einen, bevor wir den Strand aufmischen. – Herr Ober, noch drei Weizenbiere für mich und meine Freunde.«

Leonard stand endgültig auf. »Ich nicht mehr. Bis später.« Sollten die man auf der Rechnung sitzen bleiben, wer weiß, wie lange die da noch den Platz warm hielten.

Er war mit den Jungs auf diese Insel geschickt worden, um einen Job zu erledigen. Der Boss hatte Karsten zum Anführer bestimmt, weil der am längsten dabei war. Das wäre auch okay gewesen, würde Karsten nur nicht ständig alle spüren lassen, dass er das Sagen hatte. War ja eben schon wieder das beste Beispiel gewesen. Obwohl er recht hatte, wenn er sagte, sie sollten nicht so viel saufen – Bernd schluckte ganz schön was weg. Und Manfred brauchte sowieso jemanden, der ihm sagte, wo’s langging.

Leonard hatte genug von Karsten, Bernd und Manfred, aber wie er es auch drehte und wendete, noch konnte er nicht ohne die anderen, so viel war ihm klar. Der Boss hatte es so gewollt. Er musste die Zähne zusammenbeißen­ und mit den Wölfen heulen. Sonst wurde das nix mit der großen Abfindung, die der Boss ihm versprochen hatte. Und die wollte er haben. Unbedingt.

Das Mädchen hatte ganz recht gehabt mit ihrem Spruch über die Stimmung. Komisch, wie gut sie diese Truppe eingeschätzt hatte. Musste wohl ziemlich einfühlsam sein.

*

Der Hinweg ohne die zwei Einkaufstaschen war entschieden gemütlicher gewesen, stellte Inga kurzatmig fest, als sie schwer bepackt wieder im Ostdorf ankam. Sie hätte Frau Meyers Angebot, eines der Fahrräder mitzunehmen, nicht so leichtfertig ausschlagen sollen. Beim nächsten Mal wäre sie schlauer.

Schnell verstaute sie Milch, Brot, Konfitüre und die anderen Sachen, dann warf sie einen Blick in den Veranstaltungskalender. Noch war Badezeit. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, sofort mit den Recherchen über ihren neuen Lieblingsmaler zu beginnen, aber der Wunsch nach einer Abkühlung war stärker. Sie zog ihren Bikini an und kurze Hose und T-Shirt darüber, packte Badelatschen und Handtuch ein, schnappte sich eines der Räder und nahm Kurs auf den nächstbesten Strandaufgang.

Im Schutz der Randdünen stand ein hellblau gestrichenes Holzhaus. Stark’s Strandladen stand über der Tür. Vor dem Blockhaus waren Menschen gut gelaunt damit beschäftigt, ihren Hunger mit großen Portionen Pommes und Bratwurst, Burgern und Pizzastücken zu stillen. Eine große Schar laut kreischender Möwen kreiste über der Idylle und wartete auf den richtigen Moment zum Her­ab­stürzen und Zupacken. Gerade als Inga den Imbiss hinter sich gelassen hatte, passierte es. Sie drehte sich um und konnte sich ein Lächeln kaum verkneifen. Kind schrie, Mutter schimpfte, Wurst war weg, Möwe auch!

Sie lehnte ihr Fahrrad an den Zaun, der die Randdünen eingrenzte, und lief auf dem von der Sonne aufgewärmten Holzbohlensteg zum Strand. Ihre Füße tauchten in den weichen, weißen Sand, und sie fühlte sich so gut wie lange nicht mehr. Inga atmete kräftig durch und empfand plötzlich ein tiefes Gefühl von Freiheit. Fynn, ihre Juroren in Worpswede und auch die Gedanken über die Zukunft hatten sich in den hintersten Winkel ihres Gehirns verkrochen.

Viele Strandkörbe waren besetzt und fröhliches Lachen­ schallte zu ihr herüber. Sie lief zu dem hölzernen Wachturm der DLRG, hängte ihre Tasche auf einen der Haken des Gestells daneben und legte sich ausgestreckt in den warmen, feinen Sand.

Doch schon nach kurzer Zeit richtete sie sich wieder auf und schaute aufs Wasser. Sie spürte große Lust, sich in die Fluten zu stürzen, aber sollte sie es wirklich wagen? Schließlich war das hier die freie und wahrscheinlich ziemlich kalte Nordsee und kein schnuckelig aufgewärmtes Freibad. Eine Informationstafel am Turm gab die Wassertemperatur mit 20 Grad an. Inga fragte sich, ob das stimmte und sie sich also gar nicht so zieren musste, oder ob in die Angabe ein satter Strandwächter­bonus eingearbeitet war, damit die Aufpasser in den orangenfarbigen Shirts wenigstens ein paar Schwimmer bewachen konnten. Da hörte sie eine Stimme, die ihr bekannt vorkam.

»Hallo, Mädel, wir hatten heute schon mal das Vergnügen, oder nicht?«

Genau zwischen ihr und der Sonne hatte sich der blonde Typ von vorhin mit einem seiner Kollegen breitbeinig aufgestellt. Und darauf hatte Inga überhaupt keine Lust. »Ob Vergnügen, weiß ich nicht. Hatte noch keine Gelegenheit, das rauszufinden. Und ich für meine Person gehe jetzt ins Wasser.«