Theologie des Neuen Testaments

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49 Die grundlegende Sachentscheidung beim Aufbau einer Theologie des Neuen Testaments liegt darin, ob (in der Regel nach einleitenden Kapiteln) mit Jesus von Nazareth (so L.Goppelt, W.Thüsing, P.Stuhlmacher, U.Wilckens, F.Hahn) oder Paulus (so R.Bultmann, H.Conzelmann, G.Strecker, H.Hübner, J.Gnilka) eingesetzt wird.

50 So ist es z.B. sinnvoll, die spät entstandenen Pastoralbriefe innerhalb der Deuteropaulinen und damit vor den zeitlich früher anzusetzenden Kirchenbriefen 1Petrus, Jakobus und Hebräer zu behandeln.

51 Es handelt sich nicht um eine Gliederung nach ‚dogmatischen‘, sondern nach thematischen Topoi; um eine an den Inhalten der Texte orientierte didaktisch-methodische Entscheidung. Das Wort δόγμα heißt ‚Setzung/Satzung/Beschluss‘ und insofern ist jede Gliederung als formale und inhaltliche Setzung natürlich ‚dogmatisch‘. Das bedeutet aber nicht, dass damit die Topoi theologischer bzw. kirchlicher ‚Dogmatik‘ verbunden sind. Gegen O. WISCHMEYER, „Unsere Heimat ist im Himmel“. Die Grundlagen der Theologie des Paulus, Deutsches Pfarrerblatt (2010), (576–582) 577, die behauptet: „Udo Schnelle geht in seiner ‚Theologie des Neuen Testaments‘ für jeden einzelnen ntl. Schriftsteller strikt dogmatisch vor.“ Sind etwa Bultmanns Überhöhung von Paulus und Johannes oder Hahns Offenbarungsbegriff nicht ‚dogmatisch‘? Gliederungen sind immer heuristische Entscheidungen und danach zu beurteilen, inwiefern sie den Stoff erfassen und vermitteln können.

3.Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

R.BULTMANN, Jesus, Hamburg 41970 (= 1926); G.BORNKAMM, Jesus von Nazareth, Stuttgart 91971 (= 1956); H.CONZELMANN, Art. Jesus Christus, RGG3 III, Tübingen 1959, 619–653; H.RISTOW/K.MATTHIAE (Hg.), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, Berlin 1960; H. BRAUN, Jesus, Stuttgart 21969 (NA 1988); N.PERRIN, Was lehrte Jesus wirklich?, Göttingen 1972; E.SCHILLEBEECKX, Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg 31975; J.JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu (s.o. 1); L.SCHOTTROFF/W.STEGEMANN, Jesus von Nazareth. Hoffnung der Armen, Stuttgart 1978; T.HOLTZ, Jesus aus Nazaret, Berlin 41983; H.SCHÜRMANN, Gottes Reich – Jesu Geschick, Freiburg 1983; E.P. SANDERS, Jesus and Judaism, London 1985; CHR.BURCHARD, Jesus von Nazareth, in: Die Anfänge des Christentums, hg. v. J.Becker, Stuttgart 1987, 12–58; E.SCHWEIZER, Art. Jesus Christus, TRE XVI, Berlin 1987, 670–726; G.THEISSEN, Der Schatten des Galiläers, München 51988; J.P. MEIER, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, I.II.III.IV.V., New York/New Haven 1991.1994.2001.2009.2016; J.GNILKA, Jesus von Nazareth. Botschaft und Geschichte, HThK.S 3, Freiburg 1993; M.BORG, Jesus – der neue Mensch, Freiburg 1993; G.VERMES, Jesus der Jude, Neukirchen 1993; J.D. CROSSAN, Der historische Jesus, München 1994; B.CHILTON/C.A. EVANS (Hg.), Studying the Historical Jesus, NTTS 19, Leiden 1994; E.P. SANDERS, Sohn Gottes. Eine historische Biographie Jesu, Stuttgart 1996; N.T. WRIGHT, Jesus and the Victory of God, Minneapolis 1996; G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus, Göttingen 1996; J.BECKER, Jesus von Nazaret, Berlin 1996; D.FLUSSER, Jesus, Hamburg 1999 (NA); G.LÜDEMANN, Jesus nach 2000 Jahren, Lüneburg 2000; J.ROLOFF, Jesus, München 2000; W.STEGEMANN/B.J. MALINA/G.THEISSEN (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002; G.THEISSEN, Jesus als historische Gestalt. Beiträge zur Jesusforschung, FRLANT 202, Göttingen 2003; J.D.G. DUNN, Christianity in the Making I: Jesus Remembered, Grand Rapids 2003; J.D. CROSSAN/J.L. REED, Jesus ausgraben. Zwischen den Steinen – hinter den Texten, Düsseldorf 2003; M.EBNER, Jesus von Nazareth in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge, SBS 196, Stuttgart 22004; D.MARGUERAT, Der Mann aus Nazareth, Zürich 2004; K.BERGER, Jesus, München 2004; T.KOCH, Jesus von Nazareth, der Mensch Gottes, Tübingen 2004; G.THEISSEN, Die Jesusbewegung, Gütersloh 2004 (NA); L.SCHENKE (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004; J.SCHRÖTER, Jesus von Nazareth, Leipzig 2006; T.ONUKI, Jesus. Geschichte und Gegenwart, BThSt 82, Neukirchen 2006; CHR.NIEMAND, Jesus und sein Weg zum Kreuz, Stuttgart 2007; M. HENGEL/A. M. SCHWEMER, Jesus und das Judentum. Geschichte des frühen Christentums I, Tübingen 2007; D. C. ALLISON, Constructing Jesus. Memory, Imagination, and History, Grand Rapids 2010; A. PUIG I TÀRRECH, Jesus. Eine Biografie, Paderborn 2011; A. STROTMANN, Der historische Jesus: eine Einführung, Paderborn 22015.

Jesus von Nazareth ist die Basis und der Ausgangspunkt aller neutestamentlichen Theologie (s.o. 2.1). Wer aber war dieser galiläische Wanderprediger und Heiler? Was verkündigte er und wie verstand er sich selbst? Welche methodischen und hermeneutischen Aspekte müssen bei der Gewinnung eines plausiblen Jesusbildes bedacht werden? Um diese Fragen zu beantworten, leiten methodologische und hermeneutische Überlegungen die Darstellung der Grundzüge der Verkündigung und des Lebens Jesu ein.

3.1Die Frage nach Jesus

A.SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung I.II, Gütersloh 31977 (= 1913); E.KÄSEMANN, Das Problem des historischen Jesus, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 61970, 187–214; R.BULTMANN, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: ders., Exegetica, hg. v. E.Dinkler, Tübingen 1967 (= 1960), 445–469; E.FUCHS, Zur Frage nach dem historischen Jesus, Tübingen 1960; J.M. ROBINSON, Kerygma und historischer Jesus, Zürich 21967; R.SLENCZKA, Geschichtlichkeit und Personsein Jesu Christi, FSÖTh 18, Göttingen 1967; M.BAUMOTTE (Hg.), Die Frage nach dem historischen Jesus, Gütersloh 1984; C.A. EVANS, Life of Jesus Research. An annotated Bibliography, NTTS 24, Leiden 1996; P.MÜLLER, Trends in der Jesusforschung, ZNT 1 (1998), 2–16; M.LABAHN/A.SCHMIDT (Hg.), Jesus, Mark and Q, Sheffield 2001; J.SCHRÖTER, Jesus und die Anfänge der Christologie, BThSt 47, Neukirchen 2001; J.SCHRÖTER/R.BRUCKER (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin 2002; J. H. CHARLESWORTH/P. POKORNÝ (Hg.), Jesus Research I, Grand Rapids 2009; T. HOLMÉN/S. E. PORTER (Hg.), Handbook for the Study of the Historical Jesus I–IV, Leiden 2011; CHR. KEITH/A. LE DONNE (Hg.), Jesus, Criteria, and the Demise of Authenticity, London 2012; P. BILDE, The Originality of Jesus, Göttingen 2013; J. H. CHARLESWORTH/B. RHEA (Hg.), Jesus Research II, Grand Rapids 2014.

Die historische Frage nach Jesus ist ein Kind der Aufklärung1. Für die ältere Zeit war es selbstverständlich, dass die Evangelien zuverlässige Kunde über Jesus vermitteln. Vor der Aufklärung beschränkte sich die neutestamentliche Evangelienforschung im Wesentlichen darauf, die vier Evangelien zu harmonisieren. Praktisch war die neutestamentliche Exegese eine Hilfsdisziplin der Dogmatik.

Stationen der Forschung

Erst am Ende des 18.Jh. brach die Erkenntnis auf, dass der vorösterliche Jesus und der von den Evangelien (und auch den Kirchen) verkündete Christus nicht derselbe sein könnten. Von besonderer Bedeutung in dieser Entwicklung war Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), von dem Gotthold Ephraim Lessing zwischen 1774–78 posthum sieben Fragmente veröffentlichte, ohne die Identität des Verfassers preiszugeben. Von nachhaltiger Wirkung war das 1778 publizierte 7. Fragment: „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger“2. Reimarus unterscheidet hier zwischen dem Anliegen Jesu und dem seiner Jünger: Jesus war ein jüdischer politischer Messias, der ein weltliches Reich aufrichten und die Juden von der Fremdherrschaft erlösen wollte. Die Jünger standen nach der Kreuzigung vor der Vernichtung ihrer Träume, sie stahlen den Leichnam Jesu und erfanden die Botschaft von seiner Auferstehung. Für Reimarus war somit der Jesus der Geschichte mit dem Christus der Verkündigung nicht identisch; Geschichte und Dogma sind zweierlei: „allein, ich finde große Ursache, dasjenige, was die Apostel in ihren eignen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben würklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich abzusondern.“3

David Friedrich Strauss (1808–1874) veröffentlichte 1835/36 sein Aufsehen erregendes ‚Leben Jesu‘, das eine Flut von Widerlegungsversuchen hervorrief, seinem Verfasser lebenslange gesellschaftliche Ächtung bescherte, hinter dessen Grundthese von der mythischen Ausgestaltung der Jesusüberlieferung die Forschung aber nicht mehr zurück kann. „Wenn die altkirchliche Exegese von der doppelten Voraussetzung ausgieng, dass in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens eine übernatürliche, enthalten sei, wenn hierauf der Rationalismus die zweite dieser Voraussetzungen wegwarf, doch nur um desto fester an der ersten zu halten, dass in jenen Büchern lautere, wenngleich natürliche, Geschichte sich finde: so kann auf diesem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen bleiben, sondern es muss auch die andere Voraussetzung fallen gelassen, und erst untersucht werden, ob und wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf historischem Grund und Boden stehen.“4. Die Geschichtlichkeit Jesu wird von Strauss zu einem erheblichen Teil in den Mythos verflüchtigt, so dass die Wirklichkeit des historischen Geschehens und der damit verbundene Wahrheitsanspruch auseinanderklaffen. Strauss hoffte, die dadurch entstandene Spannung aufzulösen, indem er den Kern des christlichen Glaubens aus der Geschichte herauslöste und in eine Idee übertrug. Eine trügerische Hoffnung, denn dem scheinbar positiven Ertrag stand ein grundlegendes Defizit gegenüber: Wahrheit kann nicht auf Dauer jenseits von geschichtlicher Wirklichkeit behauptet werden.

 

Der projektive Charakter der Leben-Jesu-Bilder des 19.Jh. wurde in der ‚Geschichte der Leben-Jesu-Forschung‘ von Albert Schweitzer (1875–1965) aufgedeckt. Schweitzer zeigte, dass jedes der liberalen Jesusbilder genau die Persönlichkeitsstruktur aufwies, die in den Augen ihres Verfassers als höchstes anzustrebendes, ethisches Ideal galt. M.Kähler und R.Bultmann ziehen aus der Vielfalt der Jesusbilder und den exegetischen Schwierigkeiten, ein sachgemäßes Jesusbild zu entwerfen, in unterschiedlicher Weise den Schluss, allein den kerygmatischen Christus bzw. das nachösterliche Kerygma als theologisch relevant anzusehen (s.o. 2.1). M.Kähler betont, Jesus Christus sei für uns nur so fassbar, wie ihn die Evangelien schildern, nicht hingegen so, wie ihn wissenschaftliche Rekonstruktionen darstellen. Für R.Bultmann gilt es, radikal die Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, dass wir Jesus nur in einem mythischen Gewand kennen und es nicht möglich sei, wirklich hinter das Kerygma zurückzukommen. Bultmann folgt Kähler in der Anschauung, der Glaube könne sich nicht an scheinbar historische Fakten binden. Historische Forschung unterliegt notwendigerweise einem ständigen Wandel, so dass sich auch die Ergebnisse verändern müssen. Für den Glauben würde das bedeuten, dass er gewissermaßen den sich ständig ändernden Ergebnissen der Exegeten angepasst werden müsste.

Eine neue Runde in der historischen Frage nach Jesus leitete 1954 Ernst Käsemann (1906–1998) ein. Er konstatiert: „Die Frage nach dem historischen Jesus ist legitim die Frage nach der Kontinuität des Evangeliums in der Diskontinuität der Zeiten und der in Variation des Kerygmas.“5 Zwar war man weit davon entfernt, ein Leben Jesu rekonstruieren zu können, aber man erkannte, dass zwischen der Verkündigung Jesu und der frühen Gemeinde nicht so radikal getrennt werden konnte, wie Bultmann dies tat. Käsemann stellte bei seiner Rekonstruktion das sogenannte Differenzkriterium in den Mittelpunkt, wonach wir einigermaßen festen historischen Boden unter den Füßen haben, wo sich eine bestimmte Jesustradition weder aus dem Judentum noch aus dem frühen Christentum ableiten lässt. Als einflussreiche Jesusbücher aus dieser Forschungsphase sind die Werke von Günther Bornkamm (1905–1990) und Herbert Braun (1903–1991) zu nennen.

Die neuere Jesusforschung in Amerika (‚third quest‘)6 ist in sich uneinheitlich, deutlich stehen aber die Forderung nach Einbeziehung aller Quellen (außerkanonische Überlieferung, Archäologie, postulierte ‚Quellen‘7) und eine veränderte Wertung von Quellen (Qumran-Schriften, Nag-Hammadi-Funde mit dem Thomasevangelium) im Mittelpunkt der Diskussion8. So gelten die Qumranfunde als ein Zeugnis für die Vielschichtigkeit des Judentums im 1.Jh. n.Chr.9; diese Vielschichtigkeit ermöglicht es, auch Jesus von Nazareth konsequent im Rahmen des Judentums seiner Zeit zu interpretieren (z.B. G.Vermes, E.P. Sanders). Das von E.Käsemann so hoch geschätzte Differenzkriterium wird einer scharfen Kritik unterzogen, Jesus gilt als besonderer Jude innerhalb des Judentums10. Eine radikale Neubewertung erfährt teilweise das Thomas-Evangelium, das von einigen Exegeten als ältestes Zeugnis von Jesusüberlieferungen angesehen und nicht in die Mitte des 2.Jh., sondern um 50 n.Chr. datiert wird (J.D. Crossan). Eine solche Interpretation des Thomasevangeliums führt zu einem veränderten Jesusbild, bei dem nicht mehr die futurische Eschatologie im Mittelpunkt steht. Jesus ist nicht (mehr) der Verkünder des kommenden Reiches Gottes, sondern ein gesellschaftlich unangepasster, geisterfüllter, charismatischer Weisheitslehrer und Erneuerer (M.J. Borg). Allerdings sprechen die konsequente Entkontextualisierung der Worte Jesu, die sekundäre Stilisierung überkommener Formen und die gänzliche Abkopplung von der Geschichte Israels deutlich für eine spätere Datierung des Thomasevangeliums11.

In Teilen der nordamerikanischen Jesusforschung war und ist deutlich die Tendenz zu spüren, tatsächliche oder postulierte außerkanonische Überlieferungen in den Rang von Vor- oder Nebenformen der synoptischen und johanneischen Jesusüberlieferung zu erheben (H.Köster/J.M. Robinson12; J.D. Crossan, B.L. Mack13). Das Ziel solcher Konstruktion liegt zweifellos darin, die Deutungsmacht der kanonischen Evangelien zu brechen und ein alternatives Jesusbild zu etablieren. Dabei dienen häufig die Lust am Sensationellen (Jesus und die Frauen; gleichgeschlechtliche Liebe, Jesus als Prototyp alternativen Lebens, undogmatische Anfänge des Christentums), die bloße Vermutung und das unbewiesene Postulat als Stimulans für eine bewusst öffentlichkeitswirksam geführte Debatte14. Historischer Kritik halten solche Konstruktionen nicht stand, denn weder die Existenz eines ‚geheimen Markusevangeliums‘ oder einer ‚Semeia-Quelle‘15 lassen sich wahrscheinlich machen und das Thomasevangelium gehört in das 2.Jh.!

Schließlich ist die neue Frage nach Jesus durch eine starke Einbeziehung sozialgeschichtlicher und kultur-hermeneutischer Fragestellungen16 sowie ein Zurücktreten genuin theologischer Themen gekennzeichnet. Nach der Funktion der radikalen Liebes- und Versöhnungsethik Jesu innerhalb der damaligen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Gegebenheiten wird ebenso gefragt wie nach der besonderen Form des Judentums in Galiläa oder nach Übereinstimmungen zwischen der Jesusbewegung und der Kynikerbewegung in Syrien/Palästina17.

Das Phänomen der Erinnerung spielt innerhalb der Jesusforschung schon seit Jahrzehnten eine Rolle. Dabei rückten in den letzten Jahren zwei Forschungsrichtungen in den Vordergrund:

1) Das Konzept der Augenzeugen, wobei vor allem mit Hinweis auf die Gedächtnis- und Erzählforschung von einer gesicherten und stabilen mündlichen Tradition ausgegangen wird, die bei Augenzeugen des Geschehens (vor allem dem Zwölferkreis) ihren Ausgangspunkt hat18. Dies könnte für kurze stabile Überlieferungseinheiten (Einzellogien, kurze Logiensammlungen, Gleichnisse, Sentenzen) durchaus zutreffen, nicht aber für größere komplexe Texteinheiten. Zumal die Einbindung einer Erzählung in einen vorher nicht vorhandenen schriftlichen Kontext die Textgestalt verändert, was gegen die These einer kontinuierlichen Traditionsentwicklung vom Mündlichen zum Schriftlichen spricht. Hinzu kommt, dass dieser Ansatz teilweise mit apologetischen Motiven verbunden ist, indem die historische Zuverlässigkeit der Traditionen stark betont wird.

2) Tendenziell in die entgegengesetzte Richtung geht der sog. memory approach, der vor allem im anglo-amerikanischen Bereich beheimatet ist. Er betont im Rahmen der neueren geschichtstheoretischen Diskussion (s.o. 1.1–3)19, dass jeder Erinnerungszugang unumgänglich durch die je eigene Gegenwart des Erzählenden/der Erzählenden geprägt ist. Im Mittelpunkt stehen die Interessen und Motive der Erzählgemeinschaft. Die Texte sagen immer zuerst etwas über die aus, die sie überliefern; über ihre Erinnerungskultur, ihre Probleme und ihre theologischen Konzepte. Nicht die Vergangenheit an sich wurde bewahrt, sondern als Wirkung von Vergangenheit jene Traditionen, die einer Erzählgemeinschaft zur Deutung ihrer Gegenwart wichtig waren. Diese zutreffenden Beobachtungen, wonach uns Jesus nur in den narrativen Präsentationen der Evangelien zugänglich ist (s. u. 3.1.1), werden jedoch vielfach mit grundsätzlichen Einwänden20 gegen die gängigen Kriterien der kritischen Jesus-Forschung verbunden (s. u. 3.1.2). Was der memory approach der Jesusforschung vorwirft, trifft aber in einem viel höheren Maß für ihn selbst zu: eine unpräzise Fragestellung mit einer völlig unklaren Methodik21. Zunächst ist social memory keine Methode, sondern eine Fragestellung; besser: eine Metapher, in die jeder/jede etwas hineinlegen kann. Erinnerung gibt es streng genommen immer nur bei Einzelpersonen. Kann man die Erinnerungen einer Gruppe erfassen? Es geht um anonyme Erinnerungs- und Erzählprozesse von Gemeinschaften, die sich aber nicht wirklich greifen lassen und faktisch nur behauptet werden! Hinzu kommt: Die Evangelien sind keine abgeschlossenen narrativen Räume, die nur auf einer Ebene – der Ebene der Erzählgemeinschaft – Auskunft über sich selbst geben. Vielmehr sind Gedächtnis, Erinnerung und Erzählung grundsätzlich offene Systeme, das Resultat einer Geschichte und als solche reflektieren sie Geschichte. Geschichte geht in die Texte ein und wird in und mit den Texten verarbeitet. Deshalb werden Textgrenzen keineswegs überschritten, wenn methodisch reflektiert über die Jesusbilder der erzählenden Gemeinschaften hinaus nach den Ausgangspunkten dieser Bilder in den Texten gefragt wird: dem Wirken des geschichtlichen Jesus von Nazareth. Die von und über Jesus handelnden Texte selbst geben zahlreiche Hinweise auf sie prägende historische Ereignisse. Genau diese Ereignisse überliefern uns die Erzählgemeinschaften und man würde ihr Interesse geradezu ins Gegenteil verkehren, bliebe man auf ihrer Ebene stehen.

3.1.1Jesus in seinen Deutungen

Unübersehbar sind auch die neuen Jesus-Bilder Spiegel ihrer Zeit; der Jesus der Postmoderne erfüllt alle politischen und kulturellen Hoffnungen seiner Interpreten/Interpretinnen: Er überwindet geschlechtsspezifische, religiöse, kulturelle und politische Spaltungen, wird so zum Sozialreformer und universalen Versöhner. Deutlich in den Hintergrund treten alle nicht zeitgemäßen Aspekte des Wirkens Jesu: seine Wundertätigkeit, seine Gerichtspredigt mit ihren dunklen Visionen und sein Scheitern an den gesellschaftlichen/politischen Verhältnissen der Zeit. Er ist vor allem das, was auch wir sind und sein wollen: Mensch, Freund und Vorbild. Auf dem Hintergrund der vorangegangenen geschichtstheoretischen Überlegungen (s.o. 1) überrascht dies nicht, denn jedes Jesus-Bild ist unausweichlich eine Konstruktion der Exegeten in ihrer Zeit.

Methodisch zweifelhaft wird dann aber ein Grundzug, der nach wie vor Teile der internationalen Jesusforschung bestimmt: den ‚historischen‘, ‚wirklichen‘ Jesus hinter den uns vorliegenden Quellen zu finden22. Jesusforschung wird dabei weitgehend als ein reduktives Verfahren verstanden, mit dem Ziel, hinter der Vielfalt der Deutungen die tatsächlich geschehene Geschichte aufzuspüren. Auch das vermehrte Wissen über das antike Judentum, die vertieften Einblicke in die historischen und sozialen Kontexte Galiläas im 1.Jh. und eine reflektierte Methodik können die Perspektivität und Relativität historischer Erkenntnis nicht überwinden. Erst in der narrativen Darstellung der Zusammenhänge gewinnt ein Geschehen historische Qualität (s.o. 1); Tatsachen oder Ereignisse der Vergangenheit werden nur zum Bestandteil von Geschichte, wenn sie durch Prozesse historischer Sinnbildung angeeignet werden können. Die Personen und die Ereignisse müssen in Beziehung zueinander gesetzt werden, Anfang und Ende eines historischen Verlaufs muss bestimmbar sein. Die Voraussetzungen jeweils gegenwärtigen Erkennens und der jeweilige Quellenbefund gehen von Beginn der historischen Darstellung an eine unlösliche Verbindung ein. Dies gilt für die Evangelisten als Autoren einer Jesus-Christus-Geschichte ebenso wie für Exegeten, die ihre Jesus-Christus-Geschichte schreiben. Die notwendige narrative Präsentation eines Geschehens negiert aber keineswegs die Rationalitätsansprüche der Historiographie, sondern ist ihre Voraussetzung. Jesus von Nazareth kann deshalb nicht anders als in seinen literarischen Kontexten erfasst werden. Die Frage nach Authentizität und Fakten auf der Basis eines kritischen Quellenbefundes bleibt, kann aber nicht hinter oder jenseits der narrativen Präsentation und damit des immer auch fiktionalen Charakters der Jesus-Christus-Geschichte in den uns vorliegenden Evangelien beantwortet werden. Es kann keine Reproduktion von Quellen oder Rekonstruktion vorgegebener historischer Zusammenhänge, keine Rück-Frage nach Jesus geben, sondern nur eine den Verstehensbedingungen und dem Überlieferungsbefund gleichermaßen verpflichtete, methodisch geleitete Konstruktion des Wirkens Jesu23. Deshalb können Jesusdarstellungen nicht länger eine Suche nach der Welt hinter den Texten sein24. Es ist nicht möglich, eine historisch und theologisch verantwortbare Jesuserzählung an den narrativen Darstellungen der Evangelien vorbei zu entwerfen, weil bereits sie die frühesten Zeugnisse einer Figuration des Wirkens Jesu sind.

Konsequenzen

Aus diesen Überlegungen ergeben sich mehrere Konsequenzen: 1) Wenn die narrative Präsentation überhaupt erst Geschichte ermöglicht, es ohne Erzählung keine Erinnerung an Jesus geben kann, dann kann zwischen der Erzähl- und der Wortüberlieferung nicht mehr schematisch eine Alternative aufgebaut werden, wonach die Wortüberlieferung Anspruch auf Authentizität besitze, die Erzählüberlieferung hingegen sekundär hinzugetreten sei25. Beide Formen haben zunächst denselben Anspruch auf Authentizität, denn sie überliefern, was als charakteristisch und damit erinnernswert von Jesus erzählt und schließlich aufgezeichnet wurde. Nicht die Gattung, sondern erst die Einzelanalyse kann darüber entscheiden, welches Ereignis oder welches Wort für Jesus in Anspruch genommen werden kann. Die narrativen Kontexte der Wort- und Gleichnisüberlieferung müssen innerhalb der Jesusdarstellung ernst genommen werden. 2) Die Frage nach Jesus kann nicht auf den ‚historischen‘ Jesus als den ‚wirklichen‘ Jesus reduziert werden26, denn wenn uns Jesus nur in seiner narrativen Präsentation und damit in seiner Bedeutsamkeit zugänglich ist, kann nicht einfach zwischen einer ‚rein‘ historischen und einer theologischen Fragestellung unterschieden werden27. Es gibt die historische Frage nach Jesus, nicht aber den ‚historischen‘ Jesus! Weil Jesus von Nazareth niemals jenseits seiner Bedeutung für den Glauben zugänglich war und ist, muss auch für den vorösterlichen Jesus die Frage nach seinem Sendungsbewusstsein und der theologischen Bedeutung seines Wirkens gestellt werden28. 3) Jedes Jesus-Bild muss die unterschiedlichen Wahrnehmungen erklären, die Jesus von Nazareth vor und nach Ostern auslöste und die verschiedenen Anknüpfungen an ihn plausibel machen. Die Geschichte des frühen Christentums zeichnet sich von Anfang an durch eine hohe Anschlussfähigkeit sowohl gegenüber dem hellenistischen Judentum als auch gegenüber dem genuin griechisch-römischen Kulturraum aus. Eine nachhaltige Anschlussfähigkeit ist nicht einfach identisch mit Anpassung, sondern gewinnt ihre Kraft aus dem Ursprungsgeschehen, d.h. die Entstehung der Christologie und die verschiedenen Entwicklungen in der Geschichte des frühen Christentums bis hin zur beschneidungsfreien Völkermission werden aus geschichtstheoretischer Sicht auch Anhaltspunkte im Wirken und in der Verkündigung des Jesus von Nazareth haben. Jesu einzigartiger vorösterlicher Anspruch, eine schon sehr früh ausdifferenzierte Christologie und eine innerhalb der Weltgeschichte singuläre Ausbreitungsgeschichte einer neuen Religion lassen sich nur überzeugend erklären, wenn die Kraft des Anfangs so stark und mannigfaltig war, dass sie eine Vielfältigkeit der Interpretationen aus sich heraussetzen konnte.

 

3.1.2Kriterien der Frage nach Jesus

W.G.KÜMMEL, Dreissig Jahre Jesusforschung (1950–1980), BBB 60, Königstein/Bonn 1985, 2–32; K.KERTELGE (Hg.), Rückfrage nach Jesus, Freiburg 21977; F.HAHN, Methodologische Überlegungen zur Rückfrage nach Jesus, in: K.Kertelge (Hg.), Rückfrage nach Jesus, 11–77; E.SCHILLEBEECKX, Jesus (s.o. 3), 70–89; D.LÜHRMANN, Die Frage nach Kriterien für ursprüngliche Jesusworte, in: J.Dupont (Hg.), Jésus aux origenes de la christologie, BEThL XL, Leuven 1989, 59–72; J.SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils (s.u. 3.6), 8–94; G.THEISSEN/D.WINTER, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung, Fribourg/Göttingen 1997; J.P. MEIER, A Marginal Jew I (s.o. 3), 167–195; ST. PORTER, The Criteria for Authenticity in Historical-Jesus Research, JSNT.S 191, Sheffield 2000; I.BROER, Die Bedeutung der historischen Rückfrage nach Jesus und die Frage nach deren Methodik, in: L.Schenke (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s.o. 3), 19–41; A.SCRIBA, Echtheitskriterien der Jesus-Forschung. Kritische Revision und konstruktiver Neuansatz, Hamburg 2007.

Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, dass die Frage nach Jesus von Nazareth hermeneutisch und methodisch hohe Anforderungen stellt. Sie ist nicht ‚hinter‘, sondern in den Texten zu vollziehen; damit aber keineswegs unmöglich, sondern auf der historischen Ebene methodisch reflektiert durchführbar und auf der theologischen Ebene geboten. Jesus von Nazareth war und bleibt der zentrale Bezugspunkt des Glaubens, der auch nach der historischen Vergewisserung seiner selbst fragt, weil er sich wesentlich auf eine historische Gestalt und ein historisches Gesamtgeschehen bezieht. Wie aber soll das konkret aussehen; mit Hilfe welcher Kriterien/Kategorien ist es möglich, aus dem breiten Strom der Überlieferung Worte Jesu herauszufiltern, sie von späteren Interpretationen und Aktualisierungen zu unterscheiden, ohne dabei die oben genannten Grundüberlegungen zu vernachlässigen? Zur Beantwortung dieser Fragen muss zunächst zwischen Basiskriterien und Materialkriterien unterschieden werden.

Basiskriterien

Das entscheidende Basiskriterium ist die ‚Gesamtplausibilität‘, wonach eine Rekonstruktion der Verkündigung Jesu sowohl im Kontext des Judentums als auch des entstehenden Christentums plausibel sein muss29. Zur Gesamtplausibilität gehört auch, dass jedes Jesus-Bild mit der Gesamttendenz der synoptischen Evangelien übereinstimmen sollte30. Diese Evangelien sind die Basis-Quellen für Jesus von Nazareth und es kann keine historisch verantwortete Jesusinterpretation an ihnen vorbei oder sie massiv korrigierend geben, weil ein solches Vorgehen als willkürlich anzusehen wäre. Die Evangelisten waren keine eigenmächtigen Konstrukteure, sondern sie dokumentieren, repräsentieren, reflektieren und interpretieren ein geschichtliches Geschehen. Deshalb bilden sie das Fundament und bestimmen zugleich die Grenzen jeder plausiblen Jesus-Darstellung. Die ‚Kontextplausibilität‘ geht davon aus, dass eine Alternative Jesus – Judentum historisch wie theologisch verfehlt ist. Jesus kann nicht vom Judentum abgehoben werden, sondern er muss innerhalb des Judentums, genauer: im Kontext seiner galiläischen Welt verstanden werden. Die Einbindung Jesu in die Sprach- und Handlungsmuster seiner Umwelt schließt zudem eine kritische Stellung Jesu innerhalb des Judentums keineswegs aus, denn das Judentum war zu dieser Zeit keine homogene Einheit, sondern umfasste vielfältige, sich teilweise widersprechende Strömungen.

Zugleich muss erklärt werden, wie aus der Verkündigung Jesu das frühe Christentum entstehen konnte. Neben der Kontextplausibilität ist die ‚Wirkungsplausibilität‘ das zweite entscheidende Kriterium, denn historisch kann nur ein Jesusbild sein, dass sowohl die Verkündigung Jesu im Rahmen des Judentums seiner Zeit als auch die Entwicklung von Jesus zum Urchristentum verständlich macht31. Die Botschaft Jesu ist in Galiläa entstanden und mit Galiläa verbunden, ohne jedoch auf die sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten Galiläas reduziert werden zu können; sie hat politische Dimensionen, obwohl sie in ihrem Kern nicht politisch ist32. Dies zeigt deutlich die Rezeptionsgeschichte, denn Jesu Verkündigung vom Reich Gottes wurde – abgelöst von seinem konkreten historischen und geographischen Ort – innerhalb sehr kurzer Zeit im gesamtem Mittelmeerraum aufgenommen. Dies war nur möglich, weil Jesu Verkündigung über ihre religiösen und sozial-politischen Inhalte hinaus auch eine ideengeschichtliche Qualität hatte und hat: Der eine Gott, der in neuer und überraschender Weise in der Liebe den Menschen nahe kommt und eine neue Gemeinschaft der Menschen jenseits von Herrschaft und Gewalt schaffen will.

Die beiden Basiskriterien der Kontext- und Wirkungsplausibilität nehmen die geschichtstheoretische Einsicht auf, dass nachhaltige historische Entwicklungen über Anschlussfähigkeit verfügen müssen. Diese Anschlussfähigkeit vollzieht sich immer innerhalb existierender kultureller Kontexte und setzt neue Entwicklungen in Gang.

Materialkriterien

Als materiale Kriterien für die Erhebung authentischer Jesusworte können gelten33: 1) Die Mehrfachbezeugung. Die Rückführung eines Wortes auf Jesus ist dann plausibel, wenn dieses Wort in verschiedenen Überlieferungssträngen aufbewahrt wurde (z.B. Jesu Stellung zur Ehescheidung in Mk, Q, Paulus). Zur Mehrfachbezeugung gehört auch die gegenseitige Bestätigung von Wort- und Tatüberlieferung. Wenn Jesu Worte und sein Verhalten in die gleiche Richtung gehen, sich wechselseitig erläutern, dann liegt ein starkes Argument für Authentizität vor (z.B. Jesu Verhalten gegenüber Zöllnern und Sündern). 2) Differenz- bzw. Unähnlichkeitskriterium. R.Bultmann formuliert dieses klassische Kriterium so: „Wo der Gegensatz zur jüdischen Moral und Frömmigkeit und die spezifisch eschatologische Stimmung, die das Charakteristikum der Verkündigung Jesu bilden, zum Ausdruck kommt, und wo sich andererseits keine spezifisch christlichen Züge finden, darf man am ehesten urteilen, ein echtes Gleichnis Jesu zu besitzen.“34 Das Differenzkriterium steht mit anderen Kriterien in Spannung (z.B. der Kontextplausibilität), und man kann hier von einer Wortlastigkeit sprechen, weil der Erzählüberlieferung zu wenig historischer Eigenwert zuerkannt wird. Dennoch ist der dem Differenzkriterium zugrunde liegende Gedanke ernst zu nehmen: Es können solche Aussagen von Jesus hergeleitet werden, die sich weder aus den Voraussetzungen und Interessen des Judentums, noch aus denen der christlichen Gemeinde erklären lassen. 3) Das Kohärenzkriterium. Dieses Kriterium beruht auf dem Postulat, dass sich die Verkündigung Jesu im Ganzen als kohärent erweisen muss. Es müssen Jesus somit diejenigen Teile der Überlieferung abgesprochen werden, die nicht in dieses Gesamtbild passen. Auch dieses Kriterium ist widersprüchlich, denn es setzt immer schon ein bestimmtes Bild der Verkündigung Jesu voraus, das sich dann selbst bestätigt. Dennoch ist auch hier der Grundgedanke zutreffend. Was sachlich mit jenen Stoffen übereinstimmt, die mit Hilfe eines anderen Kriteriums als echt erwiesen wurden, kann als ursprünglich gelten. 4) Das Wachstumskriterium. Dem Wachstumskriterium liegt die Überlegung zugrunde, dass ursprüngliches Jesusgut im Verlauf der Überlieferung durch sekundäre Texteinheiten angereichert wurde, die wiederum literarkritisch abgetragen werden können. Die literarkritische Analyse ermöglicht es hier, das Jesuslogion als Ausgangspunkt der Überlieferung zurückzugewinnen (vgl. Mt 5,33–37). 5) Das Anstößigkeitskriterium. Dieses Kriterium geht von der Überlegung aus, dass Worte oder Taten Jesu, die sowohl im jüdischen Umfeld als auch im Urchristentum als anstößig gesehen werden mussten, Verlegenheit hervorriefen und tendenzwidrige Züge aufwiesen, auf Jesus zurückzuführen sind. So gehört z.B. die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer zum historischen Grundbestand des Lebens Jesu, denn sie wurde vom Urchristentum in ihrer Bedeutung minimiert. Jesus lässt zudem unmoralische Helden in seinen Gleichnissen auftreten, so z.B. den ungerechten Haushalter (Lk 16,1b–7). Schließlich agiert Jesus selbst als unmoralischer Held und pflegt geselligen Verkehr mit Zöllnern und Sündern. 6) Das Kriterium der Ablehnung und Verwerfung. Hier geht es um Ereignisse, Erzählungen und Worte, die zu einer Ablehnung Jesu führten. Zu diesem Bereich gehören z.B. die Zurückweisung der Tora-Auslegung Jesu durch die Pharisäer und Schriftgelehrten; sein Einzug in Jerusalem, der von Juden und Römern als religiös-politische Anmaßung verstanden werden konnte, oder die Tempelreinigung, die von den Sadduzäern als Angriff auf ihre Privilegien gewertet werden konnte.