Sand Talk

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Die Schlange liebt das Wasser, denn das Wasser macht es uns möglich, sie zu sehen, und so kommuniziert sie mit jedem Einzelnen von uns, aber sie ist nicht nur ein Wasserwesen. Sie ist ein Lichtwesen. Der Teil, den wir im nassen Himmel sehen oder in der feinen Gischt, die vom Bug eines schnell fahrenden Dingis aufspritzt, ist nur eine Linie über dem Rand einer Kugel. Die Linie bewegt sich über mehrere Kugeln, die sich endlos überlappen, sich in Spiralen einwärts und auswärts bewegen, sich überallhin erstrecken, wo dieses Licht hingelangt (oder hingelangt ist oder hingelangen wird), und die Regenbogenschlange schlängelt sich durch diese Lichtbildgewebe der Schöpfung. Sie gelangt auch unter die Erde, denn dort war das Licht in der Vergangenheit, und die lineare Zeit setzt ihr keine Schranken.

Aha, aber ist sie eine Welle oder ein Teilchen? Ich nehme an, das hängt davon ab, wie du sie anschaust, wir werden sie aber als eine Welle, eine Schlange erblicken, denn sie bewegt sich unentwegt durch Systeme, die fortwährend in Bewegung und mit allem, was ist, war und sein wird, verflochten sind. Von ihr existieren auf der ganzen Welt zahllose Varianten in allen Formen und Größen – Wyrm, Drache, Uräus und je nach Region viele verschiedene weitere Namen –, die die Gestalt des jeweiligen Ortsgeistes annehmen. Sie war immer da und wird immer da sein, außer die Menschen versuchen weiterhin, sie dazu zu bewegen, sich selbst in den Schwanz zu beißen.

Ich kann sie allerdings nicht richtig sehen, denn ich bin farbenblind. (Optometristen meinen, das liege daran, dass ich kein »Vollblut-Aborigine« bin – offenbar gilt, je schwarzer du bist, desto weniger wahrscheinlich bist du farbenblind.) Ich sehe die Schlange nur als vagen, dünnen Streifen am Himmel. Doch meine Farbenblindheit lässt sie mich an anderen Orten suchen, und so finde ich Wissen an unerwarteten Stellen. Meine Beeinträchtigung lässt mich auch die getarnte Schlange im Gras vor uns erkennen, wenn wir gehen und uns unterhalten; es handelt sich also um eine nützliche Behinderung. Jede Perspektive ist nützlich, und jede Gruppe ist auf eine große Bandbreite von Sichtweisen angewiesen, will sie sich durch dieses Universum navigieren oder gar als sein Hüter auftreten. Ich stehe in dieser Schlucht und sehe den Regenbogen an einer bestimmten Stelle, du stehst auf dem Hügel und siehst ihn an einer anderen, er schickt uns verschiedene Botschaften, die wir nach Möglichkeiten einander mitteilen sollen.

Mein subjektiver Blick auf die Regenbogenschlange hilft mir, Probleme mit den Zeitschienen zu erkennen, die wir heute alle erzwungenermaßen bewohnen (auch wenn ich dadurch Verabredungen verpasse und in logischen Reihen schreibe, denen nicht leicht zu folgen ist). Der Zeitpfeil, wie er in der Physik vorgeschrieben wird, funktioniert in Laborexperimenten und ist ein reales, beobachtbares Phänomen innerhalb geschlossener Systeme. Er ist ein richtiges Gesetz. Er ist nur das falsche Gesetz, wenn man es auf Wesen anwenden will, die in offenen und miteinander verflochtenen Systemen leben. Es ist in etwa so, als ob man die Theorie, dass eine Wirtschaft floriert, wenn die Aktienmärkte boomen, anpreisen würde – die Bewohner dieser Wirtschaft selbst aber sagen: Klar, die Aktienkurse stehen hoch, aber wir hungern trotzdem!

Die selektive Anwendung verschiedener Gesetze und Theorien ist der Grund für die Krise der Zivilisation, die wir auf diesem Planeten erleben werden, bis wir Aristoteles’ telos, das unvermeidliche Ende, erreichen. Es handelt sich um eine Metapher, die auf Täuschung basiert, und in der Weltsicht der Aborigines ist dies die Art, in der Flüche funktionieren. Man nimmt einen Teil eines Systems (etwa das Haar einer Person) und beobachtet in diesem Fragment das Muster des Gesamtsystems (etwa ihren Körper, ihren Geist und ihre Seele), dann singt man ein falsches Muster aus dem Teil (etwa: Du wirst sterben) in das Ganze, und führt ihm mit einem anderen, in ständiger Bewegung befindlichen System (etwa fließendem Wasser) Energie zu. Der Fluch ist eine wahr gemachte Täuschung – entweder eine absolute Lüge oder ein richtiges Gesetz, ein Muster, das an falscher Stelle angewendet wird. Es ist wie ein Computervirus, eine hinterhältige Programmzeile, die das ganze System zum Absturz bringt. Den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik auf offene, miteinander verflochtene Systeme anzuwenden hat die gleiche Wirkung. Es ist ein Fluch.

Um die Krise der Zivilisation in dieser Art zu verstehen, müssen wir zuerst bestimmen, was Zivilisation aus der Perspektive des Gesetzes der Ersten Völker bedeutet. Die meisten würden wohl sagen, es sei eine Kultur, die Wissen, Technologie, Gesetze und Kunst hervorbringt, aber dies ließe sich über jede andere auf der Welt existierende Gemeinschaft sagen. Indigene Menschen behaupten häufig: »Wir hatten all diese Dinge auch, also waren wir eine Zivilisation.« Eine Zivilisation ist jedoch etwas anderes. Ein Dorf oder eine Hirtengemeinschaft oder eine umherziehende Gruppe, die zeitweise das Land ihrer Ahnen bewirtschaftet, ist keine Zivilisation, denn Zivilisationen bauen Städte. Wakanda in den Black Panther-Comics von Marvel ist eine afrikanische Zivilisation, weil sie Städte hervorbringt. In der wirklichen Welt wiederum lebten die Menschen Simbabwes, die einst Städte aus Stein bauten, in einer Zivilisation, bis diese unweigerlich zusammenbrach. Dies war keine indigene Kultur, nur weil ihre Bewohner eine dunkle Haut hatten. Zivilisationen sind Kulturen, die Städte erschaffen, Gemeinschaften, die erst alles in ihrer Umgebung und dann sich selbst aufzehren. Sie können keine indigenen Kulturen sein, solange sie nicht ihre städtebauenden Zivilisationen hinter sich lassen – eine Lektion, die die Ältesten von Simbabwe aus bitterer Erfahrung durch alle Zeiten bis heute überliefert haben.

Eine Stadt ist eine auf einem Zeitpfeil angesiedelte Gemeinschaft, ein nach oben weisender Zeitpfeil, der ständiges Wachstum verlangt. Wachstum ist die Maschine der Stadt: Wenn der Zuwachs aufhört, geht die Stadt unter. Aus diesem Grund sind die lokalen Ressourcen schnell verbraucht, und das Land in der Umgebung der Stadt stirbt. Erst wird es aller Biota beraubt, dann verschwindet der Mutterboden, dann das Wasser. Es ist kein Zufall, dass heute die Ruinen der ältesten Zivilisationen meistens in Wüsten liegen. Zuvor gab es dort keine Wüste. Die Stadt sagt sich, sie sei ein geschlossenes System, das ewiges Wachstum verlangt und zugleich zerfallen muss, damit die Zeit geradlinig verläuft. Das bedeutet, sie muss ihren Zerfall so lange wie möglich nach außen verlagern.

Deshalb ist eine Stadt darauf angewiesen, Ressourcen aus miteinander verflochtenen Systemen jenseits ihrer Grenzen zu importieren. Die Stadt platziert sich selbst in der Mitte dieser Systeme und plündert sie aus, um ihr Wachstum zu füttern, wobei sie die Kreisläufe der Zeit, des Landes, des Wetters, des Wassers und des ökologischen Austauschs zwischen den Systemen unterbricht. Der Austausch erfolgt jetzt nur noch in einer Richtung. Materie und Energie werden auch in dieser Reaktion nicht geschaffen oder zerstört; anstatt den Systemen wieder zugeführt zu werden und sie zu durchlaufen, werden sie zu stationären Massen aufgehäuft.

Die von den Städten ausgehende exponentielle Zerstörung speist das exponentielle Wachstum von Infrastruktur und Bevölkerung. Damit dies geschehen kann, werden Gesetze wie das von Angebot und Nachfrage falsch angewendet: Damit Wirtschaftswachstum stattfinden kann, muss es mehr Nachfrage als Angebot geben. Grob übersetzt heißt dies, es muss mehr Menschen geben, die Grundgüter und lebenswichtige Dienstleistungen benötigen, als es an Gütern und Dienstleistungen gibt. Anders formuliert: Damit die Wirtschaft wachsen kann oder damit etwas einen Wert bekommt, müssen viele Menschen auf eigentlich überlebenswichtige Dinge verzichten. Da das Wachstum exponentiell zunimmt, nimmt auch die Zahl der Menschen exponentiell zu, denen etwas fehlt. So kann sich kein Gleichgewicht einstellen.

Die von diesen elenden Massen ausgehenden Störungen gilt es, mit Brot und Spielen, Fußball und Facebook abzuwehren. Man muss sie fragmentieren, damit sie sich nicht in Gemeinschaften oder erweiterten Familien gegenseitig unterstützen, denn sonst wird die Nachfrage sinken. Vor allem muss man sie sich wie die Karnickel vermehren lassen, denn so stellt man sicher, dass ihr einziges Gut das energetische Potenzial ihrer Kinder ist.

Ich glaube nicht, dass viele Menschen meiner Definition der Nachhaltigkeit zustimmen. Ich höre sie über nachhaltiges exponentielles Wachstum reden, wobei sie außer Acht lassen, dass ein Großteil des Mutterbodens mittlerweile auf dem Boden der Ozeane angekommen ist. Es ist schwierig, mit den Leuten über die unmögliche Physik der Zivilisation zu sprechen, besonders wenn man Aborigine ist: Du führst die Farben und Federn vor, die hübschen Dinge deiner Kultur und sprichst über deine einzigartige Verbindung mit dem Land, während die Leute in Vitrinen blicken und dir zuschauen, aber dass du in ihre Richtung blickst oder beschreibst, was du siehst, ist nicht vorgesehen.

Aber es gibt es noch das Erste Gesetz. Wir müssen mutig genug sein, es auf unsere Realität unendlich miteinander verflochtener, selbst organisierender, selbst erneuernder Systeme anzuwenden. Wir sind die Hüter dieser Realität, und für eine Hüterspezies ist der Zeitpfeil kein angemessenes Modell, von dem aus sich operieren ließe. Wenn ich jetzt über all die Großmütter und Nichten und Schwestern nachdenke, frage ich mich, ob ich nicht den falschen Weg gegangen bin, indem ich all die Wurmlöcher der Physik abgefangen und jedes negative Teilchen angestupst habe. Diese Frauen machen in aller Ruhe weiter und halten die Schöpfungssysteme durch verwandtschaftliche Beziehungen in Gang; sie machen sich keine großen Gedanken, fragen sich höchstens, welches Chaos ich als Nächstes anrichten werde. Vielleicht haben sie es kapiert. In einer Lebenswelt, in der deine Urenkel deine Eltern werden, hat man ein berechtigtes Interesse daran, an der Erschaffung eines stabilen Systems mitzuwirken, in dem diese agieren können, und auch, für ein bisschen Gerechtigkeit zwischen den Generationen zu sorgen. In ruhigen Momenten sitze ich daher gerne auf dem Land in der wohligen Umarmung dieses weiblichen Schöpfergeistes. Ich höre noch, wie die Bulldozer kommen und höre keine Frösche mehr. Aber ich sehe die Blumen.

 

Die Grenzen des »Für immer«

Uns-zwei wollen nun einen Moment lang über das Ende der Welt und die Grenzen des »Für immer« nachdenken, und zwar mit ein paar nichtlinearen Gedanken über den Nikolaus, Flaggen, Rassenillusionen, Karten, Memes und Bumerangs zum Fischen. Wie üblich beginnen wir mit einem Yarn.

Ich sitze mit zwei Sámi-Frauen zusammen. Die Sámi sind eine indigene, in der Nähe des Nordpols lebende Volksgruppe, die eine totemistische Verbindung zu den Rentierherden pflegen, denen sie auch heute noch durch die von ihnen seit Tausenden Jahren bewohnten arktischen Landschaften folgen. Sie bleiben ihrem Land verbunden, das aktuell von modernen Staaten wie Finnland, Schweden, Norwegen und Russland beansprucht wird. Sie stellen meine Welt auf den Kopf.

Sie tragen moderne Kleidung und sprechen in Dialekten, die für mein ungebildetes Ohr nordisch klingen. Sie haben gelbes Haar und rosige Wangen. Und trotz allem, was mir meine Sinne sagen, bin ich absolut nicht imstande, sie als »weiß« einzuordnen. Wenn ich mit ihnen zusammensitze, habe ich genau das gleiche Gefühl, wie wenn ich mit meinen Tanten aus meiner Gemeinschaft zusammensitze. Das gleiche logische Muster, das gleiche Muster des Seins und der Verbundenheit. Wie sie eine Beziehung zu mir aufbauen, spiegelt meine eigene Art, zu anderen indigenen Menschen Beziehungen herzustellen. In ihrer Gemeinschaft sind sie ranghohe Wissensbewahrerinnen, und ich bin nur ein junger Kerl, der seinen Platz in der Welt erst zu verstehen sucht. Ich habe vielleicht dunklere Haut als diese Ladys, aber sie sind zehnmal schwärzer als ich.

Nach dem Ende des Yarn halte ich »Weißsein« nicht mehr für einen nützlichen Begriff in meinem Vokabular. In meiner Gemeinschaft verwenden wir im Alltag die Wörter »schwarz« und »weiß« als bequeme Kurzform, um die Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten zu beschreiben, aber diese Begriffe sind für die Beschreibung der heutigen Realität fürchterlich unangemessen, vor allem in multikulturellen und internationalen Kontexten.

In einer Welt, in der sich schwarze afrikanische Kolonisten das traditionelle Land der hellhäutigen Nemadi-Jäger aneignen, in der Kelten gegen die englische Vorherrschaft aufbegehren und Basken in Spanien und Korjaken in Russland darum kämpfen, ihre alten Gebiete und Sprachen zu bewahren, in der in der Diaspora lebende Menschen verschiedener Hautschattierungen seit Generationen in so gut wie allen Ländern Babys in die Welt gesetzt haben, ist schwarz und weiß als Paradigma zum Verständnis der indigenen Erfahrung nur von begrenztem Wert. Als eigenständige Realität lässt sich die indigene Erfahrung ohnehin nur schwer beschreiben, wenn nicht-indigene Gemeinschaften erst vor relativ kurzer Zeit aus den eigenen, angestammten Ursprungsgebieten vertrieben worden sind und in große Städte und Ortschaften abwanderten, um die Arbeit zu leisten, wie sie der Fortschritt verlangt.

Es ist schwierig, die Verwerfungen und Muster globaler Machtsysteme zu beschreiben, wenn wir im Zusammenhang mit Rasse und Kolonialismus nur auf die Sprache des neunzehnten Jahrhunderts zurückgreifen können. Für Australier sind die alten, verschwommenen Rassendichotomien zutiefst verwirrend geworden, denn sie lassen sich nur schwer auf einem farbcodierten Kontinuum von Opfern und Unterdrückern einordnen. Im Bemühen um ökonomische Gleichstellung reihen sich auch »Farbige« in den Ansturm zur Ausbeutung von Aborigine-Land und -Ressourcen ein und werden in den Vorstandsetagen willkommen geheißen, solange sie sich die Werte und Identitätsauffassungen der Siedler zu eigen machen. Das Kohlebergbau-Projekt eines indischen Unternehmens zerstört Aborigine-Land und -Wasser in Queensland, und nun stehen Farmer, die sich einst vehement gegen den Native Title aussprachen, neben den Traditionellen Eigentümern, um gegen diese Entwicklung zu protestieren. Afroamerikanische Besucher, die in den Indigenen Zentren unserer Universitäten vorbeischauen, fühlen sich beleidigt, wenn wir uns selbst mit dem Ausdruck »schwarz« beschreiben, obwohl viele von uns noch nicht einmal genug Melanin zusammenkratzen könnten, um einen Taxifahrer abzuschrecken.

Die Sámi-Frauen, mit denen ich mich austausche, können nicht auf die archaische Kurzform »weiß« zurückgreifen, um die Menschen zu benennen, die Raketenabschussrampen zur Weltraumerkundung auf ihrem Land errichten, auf ihren heiligen Stätten nach Öl suchen und, indem sie ihre Flüsse vergiften oder aufstauen, ihre Rentiere, ihre Sprache und ihre Alten töten. Bei welchem Namen soll man diese Täter nennen? Sind bestimmte kulturelle Gruppen verantwortlich? Sind es Einzelpersonen?

Welche Gruppe, welche Einzelperson könnte Verantwortung dafür übernehmen, dass der Westen sich immer zur Weihnachtszeit die Sámi-Kultur auf die barbarischste Weise aneignet? Die Schamanen der Sámi waren Anfang des letzten Jahrhunderts so großzügig, Außenseiter an winterlichen spirituellen Praktiken mit Roten Fliegenpilzen teilhaben zu lassen, mussten aber bald feststellen, dass Elemente ihrer Rituale gestohlen und von der europäische Kultur auf frevlerische Weise vereinnahmt wurden.

Ihre traditionellen Zipfelmützen wurden ihnen vom Kopf gerissen und kindlichen Elfen aufgesetzt. Das Lager des Weihnachtsmanns wurde von Holland an den Nordpol verlagert und die Praxis der Sámi-Schamanen, Behausungen durch den Kamin zu betreten (um psychotrope Pilze zu verteilen) wurde für seine Zwecke umgedeutet. Die Farbe seines Kostüms änderte sich in das emblematische Rot und Weiß des Fliegenpilzes. Dann stieg er mit den Rentieren der Sámi in die Luft, gab ihnen komische Namen und benutzte sie im Zuge der Erweiterung seines Winterwunderlands als Transportmittel. Gäbe es zur Apokalypse der Sámi Filmmusik, wäre es »Jingle Bells«.

Können wir einem einzigen gealterten, übergewichtigen »weißen« Mann für diesen kulturellen Diebstahl die Schuld zuschieben? Können wir allen dicken alten weißen Männern die Schuld zuschieben? Wir sollten vielleicht die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Zerstörung von Landstrichen und Kulturen weltweit gesehen ein bisschen mehr benötigt als ein paar Leute, die für sich entscheiden, ob sie die Rolle des Helden, des Bösewichts oder des Opfers übernehmen. Vielleicht lassen sich noch nicht einmal mehr ethnische Gruppen überzeugend nach diesem Raster kategorisieren.

Nach meinem Yarn mit den Sámi-Frauen hat sich in dem Vokabular, das ich bislang zur Beschreibung meiner Welt benutzt habe, eine große Lücke aufgetan. Die Wörter, die meiner Gemeinschaft in der Sprache der Besatzer gegeben wurden, um unsere von Rassenkategorien bestimmte Realität zu beschreiben, haben uns für die wahre Natur unserer Realität blind gemacht. Wir benennen Opfer und Täter entsprechend eines Farbcodes, der die eigentlichen Kräfte und Muster, die uns quälen, verdeckt. Auf dem linken Auge sehen wir ethnische Gruppierungen und auf dem rechten Individuen, für alles andere aber sind wir blind. Wir sind nicht in der Lage, die in der Welt vorherrschenden Ströme der Macht und Kontrolle zu erkennen, den systemischen Sog, der die Ressourcen aus dem Süden in den Norden verlagert. Über unsere Frontalhirn hat sich eine raumzeitliche Illusion gelegt, eine falsche Weltkarte von Orten und Menschen.

Als Aborigines besaßen wir stets unser eigenes Verfahren, Zeit/Ort zu kartieren. Vielleicht sollte ich, um die Lücke zu schließen, die die Sámi-Frauen in meiner Weltsicht geschaffen haben, nochmals unsere Karten in Augenschein nehmen und die darauf enthaltenen Muster auf die Welten jenseits des Lokalen ausdehnen. Uns-zwei könnten also die von Oldman Juma in den Sand gezeichnete Karte betrachten, diesen Mustern nachgehen und schauen, wohin sie uns bei dem Versuch führen, die jedwede Existenz bedrohenden schädlichen Muster und Kräfte zu bestimmen.

Dies ist sowohl eine Karte als auch eine Art Kompass, aber sie ist nicht auf den magnetischen Norden ausgerichtet. Nach alter Art ist die Richtung dynamisch und beruht auf den jahreszeitlichen Sonnenbewegungen, zu jedem gegebenen Moment von deinem Standpunkt aus gesehen, wann du wo stehst, gehst oder dein Lager aufschlägst.


Zeit und Ort werden in den Aborigine-Sprachen gewöhnlich mit demselben Wort bezeichnet – sie sind nicht voneinander zu trennen. Im Zentrum des Kompasses steht der Einschlagpunkt zur Zeit eines Schöpfungsmoments, eines Schöpfungsorts; dieser Punkt stellt zusammen mit den anderen die sieben Geisterfamilien und ihre heiligen Plätze dar.

Der erste Mann und die erste Frau sind im Osten und im Westen, und auch ihre Wanderungen sind eingezeichnet, wobei sie auf ihrer Reise durchs Land verschiedene Verwandtschaftsgruppen und Orte schaffen. Die Wanderstrecken entlang der inneren Kreislinien des Symbols bilden die Gestalt des Kanus des ersten Mannes nach. Die Wanderstrecken auf den äußeren Kreislinien zeigen, wie er paddelt, um dem Lauf der Sonne zu folgen, was die Richtung dynamischer macht als bei der modernen magnetischen Version. Das sollte fürs Erste reichen, um dich kirre zu machen. »Was? Norden ist kein fester magnetischer Punkt? Osten kann Norden sein? Er ändert sich je nach Jahreszeit?« Ich empfehle hier eine eher ablehnende Reaktion, es sei denn, du möchtest für ein paar Tage der Arbeit fernbleiben und dich hinlegen, um dein Gehirn wieder einzurenken. So wie es aussieht, machen bei diesem speziellen Sand Talk nämlich viele diese Erfahrung.

Es wird noch schlimmer, wenn Oldman sagt, die vorliegende Ansicht des Symbols sei ein umgedrehtes Bild, dass du nur richtig zu sehen bekommst, wenn du dich geistig unter die Erde begibst und es von unten anschaust.

Zusammengenommen zeigen die Linien dieser Sand-Talk-Karte die Gestalt des australischen Kontinents als eine auf den Kopf gestellte Version der Mercatorprojektion, wie wir sie heute kennen. In vielen nichtwestlichen Sprachen, darunter Maori, nahöstlichen und Aborigine-Sprachen, liegt der Norden unten und der Süden oben. Frühe Weltkarten aus der Zeit, bevor die Europäer ihre Imperien aufbauten und die Karten drehten, um sich oben verorten zu können, waren ebenso angelegt. Die Europäer zogen auch die obere Hälfte der Karte auseinander, um sich größer aussehen zu lassen, sodass der Äquator eigentlich tiefer liegt, als er es sollte, und das kleine Grönland aussieht wie ein Kontinent. Wenn du mir nicht glaubst, schau auf einer beliebigen Karte nach, wo der Äquator liegt. Er befindet sich nicht in der Mitte, sondern darunter. In Oldman Jumas Karte liegt Tasmanien in der Welt ganz oben und ist weit größer.

Ich beschloss, mich mit jemandem von der Spitze der Welt auszutauschen, einer indigenen tasmanischen Denkerin namens Lauren (alias Blackie), die mit ihrer Frau in Sydney lebt und an ihrer Doktorarbeit schreibt. Sie hat einige gute Texte zum Thema Entwicklung und ihren Folgen für indigene Wirklichkeiten verfasst. Ich habe vor einem Jahr einen Fisch-Bumerang aus Ti-tree-Holz geschnitzt und ihr gegeben. Auf ihm sind Oldman Jumas Zeit- und Ortskarten sowie ein paar Bilder von Ameise und Schmetterling aus einem Tanz, den wir einst erarbeitet haben. Ein Fisch-Bumerang ist eine seltene Jagdwaffe aus Western Australia, die kaum jemand kennt.

Als ich vor ein paar Jahren dort die Erlaubnis erhielt, solche Bumerangs zu schnitzen, fertigte ich gleich sehr viele davon an. Sie sehen nicht wie normale Bumerangs aus. Sie sind in etwa so groß wie eine gespreizte Hand und geformt wie ein winkliges Komma mit einer scharfen Spitze. Oldman Juma bezeichnet sie als Blackfella-Ninja-Sterne. Sie fliegen rasend schnell, durchschneiden das Wasser und schlagen Fische bewusstlos. Wenn sie gut gemacht sind, hilft ihr Winkel dabei, abzuschätzen, wo sich die Fische wirklich befinden, anstatt danach zu gehen, wo sie, da das Wasser das Licht bricht, zu sein scheinen. Aus dem Gebrauch dieser Bumerangs lassen sich gute Lektionen ziehen; Lektionen über Illusionen, Perspektiven und Wirklichkeiten.

Ursprünglich wurden sie aus Hartholz hergestellt, aber als Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Wellblech ins Land kam, wurde oft auch dieses Material verwendet. Ich dachte, dieses flüchtige, anpassungsfähige Instrument würde gut zu den schlüpfrigen, Zeit und Richtung betreffenden Ideenschwärmen passen, die mit den Mitteln der mündlichen Kultur schon schwer zu fassen sind und schwieriger noch mit dem geschriebenen Wort.

 

Diesen kleinen, aber tödlichen Bumerang habe ich Blackie gegeben, damit sie ihn zu ihrem Schutz in ihrer Handtasche trägt. Statistisch gesehen, ist es nämlich für eine Aborigine-Frau nicht besonders sicher, in der Stadt nachts alleine nach Hause zu gehen.

Kürzlich habe ich Blackie gefragt, was sie über den Bumerang, den sie nun seit einem Jahr bei sich trägt, so gedacht hat. Sie antwortete:

Deckt man mit der Hand erst das eine und dann das andere Auge ab, fängt das ganze Teil an zu fliegen und flattert mit den Flügeln wie ein Schmetterling. Durch abwechselndes Schauen ändert es seine Richtung. Der Boomy wird durch das ganze Symbol in die Höhe gehoben, starke flatternde Flügel erzeugen Auftrieb, der sich durch die restliche Geschichte fortpflanzt. Ich denke, das ist Teil der Verwandlung. Beim Zusammentreffen mit diesen grenzenlos begrenzten Wachstumsnationen müssen wir wirklich nur Schwung in diese Flügel bekommen und verdammt noch mal abheben. Diesen so wenig nachhaltigen Systemen davonfliegen. Wie du gesagt hast, diese Modelle sind immer ortlos, universell, aber sie vergessen manchmal auch, was Raum bedeutet. Als Leute, die widerstehen, müssen auch wir uns wieder über den Raum Gedanken machen. Überall leben diese ganzen ortsbasierten Sachen auf, sodass manchmal selbst Blackfellas solche Dinge wie Raum, Zeit, Bewegung, Dimension übersehen.

Blackie spricht von Entkolonialisierungsbewegungen, die so sehr auf die Ablehnung westlicher Systeme versessen seien, dass sie sich allzu sehr auf Wissensformen versteift hätten und zu wenig auf solche des Seins. Dies habe dazu geführt, dass viel Indigenes Wissen, anstatt sich im Alltagsleben eingebettet zu finden, sich in der Theorie verloren habe. Andererseits habe eine neuerliche Fixierung auf die »Ontologie« das Pendel zurückschwingen lassen, da die Leute authentische, aber individuell unverwechselbare Grundlagen für traditionelles Wissen suchten, worüber sie in verschiedenen Medien berichteten.

In all diesen Zuweisungen und Neuzuweisungen Indigenen Wissens gehen Dinge verloren, oder sie werden kontaminiert. Das ist etwas anderes, als wenn bei der Herstellung von Fisch-Bumerangs Holz durch Wellblech ersetzt wird; Letzteres ist in Ordnung, denn es demonstriert Kontinuität und Anpassungsfähigkeit als Reaktion auf den Wandel. Bei Ersterem ist es eher so, als ob jemand, der Oldman Juma über Blackfella-Ninja-Sterne scherzen hört, sich eine Traumzeitgeschichte über Japaner ausdenkt, die vor Tausenden vor Jahren Australien besucht haben. Indigenes Wissen ist ständig, von innen wie von außen, von solch schrägen Zufügungen und Falschinterpretationen bedroht. Die physische Apokalypse der Invasion erreichte uns mit einem Knall, aber unser kulturelles Armageddon ist mehr ein Wimmern, eine langsame Kontamination und Zerfaserung gemeinschaftlichen Wissens durch außergewöhnliche Einzelpersonen.

Ich habe erfundene Traumzeitgeschichten gehört, die keinerlei Verbindung mit Traumpfaden oder realen Orten hatten. Ich habe komplizierte, aus New-Age-Tand fabrizierte pseudo-indigene Rituale gesehen. Jemand sagt: »Heute führe ich ein buddubigwan, das traditionelle Aborigine-Wort für Werkstatt«, und hält eine PowerPoint-Präsentation gemischt mit Vertrauensübungen, Gesichtsbemalung und vagen herzerwärmenden Affirmationsphrasen. Jemand anderes übersetzt das Oxford Dictionary in eine Aborigine-Sprache und erfindet neue Wörter für Dinge wie Tableau, quijotesk und Xenophobie. Sicherlich ein geniales Vorhaben – das Problem ist nur, dass sich Kulturen nicht auf diese Art anpassen und entwickeln. Wie bei allen Dingen, die Bestand haben, muss so etwas in einer kollektiven Anstrengung erfolgen und mit den Schöpfungsmustern, die sich aus dem Leben in einer bestimmten Landschaft herauslesen lassen, im Einklang stehen.

Die Neuerer, die diese Beispiele hervorbringen, argumentieren, dass sich unsere Kultur in einem fortwährenden Wandlungs- und Anpassungsprozess befindet, und damit haben sie recht. Echter kultureller Wandel aber geschieht nicht einseitig. Kulturelle Neuerungen finden in den tiefgehenden Verbindungen zwischen Land, Geist und Gruppen von Menschen statt. Eine im traditionellen Wissen »hochrangige« Person mag vielleicht einen Pfad in einer Traumzeit finden, wenn sie tief mit dem Land, der Überlieferung, dem Geist und der Gemeinschaft verbunden ist. Aber dieser Pfad muss dann von anderen aufgenommen und über viele Iterationen hinweg schrittweise verändert werden, bevor er Teil der Kultur werden kann. Ohnedies kann ein solcher Pfad nur in einem über Tausende Jahre von dieser Gemeinschaft entwickelten rituellen Prozess gefunden werden. Der Pfad selbst ist weniger wichtig als der gemeinschaftliche Wissensprozess, der ihn hervorgebracht hat.

Die meisten dauerhaften kulturellen Neuerungen treten in der Alltagskultur auf, in den Praktiken und Formen, die sich in einer organischen Anpassungsfolge aus dem alltäglichen Leben und Miteinander von Menschen und Orten entwickeln. Wenn diese Vorgänge ungehindert von willkürlichen Kontrollmaßnahmen und Plänen sozial hervorgehobener Individuen ablaufen können, spiegelt ihre Entstehungsweise die Muster der Schöpfung wider.

Ich habe erlebt, wie Neuerungen authentisch im Alltagsleben meiner Kultur aufkamen, und sie über lange Zeit sorgfältig beobachtet. Ich weiß, wie sie aussehen, wenn sie echt sind. Ich habe im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends der Entstehung eines neues Bestattungsrituals beigewohnt, einer Grabsteinzeremonie, die etwa ein Jahr nach der Beerdigung der verstorbenen Person stattfindet. Der Neuerungsprozess begann in einer Gemeinde, die auf ihrem Friedhof bislang nur Holzkreuze hatte, und wurde angeführt von einer Frau, die für ihren toten Sohn einen Stein als Grabmarkierung haben wollte.

Die Herausbildung der Zeremonie zur »Eröffnung« dieses ersten Grabsteins war ein gemeinschaftlicher Vorgang, der von mehreren Ältesten und Familienmitgliedern gestaltet wurde und ältere, außer Gebrauch gekommene Elemente des traditionellen Trauerrituals inkorporierte. Dadurch, dass die Zeremonie von vielen Familien und in verschiedenen Gemeinschaften wiederholt und modifiziert wurde, wurde sie eine authentische, in die lebendige Kultur eingebettete Neuerung. Sie betraf sogar Familien- und Haushaltssparpläne, um Geld für den Grabstein und das der Zeremonie folgende Gemeinschaftsfest anzusparen. Dieses vielschichtige, schöne und heilsame Ritual hätte nicht von einer Einzelperson und auch nicht von einer »Arbeitsgruppe« erdacht werden können.

Nachhaltige Systeme lassen sich nicht durch Einzelpersonen oder einberufene Komitees zusammenbasteln, vor allem nicht in Zeiten, die von starkem Wandel und Umbrüchen gekennzeichnet sind. Diejenigen, die in indigenen Kulturen nach nachhaltigen Methoden suchen, sollten sowohl nach altem als auch zeitgenössischem, der Alltagskultur entsprungenem Wissen Ausschau halten und nicht nach individuellen Erfindungen und Anpassungen. Damit ist nicht gesagt, dass alltagskulturelle Neuerungen immer gut sind. Wenn man aber auf viele Stimmen und viele Geschichten hört und sieht, wie sich daraus ein tiefes und komplexes Muster entwickelt, kann man in der Regel bestimmen, was echt ist und was um fragwürdiger Ziele willen nur oberflächlich retuschiert oder von dahergelaufenen Narzissten korrumpiert wurde.

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