Sand Talk

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Max weiß vielleicht nicht alles über seine Abstammungslinie oder seine Kultur, die von einem katastrophalen Genozid zerstört wurde, aber er weiß, wer er ist, und die Bruchstücke kulturellen Wissens, die ihn prägen, sind unverfälscht und haben ihren Wert. Er wendet die in diesen Fragmenten aufscheinenden Muster auf alle Aspekte des Alltagslebens an.

»Ich weiß nicht, was ich ohne meine Identität wäre, denn ich kenne eigentlich kein Leben ohne sie. Ich kann keinen Unterschied machen zwischen dem, was in mir indigen und was nicht-indigen ist, denn alles, was ich tue, ist indigen geprägt – die Art, wie ich mich durch die Welt bewege, mich gegenüber anderen verhalte, die Art, wie ich über alles nachdenke. Egal bei welcher Gelegenheit, es dringt dir aus allen Poren.«

Max tritt nicht aus seiner Identität heraus, wenn er hundert Nachkommastellen von Pi aufsagt; er singt ein Schöpfungsmuster von Norden nach Süden. Und er muss, um dies zu tun, nicht den Wissensstand eines Ältesten haben. Er muss einfach nur das Muster erkennen in dem, was er weiß. Wissensbewahrer sehen, wie er sich verhält, und wissen, dass er so weit ist, Verantwortung für neu hinzukommendes Wissen zu übernehmen. Also geben sie Wissensstoff an ihn weiter. Genau so funktioniert Indigenes Wissen.

Ich behaupte nicht, Max sei perfekt. Auch er ist anfällig für Momente, in denen die Besser-als/schlechter-als-Täuschung zuschlägt. Manchmal bringt er mich damit fast um den Verstand. Einmal habe ich ihn so heftig angeschrien, dass ich für ein oder zwei Tage keine Stimme mehr hatte, aber meine Reaktion auf sein Verhalten war letztlich genauso schlimm, weshalb ich Abbitte leisten musste. Ich habe Max eine Menge beigebracht, aber auch er lehrt mich einiges, etwa wie ich aus fehlerhaftem Verhalten herauskomme. Ich habe von ihm viel über Steine gelernt, denn Tasmanier haben eine besondere Beziehung zu ihnen.

»Für mich sind Steine diejenigen Gegenstände, die das ganze Leben widerspiegeln, mehr noch als Bäume oder andere sterbliche Dinge, denn Steine sind beinahe unsterblich. Sie wissen Dinge, die sie sich über sehr lange Zeiten angeeignet haben. Stein steht für Erde, Werkzeuge und Geist, vermittelt Sinn durch seinen Gebrauch und seine Widerstandsfähigkeit gegenüber den Elementen. Und doch altert er, bekommt, wenn ihn die Zeit angreift, Risse und erodiert.«

Wir sinnieren über die Empfindungsfähigkeit der Steine und den Fehler der alten Griechen, »tote Materie« lebender Materie gegenüberzustellen und damit über Jahrhunderte das westliche Denken in seiner Möglichkeit eingeschränkt zu haben, Dinge wie Bewusstsein und selbstorganisierende Systeme, etwa Galaxien, zu fassen zu bekommen. Sie betrachteten das Weltall zwischen den Sternen als leblos und leer; unsere eigenen Geschichten stellten diese dunklen Gegenden, basierend auf der Beobachtung, dass sie Himmelskörper anziehen, als lebendes Land vor. Die Theorien über tote Materie und leeren Raum hatten zur Folge, dass die westliche Wissenschaft erst spät dazu kam, die sogenannte »dunkle Materie« zu entdecken und festzustellen, dass die Gebiete »toten und leeren« Raums den überwiegenden Teil der Materie im Universum enthalten.

Dies bringt uns zurück zu Uncle Noel Nannups Schöpfungsgeschichte, als Emu durchdrehte. In dieser Geschichte war der Raum, wie er vor der Schöpfung existierte, fest: Er saß schwer auf dem Boden und zerdrückte mit seinem Gewicht alles, was ins Sein zu kommen versuchte. Erde und Himmel mussten geteilt werden, indem die Ahnen die Himmelstriche mit ihrer Körperkraft nach oben stemmten. In unseren Geschichten sind die Länder des Himmels fassbar, sie besitzen Masse, und zwar auf eine Weise, die ein Wissen um die dunkle Materie offenbart. Dieses ganze Himmelsterritorium steht fortwährend in Kommunikation mit uns, übt Kräfte auf uns aus und tauscht sogar – in der Form von Felsgestein, das durch unsere Atmosphäre stürzt – Materie mit uns aus. Unsere Geschichten zeigen unser uraltes Wissen darüber, wie Asteroiden Krater bilden, eine Erkenntnis, die erst vor wenigen Jahrzehnten Eingang in das wissenschaftliche Wissen gefunden hat.

Max und ich sprechen darüber, dass unser Wissen über diese Dinge nicht immer auf unsere Kultur beschränkt gewesen sein kann, sind doch die alten Namen für die Sternbilder oft weltweit den unseren gleichbedeutend – die sieben Schwestern (Siebengestirn), die zwei Brüder (Zwillinge), der Adler, der Jäger (Orion). Dies sind weltweite Geschichten und Wissenssysteme, die einmal allen Menschen gemeinsam gewesen sein müssen. Im Norden muss etwas Schreckliches geschehen sein, so unser Gedanke, dass die Menschen all das vergessen haben und die Wissenschaft, anstatt auf schon bestehendes Wissen aufzubauen, wieder bei null anfangen musste. Worin mag diese Katastrophe bestanden haben? Ich stelle mir vor, dass der Schwarze Tod daran seinen Anteil hatte, vermute aber, dass es schon viel früher begann. Ich denke, Emus Schwindel ist irgendwann außer Kontrolle geraten und hat sich ausgebreitet, sodass immer mehr Menschen sich für besser hielten als das Land, besser als die anderen, besser als die Frauen, die unser Leben in ihren Händen und Bäuchen halten. Was immer es auch gewesen sein mag, die Katastrophe wird schlimmer, und ich frage mich, wie wir sie aufhalten können.

Max antwortet:

Der Stein lehrt uns, dass wir, trotz allem, was uns zum Zerspringen bringen oder uns mürbe machen will, stark sein und mithilfe unserer Kultur und unseres Glaubens einen unzerbrechlichen Kern bewahren sollen. Der Großteil der Erde besteht aus Gestein, und obwohl Wasser und Pflanzen die Oberfläche bilden, besteht der Körper der Erde, der Teil, der alles zusammenhält, aus Gestein. Leben und Schöpfung, das ist alles da, aber ohne eine solide Basis wird es zerbröseln, das gilt auch für die Gesellschaft, für Firmen, Beziehungen, Identitäten, Wissen, für fast alles, sei es materiell oder nicht. Wie diese Wälder und Bäume, die wie eine Haut auf dem Felsgestein der Erde sitzen – ohne die Stärke im Inneren, ohne den Stein, würde alles zerbröseln.

Die von Max beschriebene Gestalt der Welt und die Haut auf ihr vor Augen, denke ich über die Physik unserer Schöpfungsgeschichten nach und darüber, wie das Felsgestein mit der Zeit zu runden Körpern erodiert. Ich erkenne ein Muster im Universum, wonach die Kugel die effektivste Form darstellt, Materie zusammenzuhalten. Der wachsenden Zahl der Flache-Erde-Anhänger da draußen möchte ich deshalb sagen: »Blast mir eine abgeflachte Blase, und ich denke gerne über eure Theorie nach.« Aber dies würde mich in eine Besser-als-Position rücken. Ich sollte also in mich gehen, ihnen Beachtung schenken und daran denken, dass sich auch in randständigen Auffassungen immer etwas Wertvolles verbirgt.

Ich höre ihnen also online zu und entdecke, dass die Kugel nicht die endgültige Form dieses Schöpfungsprozesses ist. Unsere Galaxie war am Anfang eine Kugel und flachte zu einer Scheibe ab; und auch die Erde wird wie ein Lehmklumpen auf einer Drehscheibe nach und nach flacher. Bislang hat sie sich an den Polen zwar bloß um etwa zwanzig Kilometer abgeflacht, aber sie ist auf dem besten Weg. Gut also, dass ich die Flache-Erde-Anhängerinnen nicht kurzerhand beiseitegewischt habe, denn sonst hätte ich diese Sache kaum je richtig verstanden.

Aber inwiefern könnte dieses Denken nützlich sein? Nun ja, mit einem Gedankenexperiment lassen sich vielleicht ein paar Anwendungsbereiche ausmachen. Beim Verpacken zum Beispiel ließen sich Platz und Ressourcen weit wirksamer ausschöpfen, wenn man berücksichtigte, dass man viel mehr in eine kleine Kugel als in eine große Kiste packen kann. Was aber würde solche Kugeln daran hindern, von den Regalen zu rollen? Die Flache-Erde-Anhänger haben eine Lösung dafür: Man muss die Kugeln nur etwas flach drücken. Danke, Flach-Erdlinge. Diese Neuerung könnte uns ein paar Mülldeponien ersparen und uns ein bisschen Aufschub gewähren.

Max glaubt, es brauche eine größere Veränderung im Denken, um die Zerstörung des Planeten abzuwenden, und dass wir von den Steinen mehr über Respekt lernen müssten. Ich stimme ihm zu – die Einsicht, dass wir weder besser noch schlechter als ein Fels sind, würde, wenn sie denn die Menschen in genügend hoher Zahl gleichzeitig überfiele, Veränderungen bewirken. Wer glaubt, besser als ein Felsbrocken zu sein, sollte in einen verwandelt werden – dann würde man feststellen, dass man gar nicht so besonders ist, und könnte endlich glücklich sein. Max meint, dass in den letzten Jahrzehnten ein größeres Bewusstsein für den Geist der Steine entstanden sei, und erinnert mich an die Ereignisse rund um den Uluru.

Dort gibt es einen Schuppen voller Steine. Über lange Zeit haben Touristen Felsbrocken von der heiligen Stätte als Souvenir mitgenommen, doch dann, vor ein paar Jahrzehnten, geschah plötzlich etwas Seltsames. Die Touristen fingen an, die Steine zurückzuschicken, und berichteten voller Panik von seltsamen Ereignissen, Schlafstörungen, Schicksalsschlägen, Heimsuchungen durch Geister und fürchterlichen Unfällen. Irgendwie ahnten sie, dass dies an den Steinen liegen musste, und schickten sie mit verzweifelten Entschuldigungen zurück. So viele wurden zurückgegeben, dass ein großer Schuppen für ihre Aufbewahrung gebaut werden musste.

In unserem Gesetz wissen wir, dass Felsen fühlende Wesen und beseelt sind. Man kann sie nicht einfach aufheben und mit nach Hause nehmen, da man so ihren Geist stört und dieser im Gegenzug einen selbst stören würde. Egal, wo man auf diesem Kontinent mit Aborigines an einem Lagerfeuer sitzt und Geschichten erzählt, man wird mit Sicherheit eine abschreckende Anekdote über einen Verwandten zu hören bekommen, der so unklug war, einen Stein vom Boden aufzuheben und mit nach Hause zu nehmen, und der dann krank, heimgesucht, umgebracht oder verrückt wurde. Viele Steine sind gutwillig und freuen sich, wenn sie verwendet oder gehandelt werden, es gilt aber, dem Rat der Alten zu folgen, wenn man wissen will, welche man in Gebrauch nehmen darf. Steine müssen respektiert werden.

 

Vielleicht muss noch weiter ergründet werden, was Bewusstsein ausmacht und was Leben. Wenn die Definition dieser beiden Dinge auch die Steine als fühlende Wesen mit einschlösse, würde das erheblich dazu beitragen, die Emu-haften Verhaltensweisen, die derzeit auf der Erde und im Cyberspace grassieren, einzudämmen. Entweder das, oder wir könnten dazu übergehen, Uluru-Steine an all die Narzissten der Welt zu verschicken, um ihnen eine Lektion in Sachen Respekt für andere zu erteilen.

Ich hoffe, ich konnte bereits einige Vorstellungen davon vermitteln, was Indigenes Wissen ist, welche indigenen Menschen über es verfügen und wo es Anwendung finden könnte. Falls es doch entgangen sein sollte, die Antworten lauten: in allem, wir alle und alles. Wer aber ist indigen? Im Rahmen der in diesem Buch behandelten Gedankenexperimente über Nachhaltigkeit handelt es sich bei einer indigene Person um ein Mitglied einer Gemeinschaft, die Erinnerungen an ein nachhaltig gelebtes Leben auf Grundlage des Landes bewahrt und sich selbst als Teil des Landes betrachtet. Indigenes Wissen ist jede Anwendung dieser Erinnerungen als lebendiges Wissen zur Verbesserung gegenwärtiger und zukünftiger Umstände.

Erstes Gesetz


»Warum siehst du denn die Blumen nicht?«, sagte das junge Mädchen. Ich war dabei, ihr das Bild im Sand zu erklären, erzählte ihr etwas über Zeit und Tiefenzeit, und sie beschämte mich, brachte mich dazu, die Dinge anders zu sehen. Auf eine schöne Art, die gerade richtig war, wo die Jetztzeit alle Zeit und mit Freude erfüllt war. Auch Oldman Juma zwang mich, es anders zu sehen, als er meine Wange auf den Boden drückte, damit ich in der »Ameisenperspektive« eine Land-Topografie in dem in Sand gemalten Bild sah, all die Täler und Höhenzüge. Zeit und Ort dasselbe. Bloß die drei Kreise, von der Schöpfungszeit zur Ahnenzeit zur gegenwärtigen Zeit; das Muster wiederholt sich im Kleinen, mit drei Generationen, Lebensstadien und sogar mit den drei Abschnitten eines Tages, einer Aufgabe, eines Moments.

Es kommt dir aus dem Boden entgegen, dieses Bild, in 3-D, und es ist ein bewegtes, wirbelndes Energiesystem. Und, ganz außen, ein neuer Kreis, der eigentlich nichts anderes ist, als der in der Mitte, denn alles kehrt zurück, speist sich in Zeit und Ort in dieses System ein, endlose Zyklen von Wachstum und Erneuerung. Wir sterben nicht, wir gehen zurück ins Land, kommen dann ein drittes Mal wieder. Schöpfung ist kein »Lang, lang her«-Ereignis, denn die Schöpfung entfaltet sich auch heute noch und wird es auch weiterhin tun, wenn wir das Wie des Wissens wissen.

Alles geht aus diesem zentralen Einschlagpunkt hervor, diesem Urknall, der sich ausdehnt und zusammenzieht, ein- und ausatmet, der ohne Anfang und Ende, sondern ein Dauerzustand ist, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins sind, eine Zeit, ein Ort. Jeder jemals gemachte Atemzug ist noch in der Luft zum Atmen. Ich atme die Atemzüge der Ahnen und aller anderen auch. War immer, ist immer, wird immer sein. Es gibt Blumen hier, und sie lassen mich lächeln.

Manchmal ist es schwierig, auf Englisch zu schreiben, wenn man gerade mit seiner Urgroßmutter am Telefon gesprochen hat und sie auch deine Nichte ist und es in ihrer Sprache keine unterschiedlichen Wörter für Zeit und Ort gibt. In ihrem Verwandtschaftssystem findet alle drei Generationen ein Reset statt, bei dem die Eltern deiner Großeltern in einem ewigen Kreislauf der Erneuerung als deine Kinder eingeordnet werden. In ihrer traditionellen Sprache fragt sie dich etwas, das sich ins Englische unmittelbar als »an welchem Ort« übersetzt, aber eigentlich »zu welcher Zeit« bedeutet, und du begibst dich nur zögerlich in dieses Paradigma, denn du weißt genau, wie verdammt schwer es dir fallen wird, sich aus ihm zu lösen, wenn du wieder weiterarbeiten möchtest. Verwandtschaft bewegt sich in Zyklen, das Land bewegt sich in saisonalen Zyklen, der Himmel bewegt sich in Sternenzyklen, und die Zeit ist in diese Dinge so sehr eingebunden, dass sie sich begrifflich nicht vom Raum unterscheidet. Wir erleben Zeit ganz anders als Menschen, die in flachen Terminplänen und geschichtenlosen Oberflächen versunken sind. In unseren Existenzblasen verläuft die Zeit nicht in einer geraden Linie, und sie ist so spürbar wie der Boden, auf dem wir stehen.

In dem Sand-Talk-Bild oben ist der Einschlagpunkt im Zentrum der Schöpfungsmoment, der Zeit/Raum in Bewegung setzte. Es zeigt drei große Zeitalter der Tiefenzeit in konzentrischen Kreisen, die alle im gleichen Moment entstehen. Das Symbol bildet eine dreidimensionale apfelförmige Gestalt des Universums, wenn man sein »Schauen« in ein »Starren« verändert und es auf sich wirken lässt. Die Kugel ist in Bewegung, weil sich die drei Zeitalter fortwährend von außen nach innen und wieder zurück bewegen, sich ausdehnen und zusammenziehen, sich in einer rollenden Bewegung überblenden und sich endlos in einem stabilen Muster reproduzieren. Das ist ein nachhaltiges System.

Nichts wird geschaffen oder zerstört; es bewegt und verändert sich nur, und das ist das Erste Gesetz. Schöpfung befindet sich fortwährend in einem Zustand der Bewegung, und als Hüterart müssen wir uns mit ihr bewegen, denn sonst fügen wir dem System Schaden zu und weihen uns dem Untergang. Nichts kann festgehalten, angehäuft oder aufbewahrt werden. Jede Einheit braucht in einem stabilen System Geschwindigkeit und Austausch, oder sie stagniert – dies gilt für Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme ebenso wie für natürliche Systeme. Sie folgen alle den gleichen Gesetzen.

Um den inneren Kreis verlaufen drei Bögen (oder Blütenblätter, für die ich sie nun halte), die versinnbildlichen, wie unser Gesellschaftssystem in das Schöpfungssystem eingeschrieben ist, mit drei Generationen starker Frauen um jedes Kind – Schwestern/Cousinen, Mütter/Tanten und Omas. Die Mutter der Großmutter geht zurück ins Zentrum und wird zum Kind, und alle zusammen kreisen auf ewig durch diese Rollen, der Geist des Kindes wiedergeboren durch das Land. Eine jede nimmt auch alle Rollen zugleich ein – so ist die Schwester auch eine Tante von jemand anderem sowie Großmutter der Tochter ihrer Nichte.

So zeigt sich das System je nach dem Beziehungskontext einer Person, die es zu einem gegebenen Moment betrachtet, in unterschiedlicher Weise. Wenn du das Kind im Zentrum bist, siehst du einen Fächer von Beziehungen, aber vom Standpunkt deines eigenen Kinds aus siehst du einen anderen. Auch die Tante des Kindes ist, im Zentrum ihres eigenen Systems, jemandes Kind. Jedes Mal, wenn man jemandem begegnet und eine Beziehung herstellt, bringt man multiple Universen zusammen. Es besteht keine Möglichkeit, dieses System von außen zu betrachten – man muss sich in es hineinbegeben, um es dreidimensional sehen zu können, und man muss sich in ihm bewegen und Verbindungen herstellen, um weitere mannigfache Dimensionen zu erkennen. Von außen ist es lediglich ein flaches Bild.

In der modernen Wissenschaft und Forschung müssen die Forschenden Objektivität behaupten, eine unmögliche und gottähnliche (Besser-als) Position, die im leeren Raum schwebt und das Feld beobachtet, ohne ihm anzugehören. In der Quantenphysik ist diese Illusion der Allwissenheit auf Schranken gestoßen. Sosehr man sich auch von der Realität abzusetzen versucht, es wird immer Beobachtereffekte geben, da die Realität sich je nach Standpunkt verschiebt. Die Wissenschaft bezeichnet dies als Unschärferelation.

Ich bin ein Novize in Bezug auf diese Art von Physik, verstehe sie aber so, dass ein subatomares Teilchen, nach dessen Position man sucht, ein Partikel wird, hingegen eine Welle, wenn man seine Bewegung messen möchte. Und deshalb verändert sich seine physikalische Wirklichkeit je nachdem, wie man auf es blickt. Das Alltagsdenken hat daraus Folgendes gemacht: »Wenn ich mit meinen Gedanken die Wirklichkeit verändern kann, möchte ich, dass mir das Universum einen Lamborghini schenkt.«

So funktioniert es nicht, meint Percy Paul, ein First Nations-Mann und theoretischer Physiker am kanadischen Perimeter Institute, als wir uns miteinander austauschen. Er hat offenbar das Gefühl, dass die komplizierten Gleichungen der Unschärferelation nur wenig Einfluss auf seine Lebenswirklichkeit als indigene Person haben. Ich höre ihm zu, wie er seine Art zu leben und sein Verständnis des Universums erklärt, und versuche, seinen Standpunkt nachzuvollziehen: Ich stelle mir vor, dass ein Elektron zu jedem gegebenen Zeitpunkt ein Wahrscheinlichkeitsfeld für seinen potenziellen Ort bildet und nicht auf einen einzelnen Punkt in der linearen Zeit festgelegt werden kann, es sich also wie ein Strand verhält, an dem jedes Sandkorn die Möglichkeit für dessen Vorhandensein darstellt. Für mich heißt das, dass die konkrete Wirklichkeit nur trotz der linearen Zeit existiert.

Ihm gegenüber dies vorzubringen, fühle ich mich zu dumm, mein Ego verhindert also, dass wir uns darüber austauschen. Egos stehen einem guten Yarn immer im Wege. Stattdessen spreche ich mit Percy über den ersten und zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, und er lässt mich an einigen erstaunlichen Ideen teilhaben, doch dann laufen unsere Denkwege auseinander, der Austausch ist zu Ende, und wir finden auch nicht mehr richtig zu ihm zurück. In der indigenen Welt kannst du niemanden zwingen, Wissen mitzuteilen – du akzeptierst einfach, was man dir mitzuteilen für richtig hält. Meistens ziehen sich die Wissensbewahrer zurück, wenn sie in ihrem Gegenüber Narzissmus zu spüren vermeinen, und ich weiß, dass ich diesen Yarn in einem falschen Bewusstseinszustand angegangen habe. Die Körner, die mir Percy überlässt, picke ich freilich dankbar auf.

Meine Yarns mit Percy veranlassen mich, mich noch einmal mit Schrödingers Katze zu beschäftigen, der beste Weg für Uneingeweihte, die Unschärferelation zu verstehen. In diesem berühmten Gedankenexperiment stellt man sich vor, eine Katze, die vergiftet wurde, in eine Kiste zu sperren. Da man sie nicht sehen kann, weiß man nie, ob sie schon gestorben ist, das heißt, die Katze ist gleichzeitig tot und lebendig. Der Vorgang der Beobachtung, dass die Katze atmet, macht sie gewissermaßen lebendig, und der Vorgang, sie zu sehen, wie sie einen mit erloschenen Augen, erstarrt in einer von Todeskampf und Panik gemalten Maske, fixiert, macht sie tot. Jesus.

Aus der kosmologischen Sicht der Aborigines ist das Problem der Unschärfe gelöst, wenn man sich als Teil des Felds versteht und seine Subjektivität akzeptiert. Wenn du unbedingt wissen willst, was in der Kiste ist, nimm selbst das Gift und klettere hinein. Nach meinen Yarns mit Percy verstehe ich die Unschärferelation nicht mehr als Gesetz, sondern als Ausdruck der Frustration, nicht zu einer gottähnlichen wissenschaftlichen Objektivität gelangen zu können.

Heutzutage müssen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sämtliche Spuren von sich aus den Experimenten entfernen, denn sonst gelten ihre Daten als kontaminiert. Kontaminiert womit? Mit der schmutzigen Realität des Dazugehörens? Der toxischen Erkenntnis, dass wir, wenn wir uns nicht außerhalb eines Feldes befinden, es nicht besitzen können? Ich sehe nicht, dass sich die Wissenschaft so bald indigener Forschungsmethoden annehmen wird, denn Indigenes Wissen ist nicht wegen des Wie, sondern wegen des Was, nicht als Quelle eines Wissensprozesses, sondern als Ressource, die geplündert werden kann, gefragt. Zeige mir ein paar Pflanzen, damit ich ein Präparat daraus herstellen und zu Arznei verarbeiten kann!

Ich kann in Gedankenexperimenten mit Katzen in Kisten keine Nachhaltigkeitslösungen erkennen, sehe aber Möglichkeiten in dem oben erwähnten, aus drei Frauengenerationen geschaffenen Muster. Es zeigt mir, dass man sich in einem System, das sich in einem andauernden Zustand der Bewegung und Anpassung befindet, bewegen und anpassen muss. Und damit auch, wie uns-zwei das System auf nachhaltige Weise beeinflussen können – jeder Versuch, das System von einem außerhalb befindlichen, festen Standpunkt kontrollieren zu wollen, ist ein fehlgeleiteter Eingriff, der scheitern wird. Wie also kann beispielsweise eine Gesellschaft auf eine weltweit instabile Finanzlage reagieren? Uns-zwei könnten aus der Urgroßmutter-Nichten-Geschichte ein Gedankenexperiment ableiten – in einer Simulation des Universums, wie es von diesen drei Generationen starker und das tragende Sozialgefüge einer erweiterten Familie bildenden Frauen erlebt wird.

 

Durch ihre Augen können wir vielleicht in all den großen ökonomischen Turbulenzen der letzten Jahrzehnte ein paar kleine Inseln der Nachhaltigkeit und des stabilen Wachstums erkennen, die letztlich auf einer Sache beruhen. Nein, nicht auf Gold. Auf der erweiterten Familie. Die Geldüberweisungsökonomie der Dritten Welt – also das Geld, das von den Leuten, die in die Erste Welt ausgewandert sind, nach Hause geschickt wird und in der Gesamtsumme nahezu den internationalen Hilfeleistungen entspricht – ist während der letzten Finanzkrise nicht zusammengebrochen. Sie ist, was viele Ökonomen verblüfft hat, in mancherlei Hinsicht sogar gewachsen. Die Massen verzweifelt armer Menschen, die in der Fremde arbeiten, schicken auch weiterhin Milliarden Dollar an ihre erweiterten Familien und Gemeinschaften nach Hause, und dieser ökonomische Vorgang stellt sich als schrumpfungsresistent heraus.

Auch in Frankreich und Deutschland sind in dieser Zeit – wie in zwei Weltkriegen zuvor und ungeachtet des Zusammenbruchs europäischer Imperien – wirtschaftliche Aspekte, die mit der erweiterten Familie zu tun haben, stabil geblieben. Das verdankt sich gemeinschaftlicher Eigentumsgesetze, die es in dem globalisierenden System der Anglosphäre nicht gibt. Französischen und deutschen erweiterten Familien steht die Möglichkeit offen, Kapital kollektiv zu besitzen und mittelgroße Familienunternehmen zu führen, ohne dass dies alles nominell Eigentum einer Einzelperson ist oder von dieser kontrolliert wird. Damit lassen sich generationenübergreifende Besitzstände bilden. Diese Familienkreise verfügen über unterschiedliche Portfolios, arbeiten aber zusammen und bündeln mehrere Einkommen, womit sichergestellt ist, dass ihr Risiko gut verteilt ist. Sie bieten ein internes soziales Sicherheitsnetz und schützten sich somit untereinander gegen zufällig auftretende Austeritätsphasen und andere Turbulenzen.

Australien würde vielleicht gut damit fahren, seine Wirtschaft gegen Einbrüche zu schützen, indem es Familieneigentumsgesetze und entsprechende Anreize einführte – dies kann, ein Nebeneffekt, auch die Sozialausgaben mindern und die Arbeitslosigkeit abbauen. Für den Fall, dass wir uns nicht ganz sicher sind, wie ein derartiges Modell aussieht, könnten wir uns von Australiens asiatischer Gemeinschaft beraten lassen, die offenbar bereits eine auf dem Modell der erweiterten Familie basierende informelle Ökonomie betreibt. Oder wir fragen einfach meine Omas.

Dieses Kapitel sollte sich eigentlich um Physik drehen, ich weiß, aber heute lassen sich die einzelnen Felder ebenso wenig voneinander trennen, wie man sich selbst von einem Feld absondern kann. Unabhängig davon, in welchem Feld man sich gerade befindet, alles ist Natur und folgt deshalb denselben Naturgesetzen, derselben Physik. Aus deiner Sicht mag sich das Universum von jenem anderer Betrachtungsweisen unterscheiden, aber alle folgen sie den gleichen Gesetzen.

Zwischen den Ersten Völkern und den Zweiten Völkern scheint jedoch, was das Wesen der Realität und die grundlegenden Seinsgesetze anbelangt, eine fundamentale Uneinigkeit zu bestehen. Das Gesetz der Ersten Völker besagt, dass aufgrund der unendlichen und sich erneuernden Verbindungen zwischen Systemen nichts geschaffen oder zerstört wird. Deshalb ist die Zeit nichtlinear und erneuert die Schöpfung in unendlichen Kreisläufen. Das Gesetz der Zweiten Völker besagt, dass die Systeme voneinander isoliert werden müssen und in einem Vakuum individueller Schöpfung existieren, dass sie zwar komplex begonnen, aber vereinfacht und heruntergebrochen werden müssen, bis sie ihr Ende finden. Weil alle Dinge demnach einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben, ist Zeit linear.

Erfunden wurde diese Idee von Aristoteles. Für ihn ist das Ende (telos) das Prinzip allen Wandels. Es handelt sich um einen merkwürdigen Fluch, der auf der Grundlage unvermeidlicher Abnahme und Vernichtung eine Illusion unendlichen Wachstums verlangt. Um das Erste Gesetz außer Acht lassen und Zeit geradlinig erleben zu können, sind die Zweiten Völker und ihre »Gefangenen« genötigt, rückhaltlos an dieses Paradox, das nur aufgrund des Ich-bin-besser-Trugschlusses möglich ist, zu glauben.

Uns-zwei können Aristoteles jedoch dafür nicht die Schuld in die Schuhe schieben. Die Idee lag bereits in Form einer zivilisierenden Gründungsmythologie des Uroboros vor. Uroboros ist eine Metapher für Unendlichkeit – eine zu einem Ring gebogene Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Sie enthielt jedoch bereits den gleichen Fluch, den gleichen Widerspruch: Wie kann diese Schlange ein Symbol der Unendlichkeit sein, wenn sie sich letztlich selbst auffrisst?

Ich habe dieses Kapitel komponiert, indem ich aus einem Mulga-Baum einen boondi geschnitzt habe, eine hölzerne Keule, die wir in meinem Clan allerdings eher als yuk puuyngk oder Gesetzesstock bezeichnen. Das ist meiner Ansicht nach ein geeignetes Mittel, um zu erforschen, wie sich die Gesetze für Raum und Zeit zwischen den Ersten und Zweiten Völkern unterscheiden. Ich studierte die Gesetze der Thermodynamik und tauschte mich darüber (sowie über einige alte tote weiße Typen) mit Ältesten und mit Percy Paul aus, speicherte dieses Wissen in meiner inneren Karte der Great Dividing Range ab, des Großen Australischen Scheidegebirges, das den Körper der Regenbogenschlange darstellt. Es trennt übrigens gar nichts, sondern verbindet Systeme entlang eines gewaltigen Traumpfads. Parallel dazu verläuft eine andere Schlange in Form einer Teppichpython, das Great Barrier Reef, das im Übrigen keine Barriere ist, sondern eine weitere unendlich verbindende Erzählung. Mit Ältesten und Wissensbewahrern bin ich diesen Traumpfad von Caboolture nach Hinchinbrook Island entlanggereist. Auf solchen Traumpfaden wird Indigenes Wissen bewahrt, also legte ich dort auch das oben genannte Wissensmaterial ab, das ich zudem als Erinnerungshilfe in die Keule geschnitzt hatte.

Um den Keulenkopf gravierte ich ein Bild des Uroboros, das für das Gesetz der Zweiten Völker und den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik steht. Die Dreidimensionalität der Keule verleiht dem zweidimensionalen Bild aber noch eine weitere Bedeutungsschicht, eine Wahrheit, die sich enthüllt, wenn man den Stock auf Lehm abrollt. Das Bild einer endlosen Schlangenprozession erscheint, Kopf an Schwanz, das das Gesetz der Ersten Völker und den Ersten thermodynamischen Hauptsatz darstellt.

Laut dem Ersten Hauptsatz der Thermodynamik wird Energie weder geschaffen noch zerstört – sie ändert sich nur und bewegt sich zwischen den Systemen. Laut dem Zweiten nimmt die Entropie oder der Zerfall in einem komplexen, zwangsläufig auseinanderfallenden System zu. Dadurch entsteht – jedoch nur in einem geschlossenen System –, was Physiker als »Zeitpfeil« bezeichnen. Vielleicht ist der Wunsch, geschlossene Systeme zu schaffen und die Zeit in einer geraden Linie verlaufen zu lassen, der Grund dafür, dass die Zweiten Völker so obsessiv damit beschäftigt sind, Zäune und Mauern, Grenzen, große Trennungen und große Barrieren zu schaffen. In der Wirklichkeit bewohnen wir keine geschlossenen Systeme, warum sich also für euer Zeitmodell auf den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik verlegen?

Wenn uns-zwei diesen Bogen im Himmel sehen, diese Regenbogenschlange, sehen wir nur einen Teil davon, und dieser ist subjektiv: nur für uns. Wenn wir uns bewegen, bewegt sich auch der Regenbogen, sein Aussehen ist abhängig von unserem Standpunkt. Steigst du auf den nächsten Hügel, siehst du ihn in einer anderen Position als ich von dem Ort, an dem ich stehe. Die Mondschwestern sind einem ähnlichen Phänomen in die Falle gegangen, als sie auf der Oberfläche des nächtlichen Meeres den Mond jagten und glaubten, sein Spiegelbild sei ein Fisch, den sie harpunieren könnten. Aber dieses Bild bewegt sich wie der Regenbogen, je nachdem, wo man sich gerade befindet, also waren sie außerstande, es zu fangen. Nun sind ihre Schatten auf dem Mond zu sehen, wo sie bis auf den heutigen Tag gefangen sind, eine Warnung all denen, die Illusionen nachjagen, die sich aus festen Standpunkten ergeben.