Sand Talk

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Juma und ich – uns-zwei – arbeiteten mit diesem Wissen und daran, diese Geschichten quer über den Kontinent miteinander zu verknüpfen, seit 2012, jenem Jahr, in dem, wie viele aufgrund einer abenteuerlichen Interpretation des Maya-Kalenders glaubten, die Erde untergehen sollte. Für ein tieferes Verständnis nehme ich in jedem Kapitel Teile von Jumas Dreaming auf. Es gibt sechs Bilder, drei an jedem Ende des Schildkrötenpanzers, die jeweils von einem Yarn begleitet werden. Die sieben anderen Bilder stammen von mir; ich habe sie in den Jahren, bevor ich mit meinem Doktorat begann, geschaffen, weil ich befürchtete, mein akademisches Wissen könnte mein kulturelles Wissen überdecken. Ich musste selbst erst etwas hervorbringen, das größer war als eine Doktorarbeit. Ich habe diese Ideen mit Menschen an vielen verschiedenen Orten geteilt, um ihnen, als Gerüst für die Erkenntnisse, die für die Ko-Kreation nachhaltiger Systeme nötig sind, einen Weg in das Denken und Wissen der Aborigines zu eröffnen.

Ich war auf zahlreichen Konferenzen und Vortragsreihen über Indigenes Wissen und Nachhaltigkeit und habe zahllose Artikel zu diesem Thema gelesen. Die meisten überbringen die gleiche allzu einfache Botschaft: Die Ersten Völker sind bereits seit x-tausend Jahren hier, sie wissen, wie man im Gleichgewicht mit unserer Umwelt lebt, und wir sollen, um Lösungen für heutige Nachhaltigkeitsfragen zu finden, von ihnen lernen. (Ich frage mich oft, auf wen sich »wir« in diesen Äußerungen bezieht.) Daraufhin werden ein paar vereinzelte Beispiele nachhaltiger Praxis aus der Vorkolonialzeit aufgezeigt, und das ist es dann. Das Publikum bleibt zurück mit der Frage: »Ja, aber wie? Welche Einsichten bietet uns das für die Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind?«

Solche Fragen bleiben unbeantwortet, weil die indigenen Teilnehmer für gewöhnlich nur formelhafte Ich-Erzählungen und Artefakte anbieten, ein Fenster, durch das Außenstehende zwar in eine sorgfältig kuratierte Vergangenheit blicken können, doch geht der Blick nur in eine Richtung. Wir geben nicht preis, was wir sehen, wenn wir durch dieses Fenster zurückblicken. Am Anfang gibt es eine Willkommenszeremonie und am Ende einen Tanz, und alle gehen gut gelaunt, aber kein bisschen klüger nach Hause.

Nur selten werden Nachhaltigkeitsfragen globaler Natur unter dem Gesichtspunkt indigener Herangehensweisen und Denkprozesse angesprochen. Nirgendwo erblicken wir ökonometrische Modelle, die indigenes »Denken in Mustern« für ihre Modellierungen heranzögen. Stattdessen wird uns ein Dot-Painting präsentiert und dringlich darum ersucht, in Anbetracht der Pläne, die Bevölkerung einer Stadt binnen weniger Jahrzehnte »nachhaltig« zu verdoppeln, doch an Beschäftigungsprogramme für Indigene zu denken. Erörterungen indigener Wissenssysteme bestehen in der Regel in nichts anderem als der höflichen Anerkennung der besonderen Beziehung zum Land; ein wirkliches Engagement findet kaum je statt. Immer geht es um das Was und nie um das Wie.

Dieses Phänomen möchte ich umkehren. Ich möchte das indigene »Denken in Mustern« dazu heranziehen, die gegenwärtigen Systeme zu kritisieren, und einen Einblick in das Muster der Schöpfung selbst gewähren. Das in der indigenen Literatur weitverbreitete Genre der Ich-Erzählung und der Autobiografie möchte ich vermeiden, werde aber zur besseren Veranschaulichung Anekdoten und Yarns einfließen lassen. Was ich sage, wird natürlich trotzdem subjektiv und fragmentarisch bleiben und – ein Problem aller gedruckten Texte – fünf Minuten, nachdem es geschrieben wurde, schon wieder veraltet sein. Das echte Wissen wird im Land und in den Völkern fortleben, und ich werde ihm nachziehen. Und auch du wirst dich weiterentwickeln. Vielleicht möchtest du bereits das oben gezeigte Handzeichen abwandeln und ihm deine eigenen Bedeutungsschattierungen hinzufügen, es mit anderen teilen und aus diesem Muster etwas entstehen lassen, was man sich niemals auf einer Seite ausmalen könnte. Ich möchte diese Konzepte weitergeben, damit ich sie hinter mir lassen und in die nächste Wissensphase hineinwachsen kann. Gäbe ich sie nicht weiter, hieße dies, sie wie einen Stein mit mir herumzutragen und mein Wachsen sowie die Erneuerung der Systeme, in denen ich lebe, abzuwürgen. Ich bin es müde, in meiner Kultur ein Junge im mittleren Alter zu sein.

Dieses Buch ist nur eine Übersetzung eines in der Zeit eingefrorenen Schattenfragments. Ich mache keine absolute Wahrheit oder Autorität geltend. Von einem Moment zum anderen schalte ich von der akademischen zur Lagerfeuerstimme um. Das alles mag unstrukturiert wirken; meine Logik folgt den komplexen Mustern, die ich zu beschreiben versuche, und spiegelt nicht das übliche Ursache-Wirkung-Verhältnis des verschriftlichten Denkens wider.

Einer der faszinierenderen Aspekte der englischen Sprache besteht darin, dass sie eine Kreolsprache ist und mit ihren Orten auch ihre Gestalt wechselt. Ich werde diese Qualität würdigen und das Englische in die Mangel nehmen, um auszutesten, wie weit es sich verbiegen lässt.

Das wird herausfordernd sein, denn mit dem Englischen rücken die Weltanschauungen der Siedler ins Zentrum jeden Begriffs, was ein wirkliches Verständnis erschwert. So ist es zum Beispiel ein vergebliches Unterfangen, die Aborigine-Zeitbegriffe zu erklären, denn auf Englisch [bzw. auf Deutsch] lassen sie sich nur als nichtlinear beschreiben, was sofort eine dicke Schneise mitten durch die Synapsen schlägt. Das »nicht« wird nicht registriert, nur das »linear«: So wird das Wort verarbeitet, das ist die Gestalt, die es in deinem Kopf annimmt. Am schlimmsten jedoch: Das Konzept wird beschrieben durch das, was es nicht ist, und nicht durch das, was es ist. In unseren Sprachen haben wir kein Wort für nichtlinear, denn es würde niemandem auch nur einfallen, auf geradem Weg zu reisen, zu denken oder zu sprechen. Ein Pfad ist immer ein sich schlängelnder Pfad und braucht keinen Namen.

Vor vielen Tausend Jahren versuchte ein Mann, sich in einer geraden Linie fortzubewegen; er wurde als wamba (verrückt) bezeichnet und zur Strafe hinauf in den Himmel geworfen. Eine sehr alte Geschichte, eine der vielen Geschichten, die uns erzählen, wie wir in frei mäandernden Mustern zu reisen und zu denken haben, und uns davor warnen, auf verrückte Weise vorankommen zu wollen. In diesem Buch werden also Geschichten, Bilder und Yarns das Englische [bzw. Deutsche] zum Klingen bringen, und Bedeutung wird nicht in den einzelnen Worten selbst, sondern in den mäandernden Pfaden zwischen den Worten entstehen.

Es gibt zahlreiche englische Wörter für die Benennung unserer Ersten Völker, und da keines davon völlig passend oder genau ist, verwende ich die meisten von ihnen abwechselnd und nach dem Zufallsprinzip, wobei das von den einen bevorzugte von den anderen womöglich als beleidigend erachtet wird. Vor der europäischen Besetzung nannten wir uns in unseren jeweiligen Sprachen schlicht »Menschen«; da ich aber nicht für eine einzelne Sprachgruppe spreche, verwende ich viele der unpassenden englischen Ausdrücke, sobald ich insgesamt Bezug auf uns nehme. Ich verwende auch viele andere Ausdrücke, die ich nicht besonders mag, etwa »Traumzeit« (Dreaming, eine Fehlübersetzung und Fehlinterpretation), weil viele der Alten, die ich respektiere und die ihr Wissen an mich weitergaben, diese Wörter gebrauchen. Es steht mir nicht zu, mich ihnen gegenüber respektlos zu verhalten, indem ich ihre Wortwahl ablehne. Ich weiß, was diese Wörter bedeuten, und sie wissen es auch, also können wir diese Bezeichnungen durchaus verwenden. Jedenfalls ist Englisch zu sprechen, ohne auf sie zurückgreifen zu können, nahezu unmöglich, außer man möchte alle fünf Minuten »die den traditionellen Ritualkomplexen innenwohnende suprarationale, interdimensionale Ontologie« sagen. Also bleibt es bei »Traumzeit«.

Ich gehe auf das Anfängerwissen über die Aborigine-Kosmologie ein, suche dann nach Mustern und anschließend nach den Implikationen für die Nachhaltigkeit, in einem eher frei schweifenden Diskurs, der niemals für bare Münze genommen werden sollte. Ich schreibe, eine Art dialogischen und reflektierenden Prozess mit dem Leser suchend, um das Denken anzuregen und nicht um Fakten darzustellen. Dafür nutze ich oftmals die duale erste Person. Es handelt sich dabei um ein in den indigenen Sprachen gebräuchliches Pronomen, das im Englischen jedoch nicht vorkommt; deshalb übersetze ich es als »uns-zwei«, wobei meine Finger diese Buchstaben tippen, während mein Mund das Wort ngal formt.

Lösungen für komplexe Probleme bedürfen vieler ungleicher Auffassungen und Entwurfsperspektiven, deshalb müssen wir sie gemeinsam angehen und zur Bildung von Netzwerken dynamischer Interaktion mit so vielen anderen Uns-zweis wie möglich in Verbindung treten. Ich liefere keine Experten-Antworten, sondern lediglich verschiedene Fragen und Anschauungsweisen. Auch wenn ich gut zu einem verbindenden Denken anregen kann, bin ich mit Sicherheit keine Autorität, was die in diesem Buch behandelten Ideen anbelangt, und meine Betrachtungsweise ist, selbst in meiner eigenen Gemeinschaft, eher marginal. An den Rändern jedoch findet sich häufig fruchtbarer Boden.

Die Hoffnung ist, dass uns-zwei aus dieser randständigen Perspektive Dinge in den Blick bekommen können, die übersehen worden sind, einen Aspekt des Schöpfungsmusters zu erhaschen und ein paar Gedankenexperimente durchzuführen vermögen, die aufzeigen, wohin dieses Muster uns führt. Für Einstein hat dies funktioniert; er betrat nur selten ein Labor, sagte bloß: »Wenn dies, dann das, dann das«, und schuf so Simulationen in einem Traumzeitraum, mit denen er Beweise und Lösungen erstaunlicher Komplexität und Genauigkeit erzielte. In diesem Raum stellte sich selbst, was er für seinen größten Fehler hielt, später als seine größte Entdeckung heraus. So schwierig kann es also nicht sein. Wenn wir nicht mehr weiterwissen, bitten wir die Ameisenigel um Hilfe.

 

Wir sollten mit jenen anfänglichen Fragen beginnen, die bei der Annäherung an dieses Wissen immer eine Barriere bilden. Wer gehört wirklich zu den Indigenen? Wer von ihnen trägt echtes Indigenes Wissen in sich, und welche Aspekte dieses Wissens sind relevant, wenn es um das schwierige Problem geht, sich heute mit dem Entwurf nachhaltiger Systeme zu befassen?

Albinojunge

Uns-zwei gehen mit Cancy McKellar, dem Wangkummarra Song-Mann, die Traumpfade entlang. Das sind uralte Traumpfade, die in Gesang und Geschichten in die Landschaft geätzt und in unseren Köpfen und Körpern und Beziehungen mit allem, was uns umgibt, kartiert sind: Wissen, das in jedem Gewässer und jedem Fels gespeichert ist. Wir wandern durch das Corner Country, wo Queensland, South Australia und New South Wales zusammentreffen. Cancy macht meine Ahnenlinien ausfindig und zeigt mir, wo sich deren Geschichten mit den seinen verbinden.

Keiner von uns ist besonders dunkelhäutig, und vielleicht deshalb streicht er die Albino-Charaktere in seinen Überlieferungen besonders heraus. Eine weiße Eulenfrau mit heller Haut und blondem Haar, die eine Gubbiwarlga wird, eine weise Frau, und sich schließlich in einen Quarzbrocken verwandelt. Ein Albinojunge, der in seiner Gemeinschaft durch ihm übel Gesinnte erst geächtet und schließlich verbannt wird. Als wir an die Stelle mit Steinen kommen, die von dem Albinojungen aufgestellt wurden, verschlägt es mir den Atem. In seiner Verbannung ließ er den Kopf nicht hängen, sondern arbeitete hart und mutete sich einiges zu.

Überall sind massive, behauene und glatt geschliffene Felsbrocken zu sehen, die der Junge auf aufrecht stehenden Steinen platziert und ausbalanciert hat, zu losen Pulks gestapelt oder zu Prozessionen aufgereiht. An dieser gewaltigen Stätte, zu der auch ein die Jahreszeiten und die Bewegungen der Himmelskörper anzeigender Sonnenuhrkalender gehört, stehen mehr Steine, als uns-zwei zählen können. Es ist mir unverständlich, warum ich bislang noch nie von diesem Ort gehört habe, warum er nicht so berühmt ist wie Stonehenge. Als ich meine Hand auf einen der Steine lege, spüre ich ein tiefes duum aus ihm aufsteigen, das, aus dem Boden kommend, durch meine Schulter bis hinunter in meine Eingeweide nachdröhnt, und denke, damit eine Antwort auf meine Frage erhalten zu haben.

Dies ist keine archäologische Stätte, an der Grabungen und Forschungen vorgenommen werden. Der Ort ist immer noch bewohnt. Der Junge ist nach wie vor da, und er wird keinen Wert auf uneingeladene Besucher legen. Der Ort ist kein Monument. Er lebt. Jeder Stein ist lebendig, ein fühlendes Wesen – in unserer Weltsicht gilt dies freilich für alle Steine. Weit weg von hier gibt es eine geheime Höhle, auf deren Boden eine Miniaturreplik dieser Stätte nachgebaut ist. Menschen, die wissen, wie man mit den Steinen dort umgeht, können angeblich in der Zeit eines Wimpernschlags zwischen den beiden Stätten hin- und herreisen. Zudem stehen die beiden Orte mit Steinformationen auf dem ganzen Kontinent in Verbindung.

Später, während der Tagundnachtgleiche, stehe ich am Wurdi Youang in Victoria: eine C-förmige Steinformation, die die Bewegung der Sonne im Laufe des Jahres nachzeichnet. Ich schaue von dem hangabwärts liegenden Aussichtsstein zu, wie die Sonne am höchsten Punkt der Formationen hinter einem Zeigerstein untergeht, wie der Mond genau hinter mir aufgeht und sich Venus, Jupiter, Saturn und Mars entlang derselben Achse reihen. Es geht hier nicht nur um den Augenblick, an dem die Himmelskörper eine ordentliche Schlange bilden, sondern auch um Tausende verschiedene Geschichten, die zusammenlaufen, sowie um das Muster, das sie in einem Dialog zwischen Erde und Himmel und mir kreieren. Die Art, in der eine Person diese Geschichten kennt, ist subjektiv – wie sie zu dieser Zeit und an diesem Ort von dieser Person gewusst werden, stellt einen einzigartigen Blickpunkt dar, der heilig ist, eine Kommunikation zwischen dem Erdcamp und dem Himmelscamp, zwischen den Menschen und einem fühlenden Kosmos. Uns-zwei sind beide zugegen, aber wir sehen verschiedene Geschichten.

Die über mir fliegenden Vögel sind in diesem Augenblick Teil des Schöpfungsgesangs. Ein Satellit. Ein Flugzeug. Im Norden zwei Wolken, die sich wie Schlangen in seltsamen Spiralen ringeln. Wir nennen das »Etwas«, ein Zeichen oder eine Botschaft von unseren Ahnen. Ich denke an die Zwei-Schlangen-Geschichte und wo ich sie zum ersten Mal gehört habe, als ich von Gundabooka im Nordwesten von North South Wales an die Küste reiste. Über mir sehe ich Mars und Venus und kenne sie als die Augen des Schöpfers, der in vielen Gebieten im Süden tagsüber durch die Augen des Adlers und nachts durch diese Planeten sieht.

Nahe der Grenze zwischen New South Wales und Queensland werden regelmäßig Zeremonien abgehalten. Dorthin bringen Murris roten Opal aus Quilpie und blauen Opal aus Lightning Ridge, einen aus dem Norden und einen aus dem Süden, um Mars und Venus als Augen des Schöpfers zu vereinen. Daran denke ich und an die Stelle weiter südlich, in der Nähe von Walgett, wo die Adleraugen zwei tiefe Löcher im Fels sind. Ich denke an die totemistische Beziehung, in der meine Frau zum Adler steht, und wie sie diese Verbindung verkörpert. Dieses Netz aus Verbindungen zwischen Gemeinschaften auf der Erde und dem Land im Himmel erweitere ich Zug um Zug. Lebende Felsen gibt es dort oben wie hier unten, und die dunklen Gebiete zwischen den Sternen sind kein Vakuum, sondern festes Land, das Masse besitzt und empfindungsfähig ist und in dem sich Orte und Zeiten auf der Erde widerspiegeln. Ich erkenne das Muster – bis zu dem Moment, da ich es aufzuschreiben versuche und es sich in Rauch auflöst.

Oberflächlich betrachtet ist das alles von geringem Nutzen. Wir können uns sagen: »Seht doch, wir sind schon seit Tausenden von Jahren Astronomen, das heißt, unser Wissen ist etwas wert. Und ihr, ihr Bastarde, habt alles kaputt gemacht.« Aber welches Wissen haben wir sonst noch zu bieten, das in Sachen Nachhaltigkeit und anderen komplexen Fragen erhellend wäre? Juma Fejo sagt, dass in der Schöpfung alles mit der Traumzeit verbunden sei, sogar Scheibenwischer und Mobiltelefone, warum aber sollte dann unser Schöpfungswissen als Artefakt in der Zeit eingefroren werden?

Steine auf der Erde und im Himmel, all diese Geschichten und ihre Verbindungen haben uns mehr mitzuteilen als die bloße Tatsache, dass sie bereits soundso viele Jahrtausende existieren. Sie können uns sagen, wie wir mit den Komplikationen und der Zerbrechlichkeit menschlicher Gesellschaften verfahren sollen, wie wir zerstörerische Exzesse in diesen Systemen eingrenzen und vor allem wie wir mit Idioten umgehen sollen. Um dieses Wissen aufzuspüren, müssen wir praktisch vorgehen. Versuchen wir es vielleicht mit einem Sand Talk und betrachten zunächst eines von Oldman Jumas Symbolen.


Die beiden Symbole innerhalb des Hexagons haben unterschiedliche Bedeutungen, die über ihre heutige mathematische Bedeutung hinausgehen. Getrennt betrachtet, handelt es sich jeweils um ein Zeichen für Beuteltiere (<) und eines für Vögel (>) als verschiedene totemistische Kategorien für Fleisch. Die Zeichen erklären sich aus der Richtung, in der diese Tiere am Knie ihre Beine abwinkeln. Zusammengenommen (<>) stehen sie für die beiden einzigen auf dem Kontinent heimischen Plazentatiere, Menschen und Dingos. Sie ergeben eine Form, die die Heiratsregeln in einem Verwandtschaftssystem aufzeigt; aus einem anderen Winkel gesehen, können sie als Zeichen für die Angelegenheiten der Männer gelesen werden. Sie zeigen zudem einen Einschlagpunkt, einen Schöpfungsmoment im Zusammenhang mit dem Sternbild des Orion (der immer und überall auf der Welt ein Jäger oder Krieger ist), einen Urknall, der aus einem Kampf zwischen dem Ameisenigel und der Schildkröte hervorgegangen war. Das traumatische Ereignis führte dazu, dass sich das Erdcamp und das Himmelscamp trennten und das Universum sich in tiefen Zyklen auszudehnen und wieder zusammenzuziehen begann wie ein Atmen und in einem Muster, das allem Gestalt gab.

Das Muster des Urknalls, dieses anfänglichen Einschlagpunkts, tritt nicht nur in der gewaltigen Größenordnung des Universums auf, sondern wiederholt sich unendlich in all dessen Ländern und Teilen. Auf diesen Einschlagpunkt, der häufig mit einem Stein im Zentrum von Ort und Geschichte bezeichnet wird, beziehen sich zahlreiche Schöpfungsgeschichten. Uluru ist der Stein im Zentrum der diesem Kontinent innewohnenden Geschichte, ein Muster, das sich in den miteinander verknüpften und unterschiedlichen Geschichten vieler kleinerer Gebiete wiederholt, sich in unseren Körpern am Nabel und dann in immer kleineren Teilen bis hinunter auf die Quantenebene unserer Kosmologie reflektiert findet. In dieser Form des Wissens gibt es keinen Unterschied zwischen einem selbst, einem Stein, einem Baum oder einer Verkehrsampel. All diese Elemente enthalten Wissen, Erzählung, Muster. Wenn wir uns auf diese Erzählung einlassen, wenn wir das Muster erkennen wollen, müssen wir uns zunächst der Untersuchung von Gesteinen widmen.

Die Aussage »Granit ist ein kristalliner, aus Quarz, Glimmer und Feldspat bestehender Mix magmatischen Ursprungs« wäre dabei kaum hilfreich. Ebenso wenig hilfreich wäre es, mit einem Batikhemd angetan, Felsen zu umarmen und sie zu bitten, ihre Geheimnisse auszuplaudern, indem sie mit uns über unsere Bauchnabelpiercings kommunizieren. Man muss schon Geduld und Respekt aufbringen, sich nicht frontal annähern, eine Weile dasitzen und warten, dass man eingeladen wird. Bevor wir uns also den Angelegenheiten der Steine zuwenden und den Fragen, wem das Wissen über sie gestattet ist und wie dieses Wissen uns heute das Überleben sichern könnte, sollten wir uns vielleicht zu einem weiteren Sand Talk einfinden:

Ich habe viel Zeit damit verbracht, immer wieder das Vogel-Beuteltier-Symbol zu zeichnen, habe mich mit anderen darüber unterhalten und schließlich eine Steinaxt angefertigt, um meine Einsichten festzuhalten. Ein Jahr habe ich gebraucht. Es hat deshalb so lange gedauert, weil ich immer wieder auf die beiden Arten von Beinen zurückgekommen bin, die in meinem Kopf das Bild von Emu und Känguru ergaben, immer wieder von Neuem – als ein Traumzeitbild, aber auch als Australiens Wappen. Die Siedler müssen seine Bedeutung erkannt haben, als sie es als Symbol für ihre Kolonie übernahmen. Ich habe so meine Probleme mit Emu, mit seiner Rolle in der Schöpfung und den daraus entspringenden Verhaltensmustern, die der Menschengesellschaft und im Weiteren der ganzen Schöpfung Probleme bereiten.

Emus Problem zeigt sich in der mathematischen »Größer als, kleiner als«-Interpretation des Symbols. Emu ist ein Unruhestifter, der die denkbar zerstörerischste Vorstellung in die Welt gebracht hat: »Ich bin besser als du; du bist weniger wert als ich.« Das ist der Ursprung allen menschlichen Elends. Über Tausende von Jahren hat sich die Aborigines-Gesellschaft bemüht, mit diesem Problem fertigzuwerden. Manche Menschen sind einfach Idioten – und jeder ist mal für eine Zeit lang ein kleiner Idiot, wenn etwas von tief innen kommt und flüstert: »Du bist was Besonderes. Du bist besser als die anderen Menschen und was noch um dich herum ist. Du bist wichtiger als alles andere und alle anderen. Du kannst über alles, was es gibt, und alle anderen Menschen verfügen.« Dieses Verhalten muss kontrolliert und gezügelt werden, um den Schaden, den es verursachen mag, einzudämmen.

Es gibt eine Menge Geschichten, die erklären, wie das Ganze seinen Anfang nahm, und als ein Brolga-Junge (traditionell ein Feind von Emu) kenne ich sie alle. Meine Lieblingsgeschichte stammt von dem Nyoongar-Ältesten Noel Nannup aus Perth. Er erzählt die Traumzeitgeschichte einer Zusammenkunft, bei der sich alle Spezies zu einem Yarn niederließen, um zu entscheiden, welches Tier zum Hüter über die gesamte Schöpfung ernannt werden sollte. Emu veranstaltete ein riesiges Tohuwabohu, rannte durch die Gegend, um mit seiner Schnelligkeit anzugeben und seine Vorrangstellung einzufordern, er beanspruchte, der Boss zu sein, und schrie alle anderen nieder. Die dunkle Gestalt von Emu ist in der Milchstraße zu sehen. Känguru, dessen Kopf das Kreuz des Südens ist, hält ihn nieder, Echidna packt von hinten zu, und die große Schlange hat sich um seine Beine geringelt. Nur in der Gruppe gelingt es, die Exzesse bösartigen Narzissmus zu zügeln.

 

Heute bedeutet die Kombination aus sozialer Fragmentierung und blitzschneller Kommunikation, dass wir allein, als Individuen, mit diesen verrückten Menschen umzugehen haben, uns in einem rechtsfreien Leerraum mit diesen Narzissten herumschlagen müssen. Und sie gedeihen in solchen Umgebungen ungezügelt. Sich allein mit ihnen auseinanderzusetzen, ist vergeblich: Versuche nie, mit einem Schwein zu ringen, besagt ein altes Sprichwort, denn am Schluss seid ihr beide besudelt, aber das Schwein fühlt sich wohl dabei. Für Narzissten gelten die grundlegenden Regeln des zwischenmenschlichen Handelns nicht, obwohl sie sie gegen alle anderen ausspielen.

Wie in den meisten Gesellschaften gehören auch in der Aborigines-Gesellschaft Respekt und das Anhören aller Standpunkte während eines Yarn zu den grundlegenden Verhaltensregeln. Narzissten fordern dieses Recht ein, erlauben aber keine anderen Standpunkte mit der Begründung, dass jede abweichende Meinung irgendwie gegen ihre Redefreiheit verstoße oder beleidigend sei. Sie zerstören die grundlegenden auf Wechselseitigkeit beruhenden gesellschaftlichen Vereinbarungen (die es ermöglichen, ein auf der Großzügigkeit des Miteinander-Teilens beruhendes Ansehen zu gewinnen, um sich anhaltender Verbundenheit und Unterstützung zu versichern), indem sie diese der Harmonie geltenden Rahmenbedingungen mit wenigen Worten hässlichen Geredes zertrümmern. Sie pflegen eine Doppelmoral und reißen Systeme des Gebens und Nehmens so lange ein, bis alle Angehörigen einer sozialen Gruppe nur noch isoliert sind und sich in darwinistischen Kämpfen nach Macht und schrumpfenden Ressourcen aufreiben, die alles zerstören. Dann gehen sie an den nächsten Ort, zur nächsten Gruppe. Es dürfte nicht schwerfallen, dieses Muster auf globale und historische Verhältnisse zu übertragen.

Wir besitzen Geschichten über dieses Verhalten, Gedenksteine, die in der Landschaft entlang der Traumpfade verstreut sind, Opfer und Missetäter, nach epischen Kämpfen in Steine verwandelt, die nun für alle Zeiten als warnende Legenden dienen. Clancy McKellar brachte mich an eine Stelle, wo drei Brüder, die Frauen entführt hatten, bestraft und in Steine verwandelt worden waren. Die überall in Tibooburra stehenden roten Felsen sind Menschen, die in Steine verwandelt wurden, weil sie das Gesetz gebrochen oder mit Ritualen zur Wetterbeeinflussung zu viel Chaos angerichtet hatten. In den Steinen ist Gesetz und Wissen über das Gesetz. Jeder Gesetzesbruch rührt aus diesem ersten bösen Gedanken, aus der Ursünde, sich über das Land und über andere Menschen zu stellen.

In unseren traditionellen Gesetzessystemen bedenken wir jedoch, dass von Zeit zu Zeit jeder einmal ein Idiot ist. Die Bestrafung ist hart und erfolgt umgehend, aber danach gibt es kein Strafregister, keinen Groll gegen den Missetäter. Gesetzesübertreter sind nur Kriminelle, solange sie nicht bestraft sind; danach können sie wieder Respekt erlangen und von Neuem beginnen, zum Wohl der Gruppe beizutragen. So wird verhindert, dass die Menschen lügen oder die Schuld anderen zuschieben oder der Bestrafung zu entgehen versuchen, indem sie die Regeln verdrehen, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Sie dürfen einen Neuanfang erwarten und sind deshalb bereitwillige und gleichberechtigte Teilnehmer ihrer eigenen Bestrafung und Verwandlung, die vor allem ein Lernprozess ist.

Vielleicht ist dies ein Aspekt, der sich lohnt, aus unseren Stein-Geschichten übernommen zu werden, um heutige Justizsysteme effektiver und nachhaltiger zu machen. Jene alten, über das ganze Land verteilten und in Steinen verewigten Kriminellen sind keine verwerflichen Figuren, sondern respektierte Wesen, die ihre Bestrafung erhalten haben und nun in ihrer Rolle als Gesetzeshüter verehrt werden. Wenn wir sie respektieren und ihre Geschichten anhören, haben sie uns einiges über das Wie eines besseren Zusammenlebens zu sagen.

Wirklich viel aber weiß ich nicht über Felsen. Ich fühle mich eher in der offenen Savanne und den trockenen Hartlaubwäldern zu Hause, und mein Geschichtsort (Story Place) besitzt nur einen einzigen Stein, der sich nach eigenem Gutdünken bewegt und sich bei jedem Besuch an einer anderen Stelle befindet. Er kam, von einem Zyklon hierher verfrachtet, aus Asien und ist nie so richtig zur Ruhe gekommen; er lebt nicht das langsame Leben anderer Steine. Ich muss mich also mit jemanden austauschen, der wirklich versteht, wie Steine funktionieren. Wie üblich finde ich das einsichtigste Wissen in den randständigsten Betrachtungsweisen. Ich spreche mit einem jungen tasmanischen Aborigine-Jungen namens Max.

Max hat silbriges weißes Haar und alabasterfarbene Haut. Er sieht aus und spricht, als wolle er anstelle eines australischen Arbeitspferds einen Drachen reiten. Er ist ein echter Nerd, der einfach so Hunderte Nachkommastellen von Pi auswendig lernt, glaubt, seine Kampfkünste seien besser, als sie es wirklich sind, und ein enzyklopädisches Wissen über Elfen, Hobbits und Superhelden mit sich herumträgt. Zudem schreibt er Lieder in der Sprache seiner Vorfahren, die mich zum Weinen bringen.

Wir haben viel Zeit damit verbracht, uns im traditionellen Kämpfen zu üben, das früher mit Steinmessern ausgetragen wurde. Die Regeln sind so, dass man seinem Gegner nur an den Armen, Schultern oder am Rücken (sehr schwierig) Schnitte zufügen darf – und der Clou des Ganzen: Wenn der Kampf zu Ende ist, müssen dem Gewinner die gleichen Schnitte zugefügt werden wie dem Verlierer, sodass keiner der beiden mit einem Groll aus der Kampfbahn geht. Es ist schon äußerst schwierig, seinem Gegner in den Rücken zu schneiden, wenn er dir das Gleiche antun will, aber noch schwieriger ist es, wenn man weiß, dass man bei jedem Schnitt, den man ihm zufügt, sich letztlich selbst schneidet. In den Yarns, die solchen Übungsrunden folgten, sind wir uns einig geworden, dass diese Art der Auseinandersetzung einen zwingt, sich in den Widersacher hineinzuversetzen, und es am Ende unmöglich ist, sich als Gegner zu betrachten, weil man durch gegenseitigen Respekt und wechselseitiges Verständnis miteinander verbunden ist. Weitere Lektionen, die einem die Steine erteilen – aber wie sie heute in die Praxis umsetzen? Klingt doch ganz nach einer guten Gelegenheit, ein Gedankenexperiment durchzuführen.

Ich denke, wenn man sich eine aktuelle, auf permanenten Krieg ausgerichtete Wirtschaftsweise vornehmen und versuchen wollte, sie nachhaltig zu gestalten, könnte man ähnliche Wettkampfregeln anwenden. In dem Steinmesser-Modell allerdings sind die Feinde keine erneuerbare Ressource, und irgendwann würde es keine mehr geben. Für die Kriegsmaschine wäre es deshalb alles andere als nachhaltig, würden sich alle Seiten in ihren Betrachtungsweisen gegenseitig respektieren. Die übertragbare Weisheit besteht hier wohl einfach darin, dass die meisten jungen Männer, um den schrecklichen Narzissmus zu beschneiden, der sie überfällt, wenn ihre Schamhaare zu sprießen beginnen, etwas Herzhafteres als Achtsamkeitskurse benötigen. Vielleicht würden sie dann gar nicht in die Verlegenheit kommen, zu Männern heranzuwachsen, die Kriege anzetteln.

Dies bringt uns zurück auf den Grundfehler, auf die luziferische Lüge: »Ich bin besser als du; du bist schlechter als ich«. Weil sein Aussehen nicht der Vorstellung entspricht, die manche Leute mit seiner kulturellen Identität verbinden, ist Max täglich mit auf diesem Denkfehler beruhenden Beleidigungen konfrontiert. Aufgrund dieses grundsätzlichen Mankos wird seine Identität sowohl von Aborigines als auch von Nichtaborigines angezweifelt; sie stellen sich selbst in eine Besser- als-Position und ziehen aus der Beurteilung seiner Existenz einen kleinen Kick. Max macht sich Gedanken über diese Begegnungen und kommt meist zu dem Schluss, dass diesen Leuten eine eigene authentische Identität fehlt und sie deshalb Trost darin finden, die seine anzugreifen.