Mara und der Feuerbringer

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In dieser Sekunde stieg Willi so brutal auf die Bremse, dass Mara von dem Gurt die Luft wegblieb!



Die Bremsen quietschten, und sie spürte gleichzeitig, wie das Gewicht des Anhängers den Truck nach vorne und zur Seite schob! Würden sie umkippen? Nein, Willi war ein routinierter Trucker und hatte das riesige Gefährt sofort wieder unter Kontrolle. Dann kam der Laster endlich zum Stillstand, und Mara schaute erschrocken hinüber zu Willi. Der sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen.



»Hallo?«, fragte Mara vorsichtig, aber Willi reagierte nicht. Er sah nur nach vorne und blinzelte nicht einmal.



»Mara! Da!«, rief der Professor und deutete schräg nach unten auf die Straße. Mara folgte seinem Zeigefinger und sah: Ratatösk.



Das kleine rote Eichhörnchen saß mitten auf der Straße. In den putzigen Krallen hielt es den Stab, und nach wie vor war der Delfin oben befestigt.



»Was will es?«, flüsterte Mara. Obwohl sie oben im Führerhaus des LKWs saßen, war ihr irgendwie mulmig zumute.








»Keine Ahnung«, gab der Professor zurück. »Aber es sieht wütend aus, findest du nicht?«



Da meldete sich Willi zu Wort. »Warum geht das Tier nicht weg? Und warum hat es ein Stück Holz?«



Bevor irgendwer was antworten konnte, griff Willi zur großen Drucklufthupe und zog. Ein lautes dröhnendes Tuten ertönte. Das Eichhörnchen rührte sich nicht.



»Wer das Gjallarhorn gewöhnt ist, dürfte sich kaum vor einer Lastwagenhupe fürchten«, murmelte der Professor.



»Gibt’s doch nicht.« Willi schüttelte erstaunt den Kopf und drückte dann auf den Fensterheber.



»Moment!«, entfuhr es Mara erschrocken, die genau wusste, wie schnell Ratatösk in Willis Haaren stecken würde, wenn es nur wollte. Doch Willi hatte schon seinen Kopf aus dem Fenster geschoben und machte: »Ksch! Ksch! Gehste weg! Ja, gehst du weg!«



Er wartete einen Moment, aber nichts passierte. Willi zog seinen Kopf wieder zurück und setzte sich gerade hin. Dann zuckte er mit den Schultern. »Dann halt nicht«, sagte er und startete den Motor.



»Sie wollen doch nicht …«, rief Mara erschrocken und wunderte sich im selben Moment, warum ihr das jetzt gegen den Strich ging. Das da vorne war Ratatösk, verdammt noch mal! Ihr Feind! Und er hatte ihren Stab, verdammt! Eine Stimme in Mara schrie: »Fahr’s platt!« Eine andere, zaghaftere Stimme flüsterte jedoch gleichzeitig irgendwas von »Puschelschwänzchen« und »Knopfaugi« und war trotz der Flüsterei irgendwie viel, viel lauter. Warum musste es auch ausgerechnet ein Eichhörnchen sein!



Der Professor sagte gar nichts, aber seine linke Hand suchte Halt an einem Griff über der Tür. Auf was, bitte, bereitete er sich denn vor?



»So. Wird spät, ich muss los«, sagte Willi trocken und löste die Handbremse. Er startete den mächtigen Motor der Zugmaschine, und Mara spürte die Vibration im ganzen Körper. Sie bemerkte, wie die beiden Raben freudig erregt mit den Flügeln schlugen und ertappte sich kurz dabei, sie voll gemein zu finden.



Willi ließ den LKW einen drohenden Ruck vollführen, aber Ratatösk zuckte nicht mal.



»Das gibt es doch nicht«, brummte der massige Mann und schickte sich nun tatsächlich an, das kleine Tier zu überrollen.



»Nein!«, schrie Mara und fasste Willi an den Arm. Das war nicht richtig! Egal, was das Mistviech getan oder vorgehabt hatte zu tun, das war falsch!



Und da kam plötzlich Bewegung in das Eichhörnchen. Es hob den Stab hoch über den kleinen Kopf. Mara und der Professor duckten sich instinktiv. Die Knopfaugen funkelten wütend. Der Motor röhrte ein weiteres Mal auf …



… und Ratatösk warf Maras Stab wütend vor sich auf die Straße. Dann machte es eine uneichhörnchenhafte Bewegung, die sie alle hochgradig erstaunte, und war dann so schnell verschwunden, als hätte es jemand weggebeamt. Nur das raschelnde Gebüsch am Straßenrand verriet, dass hier gerade ein kleines Tier durchgeschlüpft war.



Eine ganze Weile war es still im Truck. Dann schaltete Willi den Motor wieder aus. Erst nach einer weiteren langen Pause drehte er sich zu Mara und dem Professor und sagte dann mit lahmer Stimme: »Hat dieses Tier gerade wirklich das gemacht, was ich glaube, dass es das gemacht hat?«



Mara nickte, und der Professor tat es ihr gleich.



»Und ich hab mir das nicht nur eingebildet, es hat damit tatsächlich mich gemeint?«



Wieder nickten die beiden. Es hatte eindeutig Willi angesehen.



Dann war es wieder still. Willi überlegte.



»Also bin ich nicht verrückt, wenn ich jetzt sage, dass da gerade ein Eichhörnchen mit seinen kleinen ausgestreckten Fingerchen erst auf seine eigenen Augen und dann auf meine gedeutet hat, als wäre es Robert De Niro, der sagen will: ›Ich

sehe

 dich, Mann.‹?«



»Nein, ich finde, das haben Sie sehr treffend beschrieben, Willi«, antwortete der Professor. »Willst du nicht deinen Stab holen, Mara?«



Mara nickte. Der Professor öffnete die Beifahrertür, löste seinen Gurt und stieg aus. Mara kletterte hinter ihm aus dem Führerhaus und ging um den Kotflügel des Wagens herum. Kaum zu glauben, aber hier lag ihr Stab, scheinbar unversehrt. Sie hob ihn hoch und spürte sofort die vertraute Kälte.



»Ob das vielleicht so was wie eine Falle ist?«, fragte sie, als sie zum Professor trat und dabei den Stab nicht aus den Augen ließ.



»Keine Ahnung. Aber ich glaube, ehrlich gesagt, dass Ratatösk einfach nur sauer war, dass der Stab wider Erwarten keine eigene Kraft hat und der Delfin auch bereits ausgelaugt ist.«



»Sie meinen, das Mistviech dachte die ganze Zeit über, es wären der Stab und der Delfin, die mir meine Kräfte verleihen?«



Der Professor nickte. »Nun, das wäre doch eine gute Erklärung, warum es hinter beidem so hartnäckig her war, oder?«



Mara versuchte, sich an die Situationen zu erinnern, in denen ihnen Ratatösk begegnet war, und es war tatsächlich so, wie der Professor gesagt hatte: Das Puschelmonster war immer nur an dem Stab und dem Delfin interessiert gewesen und nicht an Mara. Gut, ihre Haare mal ausgenommen, aber das war wohl so eine Mischung aus Wut, Boshaftigkeit und Spieltrieb gewesen …



»Ja, da haben Sie vielleicht wirklich recht«, überlegte Mara und kletterte mit dem Stab wieder ins Führerhaus. Dort saß immer noch Willi und schaute auf die Stelle, wo vor einer Minute noch ein Eichhörnchen seinem Truck getrotzt und ihn danach recht eindrucksvoll bedroht hatte.



»Es hat

so

 gemacht …«, wisperte Willi ungläubig und machte die Geste dabei ein paar Mal fahrig nach. »Das Eichhörnchen hat

so

 gemacht. Ich hab’s gesehen. Ich dreh durch.«



»Ach bitte, tun Sie das nicht, Willi. Das ist nicht gut für Ihren und erst recht nicht für unseren Zeitplan«, ließ sich der Professor vernehmen, als er hinter Mara ins Führerhaus stieg. »Wir können Ihnen das gerne alles erklären, wenn Sie wollen. Aber danach müssten wir sie leider erschießen.«



Willis Gesichtszüge entgleisten, als wären hier die Schienen zu Ende. Mara sah den Professor vorwurfsvoll an, und der winkte seufzend ab. »Gut, das war vielleicht jetzt nicht der allergeschmackvollste Scherz, aber ich versichere Ihnen, es war trotzdem einer.«



Es dauerte eine lange Sekunde, bis sich Willi ein »Witzig« abrang.



»Danke«, antwortete der Professor der Höflichkeit halber.



»Ähm, wollen wir vielleicht weiterfahren?«, schlug Mara etwas hilflos vor. »Wir könnten uns ja während der Fahrt auch noch weiterwundern … oder so.«



»Von wegen!«, rief Willi jetzt ganz aufgebracht. »Entweder ihr erzählt mir jetzt, was hier los ist, oder ihr steigt sofort aus! Irgendwas läuft hier ganz komisch, und ich kann es gar nicht leiden, wenn mich jemand verscheißert, und warum schaut mich der eine Rabe so komisch an?«



»

gleymið

«, sagte Munin, und Willi wurde still.







Kapitel 7










Willi fuhr die beiden sogar bis vor die Tür des Museums in Kalkriese. Sie bedankten sich artig und winkten dem netten Trucker noch hinterher. Der ließ noch einmal fröhlich die trötende Hupe erschallen, und dann war Willi mitsamt seinem riesigen Lastzug verschwunden.



»Nun, Munin, ich denke, da können wir uns nur bedanken«, sagte der Professor und schaute zu Mara.



Die nickte. »Ja, danke. Das war schon alles ein bisschen wenig schlau von mir, und es ist auf jeden Fall besser, wenn er sich jetzt an nix mehr erinnert. Aber ich wollte doch nur versuchen, ob wir irgendwie reden können ohne …«



»Ohne etwas zu sagen?«, beendete der Professor ihre Erklärung amüsiert und Mara musste grinsen. Im Nachhinein kam sie sich wirklich ziemlich blöd vor. »Aber wir konnten doch auch nix dafür, dass das verdammte Puschelmonster plötzlich auf der Autobahn steht.«



»Nicht direkt, nein«, lachte der Professor. »Auf jeden Fall ist mir jetzt klar, dass du, Munin, deinen Namen völlig zu Recht trägst.«



»Was heute Hugin, ist morgen Munin«, entgegnete der Rabe und neigte seinen Kopf.



Mara war überrascht, dass sie auch mal ein Rätsel verstand, ohne dass es ihr der Professor erklären musste. Hugin hieß so viel wie »Gedanke« und Munin war die »Erinnerung«. Also bedeutete der Satz des Raben: Der Gedanke von heute ist die Erinnerung von morgen.



»Wo er recht hat …«, begann der Professor und wendete sich dann an die beiden Raben. »Es ist zwar ebenso logisch wie verrückt, dass ein Vogel namens

Erinnerung

 selbige auch nehmen kann. Aber ich frage mich nun doch, was ihr noch so draufhabt.«

 



Die Antwort der Raben bestand aus einem stummen Blick.



Mara musterte die beiden Vögel. Ob sie auch nur geliehene magische Kräfte hatten, so wie sie selbst? Nein, gab sie sich selbst die Antwort. Dies waren Odins Raben, und der hatte sicher Besseres zu tun gehabt, als alle paar Tage für seine Vögel Tankstelle zu spielen.



»Nun ja, eine Aufzählung hätte mich jetzt auch gewundert«, murmelte der Professor und zuckte mit den Achseln. »Wie sieht’s aus, Mara Lorbeer? Wollen wir mal schauen, ob unser Gepäck noch da ist?«



»Viel wichtiger ist mir, ob da immer noch Wäsche zum Wechseln drin ist«, erwiderte Mara, die sich schon seit Stunden so verpappt und zerdrückt vorkam wie ein Klebestift im Kindergarten.



Wenige Minuten später standen sie auch schon vor der Sicherheitstür des Gebäudes, das die Restaurationsabteilung und die Büros des Museums beinhaltete. Dort hatten sie gestern ihre Koffer zurückgelassen. Der Professor wollte gerade den Finger nach der Klingel ausstrecken, als sie beide erschrocken zusammenfuhren.



»Wo. Ist. Mein. Auto?«



Mara und der Professor drehten sich um und blickten in die furiosen Augen von Stefanie Warnatzsch-Abra. Die Exfrau von Professor Weissinger sah aus, als würde sie jeden Moment spontan explodieren, und als könnte nur eine ehrliche Antwort sie davon abhalten.



»Du bist aber früh hier«, antwortete der Professor ungerührt und lächelte dazu unschuldig.



»Ich bin nicht

früh

 hier, du Scherzartikel, sondern

lange

!«, entgegnete Steffi scharf. »Denn als ich irgendwann gegen drei Uhr endlich aus dem Büro kam,

stand mein Auto nicht mehr auf dem Parkplatz



»Geklaut? Ach du liebe Zeit, aber wer sollte denn ausgerechnet hier …«, wollte der Professor gerade loslügen, aber er wurde sofort unterbrochen.



»Du«, sagte Steffi. »Du und dieses wunderliche Mädchen.«



Wunderlich? Na toll, vielen Dank. Genau das wollte ich nie sein. Hab ich also doch was geerbt von meiner Mama, dachte Mara und verdrehte die Augen.



»Du brauchst gar nicht so zu gucken, als würdest du um Beistand von Oben bitten, junge Dame!«, schimpfte Steffi weiter. »Der hilft euch jetzt auch nicht! Los, raus damit. Wer sonst weiß, wo ich seit Jahr und Tag meinen Ersatzschlüssel versteckt habe?!«



»Dein amtierender Ehemann vielleicht?«, entgegnete Professor Weissinger lahm.



Steffi lächelte ihn kalt an. »Eloquent pariert, Herr Professor. Aber ich wüsste nicht, warum der extra seine Studien in

Norwegen

 abbrechen sollte,

um mal eben mein Auto den Teutberg runterzuschubsen



Diese Antwort ließ sogar Professor Weissinger kurz die Balance verlieren, und er brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten. Auch Mara war erstaunt. Woher wusste sie …



Stefanie Warnatzsch-Abra war anzusehen, dass sie diesen Moment genoss: »Da fragt ihr euch jetzt, wie ich das wissen kann, nicht wahr? Nun, die Antwort ist denkbar simpel. Ich habe gestern Nacht direkt das Auto als gestohlen gemeldet und siehe da, eben gerade bekam ich einen Anruf, dass man es gefunden hat: bei Detmold, zwischen ein paar Bäumen am Hang des Teutbergs! Der Polizist am Telefon ist wohl ebenso ein Witzezäpfchen wie du, Reinhold, denn er sagte, er hätte nur am Nummernschild erkannt, dass es sich bei dem Haufen um ein

Auto

 handelt. Hahaha!«








Gott sei Dank war Mara nicht zum Lachen zumute. Ihr war das Ganze einfach nur fürchterlich unangenehm. Denn schließlich hatte Steffi ja einfach nur recht!



Inzwischen hatte der Professor allerdings genug Zeit gehabt, um sich einigermaßen zu sammeln. Er hob beschwichtigend die Hände. »Hohoho, nun mal langsam, verehrte Frau Professor. Das heißt doch noch lange nicht, dass

wir

 …«



Steffi nickte. »Zugegeben, ich kann es nicht beweisen. Aber hier sind die erdrückenden Indizien: Ihr musstet gestern von hier verschwinden. Zu Fuß ist so gut wie sinnlos, gestern fuhr aber auch kein Bus mehr, und der Mann vom Taxifunk in Bramsche hat gestern Abend niemanden hier abgeholt, jadahabichangerufenunterbrichmichnicht. Du kennst mein Auto, du weißt, wo der Ersatzschlüssel ist, und ihr hattet es eilig. Trotzdem habt ihr euer Gepäck hiergelassen, somit hattet ihr vor zurückzukommen! Also?«



Wow, die hat’s ja ganz schön drauf, dachte Mara. Nicht schlecht. Vielleicht muss man so was als Archäologin aber auch können, wenn man nach der Buddelei die Funde deuten soll.



Aber Steffi war noch nicht fertig. Sie deutete auf Maras Stab. »Und jetzt will ich zwei Dinge: erstens den Delfin wieder zurück, und zweitens eine ehrliche Antwort auf die Frage: WARUM!«



Bevor der Professor wieder dagegenhalten konnte, hatte Mara den kleinen Bronzedelfin vom Stab gezogen. Sie reichte ihn Steffi, und ihre Stimme klang belegt. »Hier. Vielen Dank, der hat uns letzte Nacht das Leben gerettet. Von außen sieht er genauso aus wie gestern, also können sie ihn jetzt wieder in die Vitrine legen.«



Steffi nahm das kleine Kunstwerk und sah Mara nachdenklich an. »Komisch. Gerade eben noch wollte ich unbedingt wissen, was ihr da mitten in der Nacht in Detmold zu suchen hattet … und jetzt fühlt es sich so an, als sollte es mir unbedingt egal sein.«



»Ich kann nur so viel sagen«, meldete sich der Professor zu Wort. »Es ist besser für dich, wenn du nichts weißt.«



»Reinhold, ich bin wie du. Ich hasse es, etwas nicht zu wissen. Erst recht dann, wenn ich etwas besser nicht wissen sollte. Also raus mit der Sprache. Und wehe, die Antwort gefällt mir nicht, dann werd ich richtig sauer, und du als mein Herr Ex weißt, was das bedeutet. Also?« Und dabei sah sie Mara durchdringend an.



»Ähm … gleymið«, antwortete Mara und erreichte damit nichts als einen fragenden Blick. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie die beiden Raben mitleidig den Kopf schüttelten.



Alles klar. Ich kann grad gar nix außer dem üblichen Seherinnenmist, dachte Mara frustriert. Na, ganz toll, Hauptsache, ich bin das coole Fass, das man so spitzenmäßig mit Götterkräften füllen kann. Wenn nur mal welche da wären. Echt spitze!



Am liebsten hätte sie Steffi einfach alles erzählt, aber das würde nicht anders laufen als ihr erstes Treffen mit Professor Weissinger. Und der hatte ihr ja auch erst geglaubt, als … hm.



Sie sah wieder zu den Raben hinüber, dann zum Professor, und in ihrem Kopf entstand so etwas Ähnliches wie ein Plan.



»Liebe Steffi, so leid es mir tut, ich kann dir leider wirklich nicht sagen, warum das alles passiert ist«, erklärte der Professor gerade.



»Wieso? Meinst du, ich bin zu dumm, es zu verstehen?«, schnappte Steffi.



»Aber nein, nein, ganz im Gegenteil! Ich würde sogar sagen, du bist viel zu intelligent und würdest darum tausend und einen Grund finden, warum das alles Quatsch ist, was wir erzählen! Trotzdem ist es nichts als die Wahrheit.« Dem Professor war anzusehen, dass er nicht weiterwusste. Der höchst reale Fakt des kaputten Autos passte nun mal überhaupt nicht zu dem ganzen irrealen Götterwahnsinn.



»Wie sagt der Engländer so schön:

Try me

«, erwiderte die Archäologin und sah den Professor herausfordernd an.



Der blickte zu Mara, und sie nickte nur. Wenn Hugin und Munin ein Problem darin sahen, dass die Exfrau des Professors eingeweiht war, würden sie auch ihre Erinnerung löschen, wie sie das bei Willi getan hatten. Da war sich Mara sicher.



Inzwischen hatte sie sowieso das komische Gefühl, dass die beiden Vögel eine ziemlich gute Vorstellung davon hatten, was wie zu passieren hatte. Oder zumindest, was auf keinen Fall passieren durfte. Gerne hätte sie die beiden sofort zur Rede gestellt, aber erstens war jetzt nicht der geeignete Moment für eine Unterredung zwischen ihr und zwei sprechenden Vögeln, und zweitens würden die eh wieder in grenznervigen Rätseln sprechen. Darauf hatte sie schon unter normalen Umständen keinen Bock.



Da musste Mara einmal kurz trocken in sich hineinlachen. Normale Umstände? Was war bitte

normal

 an einer Diskussion mit zwei mythologisch reimenden Raben?



Der Professor atmete einmal entschlossen durch, und sein Blick wurde sanft. »Also gut, Steffi. Wo können wir bequemer reden als hier vor der Tür?«



»Hier vor der Tür«, antwortete die Professorin trocken. »Ich würde es nur vorziehen, wenn es jetzt passiert und nicht erst, wenn wir alle in Walhalla hocken.«



Professor Weissinger seufzte. »Oder in der Hel, nun gut. Mara, willst du, oder soll ich?«



»Ich will«, sagte Mara und schickte eine stumme Frage zu den beiden Raben. Die gaben ihr ebenso stumm die Antwort, die sie sich erhofft hatte, und Mara streckte die Hand nach Steffis Schulter aus.



»Um Gottes willen, nicht SO!«, rief der Professor, aber er war zu langsam.







Kapitel 8










Ein Becher schlug direkt neben Mara auf, und Bier spritzte in alle Richtungen. Der Raum war erfüllt von Gelächter, Gesang und Geschrei. Und von Wikingern.



Sofort zog Mara Steffi hinter eine dicke Holzsäule und hob trotz des Lärms die Finger an die Lippen. Aber Steffi war im Moment eh nicht in der Stimmung für ein Schwätzchen. Ihr Hirn wurde gerade via Augen und Ohren mit Eindrücken geflutet, die es zu verarbeiten galt.



Mara ging es, ehrlich gesagt, nicht so viel anders. Sie hätte unmöglich sagen können, wie viele Menschen tatsächlich in dieser Halle waren. Hunderte? Tausende? Außerdem hatte sie noch nie eine Halle dieser Größe gesehen. Ach was, das war keine Halle, das war ein überdachter Landkreis! Okay, es gab Wände, es gab Säulen, und es gab ein Dach … aber allein die unzähligen riesigen Türen, durch die man Willis Truck hätte quer durchschieben können … dieser Ort widersetzte sich ganz einfach jeder Beschreibung.



Mara suchte nach einem Vergleich, der ihr half, das Ganze für sich selbst zu erfassen, und das Beste, was ihr einfiel, war: hölzernes Oktoberfestzelt von der Größe einer Großstadt. Mit Wikingern drin. Dafür ohne Blasmusik.



Als hätte jemand ihre Gedanken gelesen, dröhnte in dem Moment ein Geräusch los, das sich nur deswegen in den Themenkreis »Musik« einordnen ließ, weil zu dem scheppernden Getröte auch Trommeln geschlagen wurden. Die Tausendschaften von Wikingern grölten los, wer noch stehen konnte, erhob sich, und wer das nicht mehr konnte, erhob sich trotzdem, stand aber nicht lang. Dazu wurden Trinkhörner und Becher erhoben, und ein Wort gebrüllt. Immer und immer wieder.



Mara hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, so laut war das Gebrüll. Aber gleichzeitig hätte sie zu gerne verstanden, was die Saufkumpane da eigentlich in die Halle schrien.



Da krallten sich Steffis Finger in Maras Arm, und sie zeigte zitternd in den Tumult. Mara folgte ihrem Blick und sah, wie sich die Menge respektvoll teilte, um jemanden durchzulassen. Sie erkannte einen großen Mann mit schneeweißem Bart, der langsam auf einen der Plätze mitten unter den Leuten zuschritt. Er trug einen großen grauen Schlapphut und ein ebensolches, wallendes Gewand. Ein einfacher Gürtel mit einem Schwert raffte den Stoff um die Hüfte, und auch ansonsten machte seine Aufmachung nicht den Eindruck einer sonderlich wichtigen Person. Das war auch gar nicht nötig, denn von diesem Mann ging eine dermaßen gleißende Kraft aus, dass Mara im ersten Moment dachte, es würde sie blenden. Doch als sich ihr seherischer Blick darauf eingestellt hatte, wurde es nicht nur erträglich, sondern sogar irgendwie … wärmend.



»D… der sieht aus wie … das ist …«, stotterte Steffi leise.



»Gandalf«, vollendete Mara den Satz, denn das wusste sie ja nun bereits. Zu dem einen Unterschied, der Augenklappe, hatten sich nun auch noch zwei andere Unterschiede gesellt: Odin wurde begleitet von zwei Wölfen.



»Odin! Das ist Odin höchstpersönlich! Ich werd verrückt«, flüsterte Steffi einfach weiter und machte unwillkürlich einen Schritt hinaus aus ihrer Deckung in die Halle hinein.



Ruppiger, als sie gewollt hatte, riss Mara die erwachsene Frau wieder zurück hinter den reich verzierten Holzbalken. »Bitte nicht! Es wäre echt besser, wenn die uns gar nicht bemerken! Ich glaube nämlich, dass die uns sehen könnten. Ich hab zwei Arten von Visionen. Entweder erzählt mir wer was, und es ist wie eine Art Film, wo ich einfach nur zuschaue und keiner mich sieht, oder ich steig selber rein in die Vision, und dann bin ich aber auch wirklich da.«

 



»Ah…, aha?«, stammelte Steffi nur.



»Ja, zumindest ist das meine Vermutung, und irgendwie passt es zu dem, was wir bisher so erlebt haben. Garantie hab ich keine. Ist auf jeden Fall besser, wenn wir hier stehen bleiben. Oder wieder abhauen. Ich wollte ja nur zeigen, was hinter der ganzen Sache steckt – und zwar so, dass Sie mir glauben. Glauben Sie mir jetzt?«



»Ich … ich weiß nicht … das ist alles sehr …« Steffi war noch nicht bereit für ganze Sätze nach den geltenden grammatischen Regeln. Zu sehr war sie damit beschäftigt, alles in sich aufzusaugen, was sich vor ihren Augen abspielte.



»Gut, dann bleiben wir noch ein bisschen. Aber nicht mehr lange, weil es geht bestimmt gleich wieder was schief«, sagte Mara.



»Es geht was schief? Was denn?«, fragte Steffi zögerlich.



»Keine Ahnung. Aber schiefgehen wird es.«



Gerade hatte sich Odin gesetzt, und nach ihm nahmen auch alle anderen in der Halle wieder Platz. Mara fiel auf, dass der oberste Gott offensichtlich keinen Wert auf allzu große Sonderbehandlung zu legen schien. Zumindest war der Platz, auf den er sich gesetzt hatte, von den anderen Tausenden Sitzplätzen nicht zu unterscheiden.



Vorsichtig wagte sich Mara nun doch etwas weiter aus ihrer Deckung. Da flatterte etwas über ihren Kopf hinweg, und Mara duckte sich erschrocken. Zwei schwarze Schatten rasten auf Odin zu und ließen sich dann direkt vor ihm auf dem Tisch nieder: Hugin und Munin.



Sofort zog sich Mara wieder zurück, denn obwohl die beiden Raben zu diesem längst vergangenen Zeitpunkt eigentlich noch nichts von Mara Lorbeer gehört haben konnten, wollte sie kein Risiko eingehen.



»Das ist doch alles nicht wahr, ich glaub das nicht«, hörte sie da Steffi hinter sich brabbeln.



»Also, wenn Sie es jetzt immer noch nicht glauben, dann können wir ja genauso gut wieder abhauen«, flüsterte Mara und fasste ihr an die Schulter.



»Nein, warte! WARTE!«, entgegnete Steffi und wand sich aus Maras Griff. »Ich … ich muss noch … das ist alles so … unfassbar!«



Sie lehnte sich an das Holz und starrte auf die feiernden Massen. Langsam schien sie ihre Sinne wieder aufgeklaubt und in die richtigen Regale im Hirn geräumt zu haben. »Es ist alles genau so, wie es die eddischen Texte beschreiben: die vielen Tore, das Dach aus Schilden und Speeren, Odin mit seinen Wölfen Geri und Freki, Hugin und Munin … Moment mal, saßen da vorhin nicht auch zwei Raben direkt neben euch?«



Mara nickte. »Ja, das sind dieselben. Die haben mir auch die Kraft ausgeliehen, damit ich Sie hierher bringen kann und wir uns so Diskussionen sparen.«



»Ich weiß gar nicht, ob wir uns damit Diskussionen sparen oder verhundertfachen«, sagte die Archäologin, und Mara fiel einmal mehr auf, wie viel sie mit ihrem Exmann Professor Weissinger gemeinsam hatte. Wie seltsam eigentlich, dass die beiden es nicht miteinander ausgehalten hatten. Gut, der Professor hatte argumentiert, dass genau diese Gemeinsamkeiten das Problem ausgemacht hatten. Aber Mara konnte sich nicht vorstellen, wie

zu viele Gemeinsamkeiten

 einen Scheidungsgrund ergeben konnten. Bei Mama und Papa war es schließlich das genaue Gegenteil gewesen. Diskussionen zwischen den beiden hatten auf Mara immer so gewirkt, als würde jeder nur in sein eigenes privates Universum hineinreden. Ohne Wurmlochverbindung. Da waren zu viele Gemeinsamkeiten doch sicher deutlich besser, oder nicht?



Mara wurde aus ihren beziehungstheoretischen Gedanken gerissen, als sich in der Halle plötzlich etwas tat: Die Wand hinter ihnen bewegte sich! Nein, okay das war keine Wand, sondern der linke Flügel eines dieser gigantischen Tore. Sofort drückten sich Mara und Steffi ein Stück um die Säule herum, um auch von dort aus nicht gesehen zu werden.



Mara erkannte den Mann, der nun in die Halle schritt, sofort, obwohl er sicher zwanzig Meter von ihrem Versteck entfernt war und sie ihn nur von der Seite sehen konnte: Loki.



Am liebsten hätte Mara seinen Namen gerufen, aber natürlich riss sie sich zusammen. Sie hatte Loki ja erst getroffen, als der schon seit über zweitausend Jahren gefesselt in einer Höhle gelegen hatte. Der Loki, der da vor ihr in die Halle einmarschierte, würde Mara erst viel später kennenlernen.



Forschen Schrittes durchmaß der Halbgott die Halle und hielt direkt auf Odins Sitzplatz zu. Dabei würdigte er die Umsitzenden keines Blickes. Mara fand, er sah irgendwie wütend aus. Oder entschlossen? Schwer zu sagen. Auf jeden Fall wirkte er ungewöhnlich ernst und schweigsam. Sie kannte ihn eigentlich ganz anders.



Man konnte förmlich zusehen, wie die Neuigkeit des Ankömmlings unter den Anwesenden die Runde machte. Wie in einer Mischung aus Stille Post und La-Ola-Welle drehten die Menschen ihren Kopf und wurden dann ganz still. Obwohl, das stimmte nicht so ganz. Denn wenn sich Mara nicht täuschte, hörte sie da jemanden kichern? Konnte das sein?



So ein Quatsch, dachte Mara. Warum sollten die kichern, wenn Loki hier reinspaziert? Ausgerechnet bei Loki gab es genug Gründe eben genau gar nicht zu kichern. Mara hätte sich das auf jeden Fall nicht getraut, und auch der Professor würde sich hüten. Vor allem, weil der all die Geschichten rund um Loki kannte.



Doch da war es schon wieder! Ganz eindeutig hatte da gerade jemand gelacht! Loki blieb stehen und drehte sich sehr langsam um. Sofort wurde es mucksmäuschenstill in der riesigen Halle.



Doch Loki sagte kein Wort, trat nur an einen der Tische heran und sah in die Runde. Die Krieger, die nun direkt vor ihm saßen, zogen instinktiv ihre Köpfe ein.



Loki tat einen Moment lang gar nichts. Dann erst fuhr er zwischen die Teller und Schüsseln auf dem wuchtigen Tisch und griff sich ein Stück Fleisch an einem Knochen. Er betrachtete das Stück prüfend, roch daran, während er sich wieder wegdrehte und anschickte, weiterzugehen. Doch gerade, als die Männer wieder aufatmeten, schrie jemand an einem der Nebentische auf. Schreckensschreie und Tumult zeigten Mara und Steffi, wo sie hinzusehen hatten: Einer der Krieger war aufgesprungen und machte sehr unappetitliche Geräusche. Er röchelte schrecklich und fasste sich dabei mit beiden Händen an den Hals. Sein Hals war seltsam dick, und es sah aus, als steckte etwas Großes darin fest, was den Mann am Atmen hinderte.



Mara und Steffi wendeten den Blick ab, als der Mann gurgelnd vornüberkippte und nach ein paar weiteren verzweifelten Versuchen zu atmen, hilflos mit den Armen ruderte, noch ein paarmal zuckte und dann liegen blieb.



Alle blickten zu Loki. Das Stück Fleisch in seiner Hand war verschwunden.



»Loki hat den Mann … umgebracht?«, wisperte Mara fassungslos. »Einfach so, weil er gekichert hat?«



Steffi nickte nur und sagte nichts, was man nicht auch ihrem Blick entnehmen konnte.



Niemand lachte jetzt mehr oder machte irgendein Geräusch, während Loki seinen Weg fortsetzte. Als er schließlich vor Odin haltmachte, war nichts mehr zu hören außer dem grollenden Knurren der beiden Wölfe zu Füßen des ältesten und mächtigsten Gottes der Germanen.



Seltsamerweise sprach Loki immer noch kein Wort. Das war schon ungewöhnlich. Dafür flüsterte Steffi Mara zu: »Ich hab eine Ahnung, wer das ist. Das könnte …«



»Das ist Loki«, unterbrach Mara sie ebenso leise. »Wir kennen uns. Okay, jetzt gerade kennt er mich noch nicht.«



Steffi sah Mara seltsam leer an, und Mara seufzte: »Also, dieser Loki da ist nicht der Loki, den ich … nein, das stimmt nicht. Er ist schon der Loki, den ich später mal kennenlerne, aber er weiß das jetzt noch nicht. Weil jetzt früher ist, und ich ihn erst später kennenlerne. Und weil er jetzt wohl auch … anders ist, und ich ihn jetzt gar nicht kennen will. Wie bei den Raben. Oh Mann, die will ich schon kennen, ich meine: Die wissen jetzt auch noch nicht, wer ich bin. Sein werde. Bin. So.«



Steffis Blick blieb so leer wie eine Pfandflasche, aber sie rang sich ein sehr langsames Nicken ab.



»Gut«, sagte Mara. »Ist nämlich echt nicht einfach zu erklären.«



Dann wendeten sie sich beide von dem unlösbaren Problem des Zeitreiseparadoxons ab und den Geschehnissen in der Halle zu.



Odin sagte gerade irgendetwas, das sie über die Entfernung nicht verstanden, und Loki blieb die ganze Zeit über still. Dann plötzlich lachte wieder jemand. E