Sukkubus

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Zweites Kapitel

»Die Frau, die ich Stück für Stück, Füße, Hände, Haare, Lippen, Ohren, Brüste, vom Nabel zum Mund und vom Mund zu den Augen forschend betrachtete, der ich verfallen war, in die ich meine Krallen schlug, die ich biss und mit Küssen erstickte (…), war ebenso undurchdringlich wie eine kalte Statue in dem vergessenen Garten eines verlorenen Kontinents.«

Aus: Henry Miller – »Sexus«, Rowohlt, 2002.

Eins

Alvin erwachte eng an Juliette gekuschelt auf der Couch liegend. Im Fernsehen lief das DVD-Menü in Dauerschleife. Szenen des Andrew-Blake-Films des gestrigen Abends, an den sich Alvin kaum noch erinnern konnte. Dafür schossen schlagartig zwei andere Erinnerungen in ihn: die körperliche Liebesnacht mit Juliette und das Antlitz der geheimnisvollen Fremden, die er gestern Mittag verfolgt hatte.

Obwohl er mit Juliette zusammen eine Flasche Wein beim Italiener, einen Grappa und zu Hause noch einen Martini getrunken hatte, verspürte er keinen Kater. Die Nacht war heiß gewesen und er hatte den Alkohol definitiv herausgeschwitzt.

Er gab der noch schlummernden Juliette einen Kuss auf die Stirn und erhob sich von der Couch. Er schaltete das Fernsehgerät aus und zog die Vorhänge auf. Die Sonne stand bereits hoch am Firmament und es war abzusehen, dass es wieder ein heißer Tag werden würde.

Die Hormone spielen bei Hitze ohnehin verrückt, dachte er, als er wieder an die fremde Schönheit denken musste. Vermutlich lag es daran, dass er ihr gestern gefolgt war. Er war sexuell ausgehungert gewesen und die Frau hatte schlichtweg in sein Beuteschema gepasst.

Er blickte auf seine schlafende Frau, die so auf dem Sofa unter der Wolldecke lag, dass er ihre Brüste sehen konnte. Heute würde mir das nicht passieren, dachte er. Er hatte eine wundervolle Nacht verbracht, gleich zweimal Sex mit seiner ebenso wunderbaren Frau gehabt und war sich sicher, dass sie bis ans Ende aller Zeiten beieinanderbleiben würden. So viel zum Thema Beuteschema. Alvin musste nicht mehr auf die Jagd gehen.

Er ging unter die Dusche und dachte über den bevorstehenden Tag nach. Juliette würde in ihr Büro gehen, und er in seines. Im Gegensatz zu seiner Frau würden ihn dort jedoch keinerlei Aufgaben erwarten, es sei denn, es würde sich endlich ein potentieller Auftraggeber bei ihm melden. Wenn er es sich recht überlegte, war sein gegenwärtiger Status eine Farce. Juliette hatte ja recht, wenn sie sagte, dass seine Detektei ein einziges Draufzahl- oder Minusgeschäft war. Vielleicht wäre es an der Zeit, in Werbung zu investieren. Doch mehr als eine wöchentliche Anzeige in der Abendzeitung hatte er diesbezüglich nicht am Laufen. Aber was konnte er noch tun? Genial wäre es, er würde einen Fall lösen, der ausreichend in der Presse besprochen werden würde. Positive Schlagzeilen mochten seinen Ruf als Privatermittler bekannter machen. Das würde zwar noch lange nicht bedeuten, dass ihm mögliche Kunden die Bude einrennen würden, aber seine finanzielle Lage erheblich verbessern. Jedoch sprach dagegen, dass die meisten seiner Kunden sich aus Gründen der Diskretion an ihn wandten. Mein Gott, sein letzter Fall lag bereits gut drei Wochen zurück.

Er trocknete sich ab, rasierte sich und zog sich an. Als er das Wohnzimmer betrat, stand eine nackte Juliette vor ihm.

»Ich habe Kaffee gemacht«, sagte sie und deutete mit ihrer Tasse auf die Kaffeemaschine in der Küche.

»Danke«, sagte er und schenkte sich eine Tasse ein.

»Du gehst ins Büro?«, fragte sie.

»In der Hoffnung, einen Auftrag zu bekommen. Ja.«

Sie nickte. »Alles klar, mein Schatz. Ich mach mich denn auch mal fertig. Wir sehen uns heute Abend, okay?«

»Wir könnten etwas würfeln«, sagte er und gab ihr einen Kuss.

»Ja, würfeln wir. Oder wir sehen den Film noch mal. Ich habe gestern nicht viel davon mitbekommen.«

»Och, nicht schon wieder. Würfeln ist gut«, sagte er und gab Juliette einen Klaps auf den Po, als sie in Richtung Dusche an ihm vorbeilief.

Alvin trank seinen Kaffee leer, stellte die Tasse auf den Küchentresen, nahm seine Schlüssel und verließ die Wohnung.

Den Weg in seine Detektei legte er stets zu Fuß oder mit der U-Bahn zurück. Zwar verfügte er über einen Wagen, aber der stand in der Tiefgarage gut, wie er befand, und das Wetter musste man ausnutzen. Jeder, der den Münchner Berufsverkehr kannte und mit ein wenig Vernunft gesegnet war, würde ähnlich entscheiden, wenn er so nahe am Arbeitsplatz wohnen würde.

Während er lief, kreisten seine Gedanken abermals um die geheimnisvolle Frau, die seinem Leben gestern eine so unerwartete Wendung beschert hatte. Die Tatsache, dass sie seine Gedanken so unverfroren einnahm, grenzte an eine Frechheit. Doch sobald er die Augen schloss, sah er sie vor sich, wie er sie gesehen hatte, als er ihr durch die Straßen folgte. Ihre gleichmäßig hin und her schwingenden Hüften. Die einladenden Kurven ihres verlängerten Rückens. Ihre Taille, die zum Umfassen einlud. Ihre freiliegenden Schultern, die von fester Haut umspannt waren, so dass er am liebsten hineingebissen hätte. Die schlanken, graziösen Beine. Die dunkelgelockte Haarmähne. Der Duft ihres Parfums, der mit Pheromonen angereichert war, und den sie hinter sich herzog, um Männer wie ihn um den Verstand zu bringen.

Als er sein Büro erreichte, lief er daran vorbei. Einer inneren Eingebung zufolge wollte er ein weiteres Mal zur ABC-Autorenbuchhandlung gehen. Die Chance, sie dort wiederzutreffen, war natürlich mehr als unwahrscheinlich, aber wenn er die Buchhändlerin in ein Gespräch verwickelte, konnte er vielleicht durch eine geschickte Befragung etwas über seinen heimlichen Schwarm in Erfahrung bringen.

Das schlechte Gewissen, das ihn übereilte, als er an seine Steuererklärung dachte, die in seinem Büro auf ihn wartete, schob er rasch beiseite, so wie er es mit den Unterlagen für das Finanzamt auf seinem Schreibtisch gemacht hätte.

Die Hitze stahl sich bereits wieder ihren Weg durch die Häuserschluchten. Alvin knöpfte seinen oberen Hemdknopf auf und lief über einen Zebrastreifen, nachdem endlich ein Fahrer die Güte besessen hatte, anzuhalten. Weitere Passanten nutzten die Gelegenheit, um rasch die Straßenseite zu wechseln. Eine Blondine mit freizügigem Dekolleté verursachte ein Hupkonzert, begleitet von bewundernden Pfiffen diverser männlicher Fahrer.

Alvin ließ ihr Anblick kalt, obgleich er natürlich einen instinktiven Blick riskierte. Doch keine Frau konnte seiner Juliette das Wasser reichen, wie er befand. Keine, außer eine – ein Rätsel, das er untersuchen musste.

Ebenso war es ihm jedoch ein Rätsel, wie er etwas über die Unbekannte herausfinden sollte. Mit der Buchhändlerin über Bücher zu sprechen, könnte sich in seinem Fall bereits als schwierig erweisen. Das letzte Mal, da Alvin einen Roman in der Hand gehalten hatte, musste eine halbe Ewigkeit her sein. Als Kind, ja, als Kind hat er viel gelesen und auch als Jugendlicher noch. Da waren es vor allem die Kriminalromane, die es ihm angetan hatten. Eine Zeitlang hatte er die Heftromane um Jerry Cotton regelrecht verschlungen. Doch mit dem Älterwerden kam das Privatfernsehen und damit einhergehend unermesslich viele Programme, die einen die Abendgestaltung betreffend regelrecht entmündigten, sofern man sich nicht mit Kumpels in einer Bar zum Trinken verabredet hatte. Die Ausbildung auf der Polizeiakademie erledigte schließlich den Rest und reduzierte Freizeit und freie Zeit auf das nötigste Minimum.

Nun, Jahre später, hätte er rein theoretisch wieder die Zeit, sich mit dem Medium Buch zu beschäftigen, doch schaffte er es nicht so recht, sich darauf einzulassen.

Vielleicht sollte er der Buchhändlerin genau das erzählen, befand er, als er den Laden endlich erreichte.

Was Alvin als Erstes auffiel, als er das Geschäft betrat, war die kuriose Lampe, die aus etlichen handschriftlichen und maschinenbeschriebenen Zetteln bestand. Es war auf den ersten Blick erkennbar, dass die Zettel künstlerischer Bestandteil der Lampe waren und nicht nur als eigenwillige Dekoration dort hin geklemmt wurden.

Alvin erwiderte die Begrüßung der Verkäuferin und umrundete die Buchregale. Auf die Frage, ob man ihm helfen könne, meinte er, er wolle nur ein wenig stöbern. Er besah sich eine stattliche Anzahl unterschiedlichster Dürrenmatt-Bände und erinnerte sich der kruden Deutschunterrichtstunden, in denen er »Der Henker und sein Richter« Szene für Szene durcharbeiten musste. Wenn er ehrlich war, dann hatte sein damaliger Deutschlehrer ihm die Lust auf sogenannte hohe Literatur grundlegend vermasselt.

Auf Juliette traf das alles nicht zu. Sie las ein Buch nach dem nächsten und das meist auch noch in der Originalsprache. Wenn Alvin ein Geschenk für sie suchte, brauchte er bloß in irgendeiner Buchhandlung ein x-beliebiges Buch kaufen und konnte sich sicher sein, dass sie es auch lesen würde.

Er selbst war mit seinem Abonnement des Münchner Abendblatts bereits überfordert.

Die Tür öffnete sich, was Alvin am Scheppern einer Glocke hören konnte. Ein Student betrat den Laden und holte ein bestelltes Buch ab. Er zahlte und ging ebenso rasch, wie er gekommen war.

Alvin hatte einen Bildband entdeckt, der sein Interesse erweckte. Er schlug ihn auf und sah auf einer Doppelseite das Abbild zweier nackter, dürrer Männer mit erigierten Penissen, die sich gegenüberstanden und wie selbstverständlich auf das Geschlecht ihres Gegenübers hinabblickten. Kopfschüttelnd blätterte Alvin weiter und sah eine Frau, die breitbeinig über einem Spiegel hockte, um sich darin ihren behaarten Unterleib zu betrachten.

 

Ist das noch Kunst oder bereits Pornographie, überlegte er. Verständnislos klappte er das Buch zu. Der Fotograf sagte ihm nichts, wurde jedoch auf der Rückseite als Visionär gelobt, der es wie kein anderer verstehen würde, das Genderproblem unserer Gesellschaft in Szene zu setzen.

Alvin schlenderte weiter, zu einem anderen Regal, als die Tür sich wieder öffnete. Von seinem Standpunkt aus konnte er nicht erkennen, wer den Laden betreten hatte, aber der Geruch, der an seine Nase brandete, schien ihm vertraut.

Unter abertausenden von Wohlgerüchen hätte er diesen wiedererkannt.

Wie angewurzelt blieb er vor dem Regal stehen und entnahm ihm irgendein Buch. Sein Herz schlug bis zum Hals, als er hörte, wie die Buchhändlerin seine schöne Unbekannte begrüßte und diese mit einer sanften, wohlklingenden Stimme den Gruß erwiderte. »Ist es schon da?«, fragte sie.

Welch’ seltsame Sogkraft doch ihre Stimme auf ihn ausübte.

»Selbstverständlich. Die Lieferung kam gestern Abend noch rein. Soll ich es Ihnen einpacken?«

»Nein danke. Ich nehme es gleich so.«

»Gerne. Das macht dann vierundzwanzig Euro und achtzig Cent, bitte.«

Alvin hörte das Klimpern von Münzen und das Rascheln von Scheinen. Sie bezahlte. Danach würde sie gehen. Es galt nun, keine Zeit mehr zu verlieren.

Er trat um das Regal herum und erblickte sie. Vorsichtig stellte er sich hinter der Schönheit an. Leise und tief sog er ihren Duft ein.

Wie eine Droge, dachte er. Dieser Geruch berauscht mich förmlich.

»Dankeschön«, riss ihn da die Stimme der Buchhändlerin aus seinen Gedanken. »Und einen schönen Tag noch.«

Alvin blickte seiner reizvollen Unbekannten hinterher, wie sie den Laden verließ. Er bemerkte nicht, wie die Buchhändlerin ihm das Buch aus der Hand nahm, er ihr das Geld aushändigte und sie seinen Kauf mitsamt Kassenbon in eine Tüte packte.

Kaum hatte er diese in der Hand, eilte er wie wahnsinnig aus dem Geschäft und folgte einmal mehr der Fremden, mit dem festen Vorhaben, sie dieses Mal nicht aus den Augen zu verlieren.

Zwei

Der BDSM-Shop in der Schwanthalerstraße war kaum zu finden. Harmann fand das Geschäft erst nach mehrmaligem Umherirren und war dabei sogar bis in den weiter entfernten Beate-Uhse-Shop gelaufen, um dort nach dem Laden zu fragen, den er suchte. Zurück in der Schwanthalerstraße fand er den Laden dann endlich, in dem er einen Hinterhof betrat, über den man eigentlich das Berufsbildungswerk erreichte.

Gestern hatte er nicht mehr die Zeit gefunden, Olgas Tipp zu folgen, so dass er zumindest heute nicht drum herumkam.

Er betrat das Geschäft durch einen klappernden Perlenvorhang. Das erste, was Harmann neben der anstrengenden Schwarzlichtbeleuchtung ins Auge stach, war die Ansammlung von Riesendildos und Plastikvaginas, die ein großes Regal im Eingangsbereich einnahmen.

Hinter einer Verkaufstheke starrte ein Mann mit kahlgeschorenem Haar in einen Computerbildschirm, der diverse offene Chatfenster und eine Facebook-Seite zeigte. Er grüßte Harmann nicht, der sich noch einen Moment im Laden umsah. Es gab Lack- und Leder-Accessoires, Peitschen, Masken, Fesseln und Handschellen, Liebesschaukeln und weitaus kuriosere Dinge, welche Harmann noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte.

Ein Schild mit der Aufschrift »Zu den Kabinen« wies auf ein offenes Treppenhaus. Von dort schallte das Bassgewummer lauter House-Musik.

Harmann trat an den Verkäufer heran und räusperte sich.

Der Verkäufer blickte auf. »Ja?«

»Ich, ich habe eine Frage«, sagte Harmann und versuchte sich daran zu erinnern, was Olga ihm gestern über diesen Jörg Meister erzählt hatte.

»Für die Kabinen bezahlt man oben. Hier bezahlen Sie nur, wenn Sie was kaufen. Umsehen kostet nix. DVDs sind auch oben.«

»Haben Sie auch Literatur?«

»Klar, da drüben«, sagte der Mann und deutete auf ein drehbares Regal mit pornographischen Schmonzetten.

»Ich suche eher etwas vom Fach. Man sagte mir, dass der Inhaber dieses Ladens, ein gewisser Jörg Meister einmal ein Buch über Sexualmagie geschrieben habe.«

»Jörg Meister, das bin ich. Und es stimmt. Habe auch noch ein paar Exemplare hier. Ist allerdings nicht auf dem aktuellen Stand. Der Laden läuft zu gut, als dass ich die Zeit für eine aktualisierte Neuausgabe aufbringen könnte. Es gibt zwischenzeitlich auch bessere Bücher darüber. Wer hat Sie denn zu mir geschickt?«

»Eine Freundin hat das Buch erwähnt«, sagte Harmann wahrheitsgemäß. »Geht es darin auch um okkulte Riten?«

»Klar. Aber das ist nicht Hauptbestandteil des Buches. Letztlich bietet es eine Übersicht über alle möglichen Formen und Praktiken und Gebräuche der erotischen Okkulta.« Der Inhaber des verrufenen Ladens trat hinter seiner Verkaufstheke hervor und sagte: »Warten Sie ’nen Augenblick. Ich will sehen, ob ich die Kiste mit den Restexemplaren unten finde. Bin gleich zurück.«

Meister lief zum Treppenhaus und verschwand die Stufen hinab. Harmann schlenderte derweil durch den Laden und besah sich die dargebotenen Gerätschaften wie Einmachgläser mit menschlichem Hirn in einem Kuriositätenkabinett.

Ein Kunde trat durch den Perlenvorhang, nickte Harmann nervös zu und eilte die Treppenstufen hinauf.

Harmann nahm sich vor, Jörg Meister zu fragen, was man in solchen Kabinen üblicherweise anstellte. Doch als dieser endlich kam, hatte er den Gedanken bereits wieder verworfen.

»Hat etwas gedauert«, sagte Meister, »aber ich habe doch glatt noch ein Exemplar gefunden. Viele sind es nicht mehr. Und da es den Verlag nicht mehr gibt, wird es wohl bald restlos vergriffen sein.« Er reichte Harmann das dünne Buch, das als Cover ein Pentagramm und eine nackte Frau zeigte, die dieses auf ihren Bauch tätowiert hatte.

»Sexualmagie. Ansichten, Ursprung, Verbreitung und liebesmagische Rezepte«, las Harmann den Buchtitel. »Worum geht es da genau? Ich meine, steht da drin, wie ich mittels Zaubersprüche eine Frau herumbekomme oder was muss ich mir darunter vorstellen?«

Meister lachte auf. »Nein, nein. Da liegen Sie ganz falsch. Sicherlich finden Sie darin auch das eine oder andere Rezept für ein Aphrodisiakum: Teemischungen gegen Frigidität und dergleichen. Aber in erster Linie geht es darum, dass die Sexualität ein Triebfeld des Okkulten ist. Das Okkulte hat die Menschheit schon immer fasziniert, genauso wie das Pornographische. Beides miteinander kombiniert ist somit die Quintessenz der Wollust, wenn Sie so möchten.«

»Aber was hat Sexualität mit Okkultismus zu tun?«

»Wir sind natürlich aufgrund unserer christlich religiösen Kultur gesellschaftlich so geprägt, dass Sexualität in erster Linie etwas Schmutziges ist, sofern es nicht der Fortpflanzung dient. Aber genau hier geht es doch schon los«, ereiferte sich Meister. »Das Essen der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis, wie uns die Bibel den Sündenfall beschreibt, ist keineswegs die Auflehnung gegen den Christengott, sondern vielmehr Sinnbild für das Streben des Menschen nach Erkenntnis. Adam und Eva überschreiten eine Grenze, wenn sie vom Apfel essen. Dies ist gleichzusetzen mit dem Erfahren sexueller Grenzerlebnisse.«

»Und was lernt der Leser dieses Buches?«

»Nicht das, was die Tagespresse darunter versteht. In erster Linie geht es um die Umwandlung der Geschlechtskraft oder auch der Lebenskraft, was man eventuell mit dem Kundalini-Yoga gleichsetzen kann. Fakt ist aber, dass es schon immer und in jeder Kultur sexuelle Kulthandlungen gegeben hat und diese sich auch heute noch großer Beliebtheit erfreuen. Rituelle Magie nennt man das eigentlich, denn wenn man es schafft, die sexuelle Kraft, die der gegensätzlichen Polarität aus Mann und Frau entströmt, umzuwandeln, dann lassen sich damit Dinge anstellen, die Sie sich nur schwer vorstellen können.«

»Und wer praktiziert derartige Dinge und vor allem wo und mit wem?«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Da bin ich beim besten Willen überfragt. Es ist ja auch schon ’ne Weile her, dass ich mich mit dem Zeug beschäftigt habe. Es gibt sicherlich neue Strömungen und Gruppierungen, die sexualmagische Zusammenkünfte organisieren. Allerdings werden Sie enttäuscht sein, wenn Sie derartige Gruppierungen suchen. Es ist nicht Sinn und Zweck seine Lust in sexualmagischen Logen auszuleben. Vielmehr geht es um das Liebesgeschehen als kosmischen Schöpfungs- und Zeugungsakt.«

»Demnach geht es um Fortpflanzung«, fragte Harmann verblüfft, der nun gar nicht mehr wusste, wie er das soeben Gehörte mit seinem Fall in Einklang bringen sollte.

»Bedingt. Wenn man berücksichtigt, dass der sexuelle Akt für den Menschen die einzige Möglichkeit darstellt, Leben zu erschaffen, so wie Gott es ja getan haben soll, so haftet dem Ganzen natürlich etwas Mysteriöses an.«

»Sex ist also nichts anderes als Macht.«

»Natürlich. Darum geht es hauptsächlich. Sowohl hier in meinem BDSM-Shop als auch bei sexualmagischen Vereinigungen. In manchen Mythologien wird die Erschaffung der Welt mit sexuellen Handlungen göttlicher Wesen erklärt. Bedenken Sie nur die sexuellen Eigenschaften der griechischen Gottheiten. Ein wahrer Sündenpfuhl, der griechische Himmel. Sex verschafft ein gesteigertes Bewusstsein. Ekstase ist nichts anderes als religiöse Verehrung. Das wird natürlich von den unterschiedlichsten Ideologien und Praktiken anders dargelegt. Jede Gruppierung hat da ihre eigenen Schwerpunkte. Die einen arbeiten bei ihren Treffen auf eine Art Orgie hin, bei den anderen ist es bereits verpönt, wenn es zum Samenerguss kommt. Vielmehr soll der Samen in die Blutbahnen umgeleitet werden, um das eigene Hirn zu befruchten, um so eine höhere Bewusstseinsebene zu erreichen.«

»Und das steht alles in Ihrem Buch?«

»Nicht alles, nein. Es ist, wie gesagt, auch bereits veraltet. Aber es kann Ihnen als Einstieg dienlich sein. Wenn Sie sich aber ernsthaft für das Thema interessieren, dann kann ich Ihnen einen Tipp geben: In Kürze wird ein neues Buch erscheinen. Den Titel weiß ich nicht, aber der Verfasser heißt Matthias Wagner. Er wird aus dem Buch lesen, und zwar übermorgen. Oder doch morgen schon? Hier.« Er holte hinter dem Tresen einen Flyer hervor und reichte ihn Harmann. »Die sollte ich eigentlich auslegen, aber meine Kunden entsprechen definitiv nicht der Zielgruppe. Auf jeden Fall ist Wagners Buch topaktuell und sicherlich ernster hinsichtlich des Themas. Der kann Ihnen bestimmt weiterhelfen.«

»Sehr gut. Das hilft mir weiter. Und Ihr Buch kaufe ich auch«, sagte Harmann.

»Geht klar«, antwortete Meister und verlangte zwanzig Euro dafür.