Rüeggisberg

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Fiona Decorvet (Sonntag, 9. August)

Als Capitano Tosso auf der Brücke eintraf, war business as usual angesagt, ohne weitere Vorkommnisse während der Nacht war das Anlegen in Hamburg erst in sechs Stunden vorgesehen. Mit anderen Worten: Fiona Decorvet galt noch immer als vermisst, ein zusätzliches Visionieren der Videobänder durch die Security hatte keine neuen Erkenntnisse gebracht. Der Schatten auf Deck 5 konnte in keinen Zusammenhang mit ihrem Verschwinden gebracht werden, die Suche nach ihrem Handy blieb ergebnislos. Tosso unterliess es deshalb, sich bei Bevilaqua oder bei Ritter zu melden, Letzterer traf sich wie abgemacht eine Stunde später mit den Frauen.

«Danke, meine Damen, dass Sie sich eingefunden haben. Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich unser Gespräch gerne elektronisch aufzeichnen, damit ich mit meinem Team in Bern bei den weiteren Ermittlungen nicht bei null beginnen muss.»

«Glauben Sie an ein Verbrechen, Herr Ritter?», gab sich Ruth Bär besorgt.

«Frau Bär, wir Kriminalisten stützen uns eher auf Fakten denn auf Vermutungen. Aber ich will ja nicht spitzfindig werden. Worauf ich mir keinen Reim machen kann: Was hat es mit der Handtasche auf sich?»

«Das beschäftigt auch mich, Herr Ritter, ich meine, wenn Fiona bewusst über Bord gegangen wäre, hätte sie doch die Tasche samt Inhalt mitgenommen – oder an Bord gelassen», mutmasste Prisca Antoniazzi.

«Da stimme ich Ihnen zu, Frau Antoniazzi. Was ich deshalb sofort wissen muss: Wie lautet die Handynummer von Frau Decorvet?»

«Hier haben Sie sie.» Ritter nahm den Zettel von Ruth Bär entgegen.

«Ich werde meine Mitarbeiterin jetzt sofort bitten, die Verbindungen von Frau Decorvet via Anbieter zu überprüfen, vor allem jene Kontaktnahme kurz nach neun Uhr, gestern Abend – und wo das Handy des Anrufers eingeloggt war. Sie entschuldigen mich bitte kurz.»

Joseph Ritter rief Claudia Lüthi mit entschuldigenden Worten an, im Wissen, dass Elias Brunner mit Regula Wälchli und Sohn Noah heute Sonntag abwesend waren. Stephan Moser war seinerseits ohnehin mit einer alten, aber noch nicht gänzlich aufgeklärten Geschichte beschäftigt. Claudia Lüthi notierte sich alle wichtigen Angaben zum Fall und versprach, so schnell als möglich zurückzurufen. Und der Chef solle sich keine Gedanken wegen des Anrufs am Sonntag machen, immerhin hätte sie «jetzt etwas zu tun», wie sie lachend feststellte. Ritter nahm ihr das nicht ab, sagte es ihr auch.

«Wann kommst du zurück, J. R.?», wechselte Claudia Lüthi das Thema.

«Das weiss ich noch nicht, aber vermutlich werde ich den Rückflug auf morgen Montagmorgen verschieben müssen.»

«Kein Problem, sobald ich die Liste vom Provider habe, werde ich die letzten Anrufe überprüfen, dir durchgeben und versuchen, bis zu deiner Rückkehr so viele Informationen über diese Fiona Decorvet wie möglich in Erfahrung zu bringen, auch über die beiden Galerien.»

«Genial, Claudia, gerade darum wollte ich dich nämlich bitten, du kommst mir zuvor. Danke.»

«Die Galerie Avantgarde in der Berner Altstadt ist übrigens kaum für unsere Budgets, J. R., ich gehe da öfter hin, einfach um meinen Gwunder zu stillen. Hat Stil, Niveau.»

«Wie du. Aber jetzt muss ich Schluss machen, die vier Begleiterinnen von Frau Decorvet warten auf mich. Bis bald.»

Als er an den Tisch zurückkehrte, stand HH bei den vier Frauen, die ihm Augenblicke zuvor gesagt hatten, «dass Herr Ritter sofort wieder da sein wird». Holger Herrlich bestätigte Ritter, dass sieben Spürhunde in Hamburg bereitstünden, um auf der Alberta Imperator eine mögliche Spur zu Fiona Decorvet aufzunehmen und zu verfolgen. Von Luzia Cadei hatte HH zwei Kleidungsstücke der Vermissten erhalten. Die vier Freundinnen hatten gemeinsam Fionas Koffer gepackt und vor die Türe gestellt.

Joseph Ritter ging es im Gespräch mit den vier Frauen darum, möglichst viel über Fiona Decorvet zu erfahren. Er war sich auch sicher, dass die Recherchen von Claudia Lüthi zusätzlich noch das eine oder andere Interessante ergeben würden.

Fiona Decorvet wurde 1960 mit ihrer Zwillingsschwester Caroline in Bern geboren. Eltern: Barbara, Kindergärtnerin, wie das seinerzeit hiess, und Jean-Paul Decorvet, Architekt. Sie verbrachte ihre Jugend in Köniz, besuchte nach der Sekundarschule das Gymnasium Lerbermatt Köniz und heiratete 1980 mit knapp 20 Jahren völlig überstürzt, um ihre strengen Eltern zu provozieren, den um 22 Jahre älteren Stanislas Kurmann, einen selber nur mittelmässig begabten Maler, der aber die wirklich Grossen der Szene kannte, weil er ein kurzweiliger Unterhalter war. Durch ihn lernte Fiona – die ihren Mädchennamen beibehielt – erst einmal die Schweizer Kunstwelt kennen und schätzen. Ihre Freunde wussten, dass das Ablaufdatum dieser Ehe eher kürzer denn länger war. Und tatsächlich: 1982 gingen Stanislas und Fiona eigene Wege, wobei sie sich dennoch immer wieder kreuzten, denn Fiona hatte die Absicht, sich in der Kunstwelt zu etablieren. Der Durchbruch als ernst zu nehmende Galeristin gelang ihr jedoch erst viele Jahre später, mit Hilfe ihrer Freundin Ruth Bär, die einen vermögenden Partner geheiratet und sich finanziell bei der Avantgarde Galerie in Bern engagiert hatte.

Während den ersten beiden Jahrzehnten nach ihrer Scheidung von Kurmann arbeitete Fiona Decorvet vorerst für ein bekanntes Berner Auktionshaus, wodurch sie internationale Kunstschaffende kennenlernen konnte. Mehr noch: Die clevere Angestellte zögerte keinen Augenblick, als sie davon erfuhr, dass in der Altstadt von Bern, an bester Lage in der Kramgasse, in einem Jahr im Parterre und im ersten Stock Flächen frei würden, die sich perfekt für eine Galerie eigneten. 2005 eröffnete Avantgarde Bern. Die Vernissage brachte für einige Stunden Glamour ins sonst beschauliche Bern, denn mehrere weltbekannte Künstlerinnen und Künstler waren dem Ruf von Fiona Decorvet zum Besuch der Vernissage gefolgt. Vor allem das Beziehungsnetz der Besitzerin verhalfen Avantgarde zu einem kaum für möglich gehaltenen Erfolg.

Nicht zuletzt die Hochzeit 2007 mit Nazar Klitschko, einem Diplomaten aus der Ukraine – von den einschlägigen Medien hautnah begleitet –, verhalf ihr zu weiterer Publicity. 2009 erwies sich als prägendes Jahr für die Bernerin. Zum einen, weil sie inzwischen selber über genügend flüssige Mittel verfügte, um an der Bahnhofstrasse in Zürich – an absoluter Toplage – eine zweite Galerie zu eröffnen, die Avantgarde Zürich. Die dort ausgestellten und vermittelten Kunstwerke waren mit dem Berner Angebot nicht zu vergleichen, wurden in der Limmatstadt doch Werke von Künstlerinnen und Künstlern gehandelt, die für Bern preislich unvorstellbar schienen. Geleitet wurde die Zürcher Galerie von Victorija Rudenko, ursprünglich aus Prypjat bei Tschernobyl in der Ukraine stammend. Zum anderen ging 2009 die Ehe in die Brüche, da Nazar Klitschko plötzlich Gefallen an seiner Landsfrau in Zürich fand. Trotz dieses Umstandes – und frei nach dem Song von Shawn Elliot aus dem Jahr 1965, Shame and Scandal in the Family – führte Victorija Rudenko die Galerie weiter, weil sie dies aussergewöhnlich erfolgreich tat. Zudem unterliess es Fiona Decorvet bewusst, sich mehr als einmal im Jahr in Zürich zu zeigen. Das Controlling über Avantgarde Zürich überliess sie einem weltweit bekannten Treuhandbüro mit Sitz in Zürich.

Fiona Decorvet hatte, nach Aussagen ihrer Freundinnen, «offenbar einen neuen Partner», den sie aber «noch unter Verschluss» hielt, jedenfalls hatte noch keine der vier Anwesenden Bekanntschaft mit dem Unbekannten gemacht.

«Wo genau in Schwarzenburg wohnt Frau Decorvet?», wollte Joseph Ritter wissen, der bewusst die Vergangenheitsform vermied.

«In einem wunderschön zur Villa umgebauten Bauernhaus mit Umschwung, oberhalb von Schwarzenburg, an der Milkenstrasse, mit fantastischer Aussicht», kam Luzia Cadei richtig ins Schwärmen, «das Innere ist nicht bloss vom Feinsten, sondern auch vom Teuersten. Und mit den Kunstwerken eine Galerie in sich. Da sind Millionenwerte vorhanden, alles bestens versichert, wie Fiona uns einmal verraten hat.»

Es konnte Joseph Ritter – inzwischen waren auch sämtliche seiner Kollegen am Tisch eingetroffen, ohne Neues erfahren zu haben – nicht erstaunen, dass die vier Freundinnen von Fiona Decorvet nur Gutes über die Verschwundene zu erzählen wussten. Auf Nachfragen in Richtung Feinde – «Wer erfolgreich ist, hat doch automatisch Neider …» – oder Spannungen mit Victorija Rudenko und Nazar Klitschko – «Diese Konstellation rund um die Zürcher Galerie ist doch sehr speziell …» – gab es seitens der Damen klare Antworten, nämlich gar keine. Merkwürdig, denn wo Sonne ist, da ist auch Schatten, bestimmt auch rund um die Person von Fiona Decorvet. Ritter agierte während dieser Gespräche als Dolmetscher ins Englische, damit auch Luigi Bevilaqua und François Hommard die Informationen mitbekamen.

Bis zur Ankunft in der Hansestadt blieben noch etwas mehr als vier Stunden. Ritter war sich nicht sicher, wie er diese Zeit sinnvoll nutzen konnte, weshalb er in der Runde die nächsten Schritte zur Diskussion stellte.

«Ich gehe einmal davon aus, dass Frau Decorvet bis zum Anlegen verschwunden bleibt», sagte er, «erst nach der neuerlichen Durchsuchung des Schiffes und dem Einsatz der Hunde wird sich mein Team näher mit Fiona Decorvet befassen, falls sie verschwunden bleibt.»

«Was heisst das konkret?», forderte Luzia Cadei eine Präzisierung.

«Frau Cadei, bei einer derartigen Ausgangslage werden wir auf breiter Front zu recherchieren beginnen. Für das Protokoll werden wir auch mit Ihnen, Frau Bär, Frau Gnädinger und Frau Antoniazzi, sprechen müssen, einzeln. Das wird spätestens übermorgen Dienstag der Fall sein. Ich hoffe, sie alle sind dann abkömmlich. Bitte notieren Sie mir deshalb Ihre Handynummern. Holger, wie siehst du das weitere Vorgehen? Die Frage geht in diesem Sinn auch an Luigi», der sich umgehend meldete.

 

«J. R., ich werde sofort mit Capitano Tosso sprechen und seine Aussagen für eure weiteren Ermittlungen protokollieren. Bis wir in Hamburg eintreffen, hast du seine Angaben auf deinem Handy, vielleicht sogar bereits ausgedruckt», versicherte Bevilaqua.

«Grazie, Luigi, geht das, wenn möglich, sogar auf Englisch? Das würde uns sehr helfen, obwohl Italienisch ja eine unserer Landessprachen ist.»

«Caro, certo! We will try it the Shakespeare way … Adesso, a più tardi», worauf sich der Italiener vom Tisch erhob und sich vorübergehend verabschiedete. Es gab Momente, da erinnerte ihn Bevilaqua mit seiner typischen Italianità an Commissario Brunetti aus Venedig.

«Holger, was gibt es nach der Durchsuchung zu beachten?»

«Nun, J. R., von deutscher Seite her werden wir ein Protokoll aufnehmen und dann mit dir in Kontakt bleiben, für den weiteren Verlauf eurer Recherchen. Zwar können wir ein Verbrechen nicht ausschliessen, haben aber keine Verdachtsmomente, sodass wir nicht aktiv werden, da Decorvet deine Landsmännin, eh … Landsfrau ist.»

«François, Adi?»

«Nun, ich denke nicht, dass sich unser Aussenministerium in Wien einschalten wird», schmunzelte König, «wir stehen aber bestimmt zur Verfügung, sollten sich die Ermittlungen ausweiten.»

«Woran denkst du, Adi?»

«An den Kunstmarkt. Wien war seit jeher eine Drehscheibe im internationalen Kunsthandel, im legalen, aber auch im illegalen. Wer weiss, ob sich da etwas ergibt.»

«Herr König! Ich muss aufs Heftigste gegen diese Andeutung protestieren! Frau Decorvet auch nur gedanklich in die Nähe einer illegalen Kunstszene zu bringen, das ist ungeheuerlich!», ärgerte sich Ruth Bär.

«Frau Bär, ich möchte nicht missverstanden werden …»

«Diese Äusserung kann man gar nicht missverstehen, Herr König.»

«Wissen Sie, vor allem in Zürich, da …»

«Nein, Herr König, das brauche ich mir nicht weiter anzuhören, ich ziehe mich zurück!», worauf Ruth Bär sich nach dem Abgang von Luigi Bevilaqua ebenfalls verabschiedete.

Die folgenden Augenblicke hätte man durchaus als gereizt bezeichnen können. Es war François Hommard, der die Spannung abzubauen begann, indem er die Worte seines österreichischen Kollegen aus Innsbruck in einen grösseren Kontext setzte und darauf hinwies, dass Österreich vor allem nach dem Krieg ein Tummelplatz für Raubkunst und Kunstschieberei war, worauf Adalbert König mit einem Kopfnicken die Äusserungen des Franzosen bestätigte und Worte fand, die wirklich zur Beruhigung beitrugen, auch bei Prisca Antoniazzi.

«Wissen Sie, Herr König», erklärte sie, «Ruth Bär hat zu Beginn der Karriere von Fiona Decorvet ganz schön viel Geld in die Hand genommen, um ihr diesen Start zu ermöglichen, deshalb ihre Überreaktion, sie wird sich schnell wieder beruhigen, sie ist eine Impulsive, wir kennen sie nicht anders, nicht wahr, meine Damen?», die mit Kopfnicken und Schmunzeln dieses Intermezzo abschlossen.

Ritter hatte seinerseits erfahren, dass Ruth Bär ihrer Freundin nur beim Aufbau ihrer Galerie in Bern geholfen hatte, die Zürcher Niederlassung vermochte Fiona Decorvet finanziell selber zu stemmen. Weil er wusste, dass Claudia Lüthi daran war, die Handydaten und weitere Angaben zur Vermissten zu ermitteln, benutzte er die Gelegenheit, den drei Damen einige Fragen zur Zürcher Galerie zu stellen. Just als er damit beginnen wollte, gesellte sich Ruth Bär mit ein paar entschuldigenden Worten wieder an den Tisch.

Avantgarde Zürich eröffnete 2009 an der Bahnhofstrasse in Zürich, unweit vom Paradeplatz. Fiona Decorvet führte die Galerie die ersten paar Monate selber, um den «Berner Geist» in die Limmatstadt zu transplantieren, wie sie sich jeweils ausdrückte. Es war dies eine Selbstsicherheit sondergleichen, denn üblicherweise stellen sich Berner von selber in den Zürcher Schatten, ohne dass sie dafür einen besonderen Grund haben. Eine Art angeborener Masochismus. Besondere Freude hatten die Mutzen, wie sie wegen des Wappentiers primär im Sport genannt wurden, wenn die Zürcher Grund zur Klage hatten, vor allem in wirtschaftlicher Sicht, aber auch der Abstieg der Zürcher Grashoppers aus der höchsten Spielklasse im helvetischen Fussball wurde mit einer Art Wohlwollen zur Kenntnis genommen. Da war die Schadenfreude bei den vielen städtischen, kantonalen und eidgenössischen Beamten im Kanton Bern jeweils grenzenlos. Das galt im Übrigen nicht bloss für die Berner, die mit Beppi bezeichneten Einwohner Basels standen mit Grinsen in Richtung Zürich ebenfalls nie zurück.

«Frau Bär, wie und wann fand die Ablösung von Frau Decorvet als Geschäftsleiterin in Zürich statt?»

«Fiona wusste, dass sie auf die Dauer die beiden Galerien nicht selber führen konnte. Sie erzählte mir in den ersten Monaten 2010 – an den genauen Zeitpunkt erinnere ich mich nicht mehr –, dass sie eine interessante junge Frau kennengelernt hatte, 34-jährig, eine Ukrainerin ursprünglich aus Prypjat, die ihren Master in Kunstgeschichte an der Universität Zürich abgelegt und seither auf dem Gebiet der zeitgenössischen Kunst gearbeitet hatte.»

«Prypjat», meldete sich HH zu Wort, «das ist doch jene Stadt in der Nähe von Tschernobyl, die nach der Explosion und dem GAU des Atomkraftwerks restlos evakuiert werden musste, ich konnte sie letztes Jahr selber besichtigen. Horror.»

«Herr Herrlich, was ist damals eigentlich passiert? 1986, wenn ich mich nicht irre?»

«Sie irren sich nicht. Und sofern es unsere Aufgabe in Bezug auf Frau Decorvet nicht tangiert, bin ich gerne bereit, Ihnen einige Informationen zu diesem beispiellosen Super-GAU zu machen, wobei diese natürlich in keinem Zusammenhang mit Frau Rudenko stehen, die damals – ich rechne schnell … – erst knapp zehn Jahre alt war, als es passierte.» Niemand hatte etwas gegen diese Ausführungen.

Tschernobyl, 26. April 1986

Bevor er auf die Ereignisse rund um den GAU in der Ukraine zu sprechen kam, räumte Herrlich gleich mit einer Verwechslung auf. Dass man von Tschernobyl spreche, hänge mit der Geschichte zusammen, korrekt wäre es nämlich, in Zusammenhang mit der atomaren Katastrophe Prypjat zu erwähnen. In der Tat: Als man in den sechziger Jahren mit dem Bau der Atomanlage ungefähr 120 Kilometer von Kiew entfernt begann, gab es in der Nähe nur das kleine Städtchen Tschernobyl, das im späten zwölften Jahrhundert gegründet worden war, deshalb der Name, gleichbedeutend mit der atomaren Katastrophe. Parallel zu den Atomkraftwerken auf der grünen Wiese begann man nämlich mit dem Bau der Retortenstadt Prypjat, nur knapp drei Kilometer von den AKW entfernt. Die Stadt sollte später Platz für über 50‘000 Menschen bieten, die Energieanlage insgesamt zwölf Reaktoren aufweisen. Damit wäre die Gesamtanlage Чернобыльская АЭС им. В.И. Ленина, die Tschernobyler Lenin-Kraftwerke, die grösste ihrer Art weltweit gewesen. Es ist denn auch Prypjat, das sich seither als Geisterstadt präsentiert, ohne Lebewesen.

«Wie müssen wir uns dieses Prypjat denn vorstellen, Herr Herrlich?», wunderte sich Prisca Antoniazzi, worauf der 56-Jährige kurz überlegen musste. Er fand aber einen für alle Frauen nachvollziehbaren Vergleich.

«Frau Antoniazzi, ich war schon in Bern, dreimal, genauer gesagt, unter anderem bei Kollega Ritter, und liebe die Toblerone. Die Fabrik hinter ihrer silbernen Hülle habe ich leider nur von aussen sehen können, aber die 400-Gramm-Version der dreieckigen Schokolade im Einkaufscenter Westside nebenan gekauft. Stellen Sie sich nun die vielen Hochhäuser im Westen von Bern vor und multiplizieren diese mit zehn. Samt Läden zum Einkaufen, Stadtverwaltung, Kinos, Fussballstadion, Vergnügungspark, Spital, Polizei- und Feuerwehrkasernen, Kongresshotel, um nur einige Beispiele zu nennen.»

«Und diese Häuser stehen jetzt alle leer?», stellte Luzia Cadei eine Anschlussfrage.

«Nicht nur die Häuser, Frau Cadei, es handelt sich um eine totale Geisterstadt, ohne jegliches Leben. Nicht einmal Hunde oder Katzen gibt es.» «Und weshalb das?»

«Die Haustiere wurden damals alle getötet, weil sie in ihrem Fell möglicherweise kontaminiert wurden. Es gibt heute einzig wilde Tiere – Füchse, Rehe, Hirsche –, die in der Umgebung zu sehen sind.»

Schweigen in der Runde. Nach einigen Sekunden meldete sich HH wieder zu Wort.

Für die Nacht des Freitags, 25. auf den 26. April 1986, war lediglich eine Sicherheitsübung geplant, in deren Verlauf ein vollständiger Stromausfall in Reaktorblock 4 simuliert werden sollte. Eigentlicher Grund dafür: ein längst vorgesehenes Herunterfahren der Anlage im Hinblick auf Routineunterhaltsarbeiten. Im Rahmen des Experiments sollte gezeigt werden, dass selbst nach einer Reaktorabschaltung aufgrund von Stromausfall die noch vorhandene Rotationsenergie der auslaufenden Turbinen ausreicht, um die Zeit bis zum vollen Anlaufen der Notstromaggregate zu überbrücken. Was aber passierte, erinnert zwingend an den bekannten Zauberlehrling mit seinen Besen.

Den entscheidenden Konstruktionsfehler der Anlage konnten die Ingenieure im Verlaufe des Abends nicht kennen: Dass die gelieferten Angaben bei geringer Leistung extrem unzuverlässig waren, sodass plötzlich von überall her Alarmsignale aufheulten, was zu einem Chaos im Kontrollraum mit einer Kettenreaktion von menschlichen Fehlmanipulationen führte. Von diesem Moment an war die bevorstehende Katastrophe nicht mehr aufzuhalten, der Reaktor RBNK-1000 nicht mehr zu beherrschen. Es floss – aufgrund der Fehlüberlegungen – viel zu wenig Wasser in das System, der Druck im Kern stieg unaufhaltsam an, was die Ingenieure veranlasste, die sofortige Notabschaltung des Reaktors einzuleiten.

Eine Notabschaltung führt in der Regel dazu, dass sämtliche Kontrollstäbe gleichzeitig in den Reaktorkern eingefahren werden. Da die Steuerstäbe im Reaktorblock 4 aus Grafit bestanden, wurde die Kettenreaktion statt gebremst sogar noch gefördert, der Leistungsanstieg betrug innert weniger Minuten mehr als das Hundertfache. Durch die enorme Hitze von über 3000 Grad und den unglaublichen Druck kam es zu zwei Explosionen, die dazu führten, dass das Dach des Reaktors weggesprengt wurde. Durch das jetzt offene Dach gelangte Luft in den Reaktor und das heisse Grafit geriet in Brand. Resultat: Ein noch nie erlebter oder simulierter GAU in einem Atomkraftwerk.


Dieser Spielpark in Prypjat hätte am 1. Mai 1986 eröffnet werden sollen. Es kam nie dazu.

«Was passierte nach dieser Explosion?», fragte Ruth Bär nach.

«Frau Bär, sowohl die AKW als auch die Stadt waren Vorzeigeobjekte der damaligen UdSSR, die Behörden der Region stolz darauf. Um den Ruf ihrer beiden Juwelen nicht zu schädigen, hielten sie sich mit Informationen 36 Stunden zurück, die Bevölkerung wurde im Ungewissen gelassen, Moskau schon gar nicht orientiert. Höhepunkt dieser Desinformationskampagne: Der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michael Gorbatschow, erfuhr vom GAU erst drei Tage nach dem Unfall – und das erst noch von schwedischen Ingenieuren, die, in einem eigenen Atomkraftwerk arbeitend, eine ungewohnte atmosphärische Veränderung über Europa festgestellt hatten.»

Als man endlich das Ausmass der Katastrophe realisiert hatte, war es für viele Menschen zu spät, die ersten Helfer am Unfallort – mit völlig unzureichender Schutzkleidung – bereits Stunden später tot. Niemand war auf diesen GAU vorbereitet, entsprechend mangelte es an allem, nicht einmal für die Kinder waren genügend Jodtabletten vorhanden, die Feuerwehr und Polizei unterdotiert, Schwangeren befahl man umgehend eine Abtreibung. Erstaunlicherweise kam es zu keiner Massenpanik, weil die Behörden immer wieder beteuerten, die Sache vollständig unter Kontrolle zu haben. Sie sprachen denn auch nur von einem «Störfall», der sich erst noch mitten in der Nacht ereignet hatte und somit praktisch von niemandem wahrgenommen wurde.

«Was man sich unbedingt in Erinnerung rufen muss», erklärte Herrlich, «ist der Umstand, dass die Rettungskräfte seinerzeit einfach abkommandiert wurden, sie Befehle auszuführen hatten. Es gab keine Befragungen, wer sich denn freiwillig melden würde. Tausende von Arbeitern und Armeeangehörigen wurden in den Wochen und Monaten nach der Katastrophe zu Tätigkeiten am und im Reaktor gezwungen, die den sicheren Tod bedeuteten, auch Jahre später. Widerstand zwecklos.»

 

Am Nachmittag des 27. April, 36 Stunden nach der Explosion, musste es plötzlich schnell gehen, sehr schnell. Mit über 1000 Bussen wurden die 45 000 Bewohnerinnen und Bewohner aus Prypjat innerhalb weniger Stunden evakuiert und in die Region von Kiew gefahren. Überall, wo gerade Betten zur Verfügung standen, brachte man sie unter: in Turnhallen, Altersheimen, Spitälern. Um eine Massenpanik zu verhindern, versprach man ihnen, dass sie in drei Tagen nach Prypjat zurückkehren könnten und somit nur das Notwendigste mitzunehmen hatten. Tiere mitzunehmen war nicht erlaubt, aus den bereits erwähnten Gründen. Aber: Die Menschen aus Prypjat sollten ihre Wohnungen und Tiere nie mehr sehen. Ähnlich erging es den Bewohnenden unzähliger Dörfer in der Region, die Menschen wurden zwangsumgesiedelt, viele ihrer Wohnorte zerstört und die Häuser vergraben, weil kontaminiert.

«Holger, ich habe gelesen, dass die Häuser in Prypjat leer und zerstört sind. Wie denn das?»

«J. R., das ist korrekt. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde gestohlen, die Stadt im grossen Stil geplündert. Das alles passierte vor allem in den Jahren 1990 und 1991, als die Sowjetunion zerbrach, sich auch aus der Ukraine zurückziehen musste und die örtlichen Behörden mit der Situation völlig überfordert waren. »

«Was ist mit dem Diebesgut passiert?»

«Praktisch ausnahmslos wurde es auf dem Schwarzmarkt verkauft: Möbel, Velos, Motorräder, Autos – wobei viele Fahrzeuge gar nicht mehr funktionierten, weil von der Radioaktivität fahruntüchtig gestrahlt. Speziell Elektronik wurde gut verkauft, zum Teil aus der Kommandozentrale einer riesigen Radarstation ausgebaut und gestohlen.»

«Stimmt, ich habe einen Bericht darüber gelesen. Streng geheim, hiess DUGA Radar.»

«J. R., brillant», sagte HH zum Erstaunen aller, er, der mit Komplimenten normalerweise hinter dem Berg hielt. «Er war 800 Meter lang, bis zu 150 Meter hoch, riesig, und ist noch heute aus grosser Distanz zu sehen.»

Was weder Plünderer noch Käufer, die sich ein vermeintliches Schnäppchen gesichert hatten, wussten: Praktisch ausnahmslos wiesen die gestohlenen Güter eine starke radioaktive Strahlung auf.

«Holger, wie kann aber eine Stadt unbewohnbar bleiben, du aber konntest sie besuchen? Da geht für mich etwas nicht auf …», argumentierte Ritter.

Es war in der Tat eine gute Bemerkung, die HH jedoch leicht zu kontern wusste: Der 2017 über die Havarie gestülpte Sarkophag verhindert zwar das Austreten von Radioaktivität in die Luft. Die Böden aber bleiben auf ewig mit Plutonium 239, Cäsium 137 und Strontium 90 belastet, ganz zu schweigen von den 190 Tonnen mit schwerst radioaktivem Material im Inneren des Sarkophags, die nicht entsorgt werden können und in Zukunft weitere schwere Umweltschäden anrichten werden. Diese Schwermetalle sinken im Laufe der Zeit immer tiefer ins Erdreich. Zwar hat man mit dem Errichten des Sarkophags – der mit seiner silbernen Aussenhülle und mit viel Fantasie an die silberne Toblerone-Produktionsstätte in Bern erinnert – in seinem Innern auch eine ferngesteuerte Art von Entsorgungsanlage gebaut, welche die vorhandenen 190 Tonnen Material umlagern und neu in Särge umverteilen soll – aber wohin damit?

Besucher dürfen deshalb die vorgeschriebenen Pfade nicht verlassen, dürfen nichts vom Boden aufheben, die benutzten Schuhe wirft man nach dem Besuch am besten gleich weg. Der Besuch des Geländes ist einzig mit örtlichen «Reiseleitern» ab Kiew möglich, es gibt bis nach Prypjat drei scharfe militärische Kontrollen.

«Ich selber bin kein Gegner von Atomenergie, denke auch, dass die Kernkraftwerke in Deutschland und auch in der Schweiz auf einem technisch anderen Niveau als die alten UdSSR-Reaktoren sind, dennoch hat mich der Besuch betroffen gemacht. Erinnern wir uns: Es war menschliches Versagen, das zur Katastrophe geführt hat. Wäre das theoretisch nicht auch bei uns in Westeuropa möglich? Nicht alle AKW sind über jeden Zweifel erhaben …», sagte HH, ohne jedoch seinen französischen Kollegen anzuschauen.

«Das möchten wir uns nicht vorstellen», sagte Ruth Gnädinger, «im 30-Kilometer-Radius von Mühleberg liegen zum Beispiel Fribourg, Bern und Thun, um nur diese zu nennen.»

«Stimmt, und diese müssten von einem Tag auf den anderen aufgegeben werden. Dieses Chaos wäre beispiellos.»

«Verkehrszusammenbruch, Plünderungen, Aggressionen mit vielen Toten.»

«Frau Gnädinger, denken wir die Sache lieber nicht zu Ende. Was verblüffend ist: Überall in Prypjat hat sich die Natur zurückgemeldet, durch Beton und Asphalt hindurch. Zum Teil sieht man gewisse Gebäude gar nicht mehr, weil sie inzwischen hinter hohen Bäumen versteckt sind.»

«Also wie in Franz Hohlers Die Rückeroberung.»


Denkmal für jene Männer, die zuerst an die Arbeit mussten, die sogenannten «Liquidatoren» …

Holger Herrlich reichte während seines Vortrags zum besseren Verständnis Fotos vom Sarkophag und von Prypjat auf seinem Handy herum. Nach diesen Ausführungen nahm Joseph Ritter den Faden wieder auf, um den Kreis zu schliessen, direkt in Richtung Victorija Rudenko, wollte von den Damen nochmals – und mit Nachdruck – wissen, ob es nicht zuletzt wegen Nazar Klitschko «atmosphärische Störungen» zwischen Inhaberin und Geschäftsleiterin der Zürcher Niederlassung gebe, was wiederum verneint wurde, womit sich der Berner Kriminalist aber nicht zufrieden gab, nicht zufriedengeben konnte.

«Frau Bär, jetzt erleben Sie live, wie hartnäckig Ermittler sein können. Erinnern Sie sich noch, aus welchen Gründen und unter welchen Umständen Frau Rudenko eingestellt wurde?»

«Fiona, also Frau Decorvet, ist diese Verpflichtung nicht eingegangen, ohne vorher Erkundigungen über Frau Rudenko einzuziehen, die Auskünfte waren hervorragend, weshalb die Frau nach einer sechsmonatigen Probefrist fest angestellt wurde. Zur vollen Zufriedenheit von Fiona», worauf Ruth Gnädinger und Luzia Cadei beide mit einem «Ja, das stimmt» die Worte ihrer Freundin bestätigten.

«Moment mal, meine Damen … Da verabschiedet sich also ein Ehemann in Richtung einer Angestellten seiner Ehefrau und dennoch ist alles Friede, Freude, Eierkuchen? Ich bitte Sie …»

«Also, es ist so, Herr Ritter …», erwiderte Prisca Antoniazzi zögerlich.

«Jetzt bin ich aber gespannt, Frau Antoniazzi, wie ist es denn so?», worauf sogar die Schauspielerin leicht errötete, als stünde eine Beichte grösseren Ausmasses bevor.

«Nun, wie soll ich es sagen?»

«Am besten, wie es halt so ist», insistierte Ritter.

«Fiona hat zu Männern eine eher ungewöhnliche Beziehung. Ihre erste Ehe war ein Aufbegehren ihren Eltern gegenüber, jene mit Nazar Klitschko als gutaussehendem Diplomat auf der Botschaft der Ukraine in Bern als eine Türöffnung in Richtung Haute Volée zu sehen. Ich denke nicht, dass gross Liebe im Spiel war, deshalb schliesslich auch das Laisser-faire mit Victorija Rudenko.»

Nach dieser Bemerkung geschah Erstaunliches, denn plötzlich begannen die vier Damen über das Liebesleben von Fiona Decorvet zu reden, zögerlich zwar nur, sozusagen hinter vorgehaltener Hand, aber Ritter erfuhr dennoch das eine oder andere, das als Puzzleteil bei allfälligen Ermittlungen von Nutzen sein konnte. Dass die Vermisste momentan zumindest in einer «vorübergehenden Beziehung» stand, so Prisca Antoniazzi, schien ausser Frage zu stehen. Begründet wurde diese Aussage mit der Feststellung, dass man sich mit Fiona Decorvet in den letzten Wochen nur schwerlich verabreden konnte, «etwas, was sonst die normalste Sache der Welt ist», wie Ruth Bär ergänzte.

Weil sie das Privatleben der Galeristin nicht gross interessierte, verabschiedeten sich die übrigen drei Herren von der Tischrunde, um noch eine Weile auf Deck zu gehen. Joseph Ritter verabredete sich mit ihnen um 11.30 Uhr bei der Rezeption, in Erwartung der Ankunft der Hamburger Kollegen mit ihren Suchhunden. Diese Verabredung erging sicherheitshalber auch an Luigi Bevilaqua als SMS.