Fehlschuss

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«Ja? Was ist?»

Wälchli und Brunner stellten sich vor und fragten nach den Schlüsseln zum Büro von Arthur Aufdermauer.

«Wozu das? Was wollen Sie? Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?»

«Herr Schneider, den brauchen wir in diesem Fall nicht, wir wollen uns nur schnell umsehen, wir rühren nichts an, alles andere wird dann von unseren Kollegen vom KTD erledigt», antwortete Elias Brunner, im Wissen, dass dieses Vorgehen nicht ganz dem Lehrbuch entsprach.

Widerwillig nahm Schneider die Schlüssel zum Büro im zweiten Stock vom Schlüsselbrett, stopfte sich das Hemd in die Hose und schloss – den Polizisten den Rücken zukehrend – die Türe ab. «Ein Wunder, wenn der mit seinem Pegelstand heil hier runterkommt», flüsterte Brunner seiner Kollegin zu. Das war aber der Fall – möglicherweise schlicht eine Frage der Übung.

«Da, bitte schön, schauen Sie sich um, ich bleibe aber hier, passe auf, dass Sie nichts anrühren oder sogar abtransportieren. Sonst erzähle ich das dem Aufdermauer, wenn er wieder kommt. Wo ist er übrigens?»

«Er wurde aufgehalten, kommt heute nicht mehr ins Büro. Was können Sie über ihn sagen?», fragte Brunner.

«Nicht viel, er ist ein angenehmer Typ, verursacht keinen Stress, obwohl zwischendurch aufbrausend, vor allem in letzter Zeit. Ich habe keine Ahnung, was er genau macht. Mit Finanzen oder sowas. Aber einmal, da …», sagte Schneider, brach den Satz jedoch abrupt ab.

«Aber einmal, was passierte da?», hakte Brunner nach.

«Da war ein Riesenkrach, ich habe nicht genau zugehört, worum es ging …»

Vielleicht konnte sich Schneider ganz einfach seines Alkoholkonsums wegen nicht genauer erinnern, dachte sich der Kriminalbeamte.

«Und wann war das, Herr Schneider?», wollte Wälchli wissen.

«Weiss nicht mehr, vielleicht vor zwei Monaten, draussen war es jedenfalls kalt, daran erinnere ich mich.»

Nach diesen nicht unbedingt ergiebigen Auskünften am Bahnhofplatz 3 machten sich Regula Wälchli und Elias Brunner in Richtung Muri auf, an die Pourtalèsstrasse, wo Aufdermauer in der Nähe von vielen bekannten Berner Persönlichkeiten wohnte. Sein freistehendes Haus hatten sie schnell gefunden, sie wagten auch den Versuch, an der Haustüre zu klingeln, wo jedoch niemand öffnete. Ohne Durchsuchungsbeschluss mussten sie sich darauf beschränken, Nachbarn zur Person von Arthur Aufdermauer zu befragen. Dazu mussten sie allerdings Farbe bekennen und nach dem Vorzeigen ihrer Ausweise auch den Grund ihres Interesses angeben.

Aufdermauer lebte seit 2004 im Haus, das er von einem ehemaligen Schweizer Botschafter in London erworben hatte, als dieser in die nahe gelegene Altersresidenz ElfenauPark umsiedelte. Die Nachbarn beschrieben Aufdermauer als «unauffällig» und «zurückgezogen». Welche Geschäfte er genau tätigte, war unklar, allerdings schien er damit Erfolg zu haben. Aussagen zufolge standen in seiner Doppelgarage ein Jaguar Type E sowie ein Maserati Biturbo Coupé, beides ältere Fahrzeuge, die bei Liebhabern hoch im Kurs standen. Vor dem Haus war sein BMW zu sehen, sein Alltagsauto.

«Da ist er wohl mit dem ‹Worb-Bähnli› zur Arbeit in die Stadt gefahren», kombinierte Brunner.

«Eine sehr scharfsinnige Überlegung, Herr Kollege, Respekt!», bekam er als abschliessende Antwort. Mehr war an diesem Nachmittag über Aufdermauer nicht in Erfahrung zu bringen.

Inzwischen war es 08:30 Uhr geworden, an diesem Dienstag, 6. Mai. Der Kommandant der Kantonspolizei hatte angeordnet, dass das Team Ritter für seine weiteren Ermittlungen, da in beiden Fällen – Ferrari und Fehlschuss – Tötungsdelikte vorlagen, durch zwei weitere Kollegen aus dem Bereich «Leib und Leben» verstärkt wurde. Mit Peter Kläy (32) und Markus Werren (49). Fünf Minuten später standen sechs Leute vor den beiden Plexiglaswänden, die eine mit «Bremgartenwald» angeschrieben, die andere mit «Marktgasse».

Die Aufgabenverteilung ging schnell über die Bühne: Ritter wollte mit Peter Kläy den ungefähr 50-jährigen Mann namens Martin Bigler befragen, der gestern in unmittelbarer Nähe des Opfers stand und behauptete, man habe eigentlich ihn ermorden wollen. Eine Vernehmung war laut dem Arzt vor Ort nicht möglich, da der Mann unter einem schweren Schock stand, nicht ansprechbar war und deshalb zur weiteren Beobachtung hospitalisiert werden musste. Man stellte Ritter einen Besuch im Inselspital für heute Vormittag in Aussicht. Brunner / Wälchli ihrerseits hatten den Auftrag, im Büro und im Haus Aufdermauer nach möglichen Hinweisen einer ebenso möglichen Tat zu suchen, dieses Mal mit Durchsuchungsbeschluss, obwohl es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit um einen Fehlschuss gehandelt hatte.

Stephan Moser und Markus Werren wiederum durften auf Spurensuche in Zusammenhang mit dem ausgebrannten Ferrari gehen. Was für ein Umfeld hatte Thomas «TomCat» Kowalski? Vor allem aber: Wer war das zweite Opfer? Nicht bloss die Staatsanwaltschaft wartete auf Erkenntnisse und Antworten – auch die Medienschaffenden.

Joseph Ritter hatte um 09:30 Uhr einen Termin beim Staatsanwalt. Er schätzte Max Knüsel zwar als Menschen, nicht aber unbedingt als Staatsdiener, der mit banalen Fragen wie «Im Moment kumulieren sich die Fälle, nicht wahr? Ritter, haben Sie an dieses gedacht? An jenes?» jeweils mehr an den Nerven zerrte als zur Aufklärung eines Falles beitrug. Nun gut, das war wohl seine Aufgabe. Und an ihm gab es kein Vorbeikommen. Zudem war Knüsel darauf erpicht, dass die Polizei ihre Arbeit klar innerhalb der Legalität verrichtete, was in bestimmten Einzelfällen nicht so ganz einfach zu befolgen war, wollte man an gewisse Fakten oder entscheidende Aussagen herankommen. «Tanz auf dem Vulkan» hiess das nicht nur bei den Leuten von «Leib und Leben,» und alle wussten, dass dieses Vorgehen in Ausnahmefällen Konsequenzen nach sich ziehen konnte.

Deshalb existierte der «Tanz auf dem Vulkan» offiziell nicht, schriftlich schon gar nicht.

Zehn Minuten bevor sich Ritter zum Staatsanwalt aufmachen wollte, kam Stephan Moser mit News vom KTD.

«Steff, mach es nicht so spannend. Was haben die Kollegen herausgefunden?» «Aus den Untersuchungen des IRM geht hervor, dass der Schusskanal, also der Eintritts- und Austrittswinkel des Geschosses …» – in diesem Moment wurde Moser von Regula Wälchli unterbrochen.

«Danke, Stephan, wir wissen, was ein Schusskanal ist …»

«… der Schusskanal darauf schliessen lässt, dass Aufdermauer von der gegenüberliegenden Seite der Marktgasse von hinten erschossen wurde, vermutlich aus dem dritten oder vierten Stock, wahrscheinlich Marktgasse-Nummern zwischen 46 und 52», beendete Moser seine Ausführungen, ohne sich von der Zwischenbemerkung seiner Kollegin beirren zu lassen.

Der KTD identifizierte das Geschoss zudem als «Spezialmunition des US-Herstellers Barnes Inc.», was auf ein neuartiges Hightech-Gewehr schliessen liess.

«Und das heisst?», fragte Regula Wälchli.

Joseph Ritter wusste über diese neue Waffe Bescheid, er hatte kürzlich in einem Fachmagazin darüber gelesen. «Die sogenannte Smart Rifle ist etwas ganz Neues. Gut aufpassen.»

Staunen – einmal mehr – über den Chef.

Die «Smart Rifle AR», ein «intelligentes» Gewehr, war in Zusammenarbeit mit Spezialisten von Kampftruppen und Sondereinheiten entwickelt worden und seit Kurzem in den USA auch legal im Fachhandel erhältlich. Das Besondere an diesem Scharfschützengewehr des Herstellers Trackingpoint aus Austin / Texas: Damit mutierten selbst Laien ohne grosse Ausbildung zu Scharfschützen. Möglich wurde dies durch die elektronische Zielerfassung der Hightech-Waffe, gesteuert über ein integriertes Linux-Betriebssystem. Hatte der Schütze sein Zielobjekt erst einmal erfasst, wie im Fall des Anvisierten in der Marktgasse, fixierte er es per Knopfdruck, womit eine rote Lasermarkierung fest mit dem anvisierten Ziel verbunden war, auch wenn es sich bewegte.

Bei nur leicht geöffnetem Fenster war der Lauf – mit einem speziellen Schalldämpfer versehen – fast nicht zu sehen. Schon gar nicht um 12:12 Uhr, weil die Angestellten aus den gegenüberliegenden Büros und Dienstleistungsbetrieben oberhalb der Modehäuser Wartmann und Ciolina sowie der Credit Suisse bei diesem schönen Wetter praktisch allesamt draussen in der Mittagspause oder mit Privatem beschäftigt waren. Einzig der richtige Augenblick zum Abdrücken musste noch gewählt werden und selbst dabei half das Gewehr seinem Träger: Je näher ein Schütze der Lasermarkierung mit dem Fadenkreuz kam, desto leichter liess sich der Abzug betätigen. Vorausgesetzt, der Schütze hatte sich beim Anvisieren des Ziels nicht täuschen lassen und den Falschen anvisiert.

Ritter nahm Mosers Bemerkung wieder auf: «Marktgasse 46 bis 52? Dort liegt ja auch die Klubschule, an der Marktgasse 46, wo wir zum Zeitpunkt des Mordes sassen, Lüthi, Jenni, Egli und ich.»

«Ganz ruhig, J. R., es kommen ja laut KTD auch die Nummern 48, 50 und 52 in Frage, du solltest keine voreiligen Schlüsse ziehen …», versuchte Wälchli den Boss zu beruhigen.

«Dennoch ergeht an dich und Elias ein neuer Befehl: Bevor ihr im Büro und im Haus Aufdermauer auf Spurensuche geht, checkt ihr mal die dritten und vierten Stockwerke der Häuser 46–52. Überprüft jedes Fenster, respektive erkundigt euch, ob gewisse Zimmer und /oder Räume gestern zur Tatzeit unbesetzt waren.»

Es schien, dass das Duo Wälchli / Brunner die stattliche Anzahl möglicher Fenster, von wo aus möglicherweise geschossen wurde, vor ihrem geistigen Auge sah, jedenfalls wirkten ihre Mienen nicht gerade heiter.

6 So sei es halt.

Der Fall Martin Bigler

Joseph Ritter konnte nicht gerade behaupten, dass sein Besuch bei Staatsanwalt Max Knüsel im Bereich des Smalltalks einzuordnen gewesen wäre. Aufgrund der noch dünnen Beweislage in beiden Fällen – vor allem in Zusammenhang mit dem Ferrari, dessen Ausbrennen schon vier Tage zurücklag – nahm der Druck auf die Ermittlungsbehörden zu. Umso interessanter war das anschliessende Gespräch gegen 11:00 Uhr, im Beisein von Peter Kläy, mit Martin Bigler im Inselspital, der sich vom Schock des Vortages einigermassen erholt hatte und laut den Ärzten jetzt uneingeschränkt vernehmungsfähig war.

 

Bigler sass an einem Tisch in einem Einzelzimmer, sportlich-lässig gekleidet. Eine Pflegefachfrau war ebenfalls anwesend.

«Der Arzt meinte, ich könne spätestens nach dem Mittagessen nach Hause», sagte er als Erstes zu Ritter und Kläy, noch bevor sie sich richtig die Hand gedrückt hatten.

«Sie wissen, weshalb wir hier sind?»

«Ja, schon, ich denke wegen des Vorfalls von gestern, nicht wahr?»

«Dem ist so. Bevor wir auf Ihre Aussagen eingehen, möchte ich wissen, wer Sie sind. Gestatten Sie, dass ich während unseres Gespräches ein Tonband mitlaufen lasse und Peter Kläy, mein Kollege, sich mit am Gespräch beteiligt?»

Mit «Das wäre wirklich nett» übernahm Kläy die Wortführerschaft. «Übrigens meinte mein Kollege Ritter vorhin ein Aufnahmegerät, kein wirkliches Tonband …»

Nach dieser für ihn nicht gerade schmeichelhaften Feststellung schaute Ritter leicht säuerlich in Richtung Peter Kläy, anschliessend zur Pflegefachfrau hinüber und bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, dass sie sich anderen Aufgaben zuwenden könne. Die Krankenschwester verstand den Wink.

«Wenn Sie etwas brauchen, können Sie ganz einfach läuten.»

Martin Bigler war mit dem vorgeschlagenen Prozedere einverstanden.

Zu dritt sassen sie am kleinen Tisch im Zimmer des zehnten Stocks, mit einem Fenster in Richtung Schliern, Spiegel und Gurten, den Berner Hausberg, wobei die Sicht durch tief herunterhängende Wolken heute eingeschränkt war. Joseph Ritter und Peter Kläy sassen Martin Bigler gegenüber, auf dem Tisch stand das kleine Aufnahmegerät.

Mit «Herr Bigler, können wir damit beginnen, dass Sie uns zuerst Ihre privaten Verhältnisse schildern?» begann Ritter die Unterredung.

Martin Bigler war 48 Jahre alt, verheiratet und Vater zweier Töchter. Er war schätzungsweise 190 cm gross, bei vermuteten 85 Kilogramm Körpergewicht, hatte dunkelbraune kurze Haare und trug eine Brille mit schwarzer Fassung, die seinem Gesicht eine gewisse Strenge verlieh. Die Familie wohnte in einem Einfamilienhaus in Säriswil, in der Gemeinde Wohlen, nordwestlich von Bern. Susanne Bigler, 44 Jahre alt, arbeitete Teilzeit im Inselspital als Pflegefachfrau.

«Sie meinen hier in der Insel? Hatte sie gestern Dienst, als Sie eingeliefert wurden?»

Bigler bejahte die Frage von Joseph Ritter.

«Sie war gestern Nachmittag hier, allerdings arbeitet sie auf einer anderen Abteilung, auf der Plastischen Wiederherstellungschirurgie im Flügel F-Süd. Selbstverständlich habe ich sie sofort benachrichtigen lassen.»

Allerdings erfuhr Susanne Bigler vorläufig nur, dass sich ihr Mann in unmittelbarer Nähe eines Verbrechens befand, nicht aber die näheren Begleitumstände. «Sie war es übrigens, die vorhin hier war.»

«Fahren Sie fort, Herr Bigler, bitte», sagte Ritter, sich darüber wundernd, dass Bigler seine Frau nicht vorgestellt hatte.

Ihr Gesprächspartner, mit einem akademischen Abschluss als Jurist, arbeitete seit knapp zehn Jahren als Beamter in leitender Stellung in einem Bundesamt, das sich jedoch nicht unter der Zirkuskuppel im federalen Palais am Bundesplatz befand. Dort waren nur gewisse Parteisekretariate einzelner Departemente und die Bundeskanzlei zu finden. Biglers sportliche Figur liess sich leicht erklären, als er Ritter und Moser erzählte, dass er passionierter Triathlet war und auch leidenschaftlich gerne Tennis spielte. Vor zwei Jahren hätten seine Frau und er in einem bekannten Country- und Golfclub im Freiburgischen mit dem Golfen begonnen.

«Als Ausgleich zum Stress im Alltag», wie er präzisierend sagte. Gar nicht in dieses Bild der Reichen und Schönen zu passen vermochten seine Hände, die rund um die Fingernägel aufgekratzt waren und die Bigler während des Gesprächs pausenlos malträtierte.

Joseph Ritter übernahm daraufhin die Gesprächsführung.

«Herr Bigler, gestern haben Sie behauptet, es habe sich um einen Fehlschuss gehandelt. Wie war oder wie ist das zu verstehen?»

«Weil ich erpresst werde und mit dem Tod bedroht worden bin.»

«Wenn dem so ist, wieso haben Sie sich nicht an die Polizei gewandt?»

«Weil es Sie nichts angeht und einzig meine Sache ist, deshalb.»

«Herr Bigler, spätestens seit gestern Nachmittag ist es nicht mehr nur Ihre Sache. Wir hören.»

Martin Bigler seinerseits verspürte keine grosse Lust, sich weiter mit den beiden Beamten zu unterhalten. Er schien das Opfer auch nicht gesehen zu haben, zumindest nicht bewusst, weil er zum Zeitpunkt des Verbrechens mit seinem Smartphone beschäftigt war.

«Mir geht es besser, ich kann vermutlich nach dem Mittagessen schon nach Hause.»

«Das haben Sie uns bereits gesagt. Nur ist es so, Herr Bigler: Entweder erzählen Sie uns alles rund um diese Erpressung, hier und heute, unter uns, oder wir lassen Sie offiziell in den Ringhof vorladen. Immerhin steht das Tötungsdelikt von gestern offenbar in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Ihnen, wie Sie ja selber sagen. Deshalb müssen wir von Amtes wegen Ermittlungen aufnehmen. Kennen Sie übrigens das Opfer, einen gewissen Arthur Aufdermauer?» «Aufdermauer? Nein, der Name sagt mir gar nichts.»

Bigler begann mit seiner Geschichte, erzählte sie aber nicht chronologisch, sondern in nicht zusammenhängenden Episoden, so wie sie ihm gerade in den Sinn kamen. Ritter und Moser konnten die einzelnen Mosaikteile dennoch zu einem Ganzen zusammenfügen. Es war eine wenig schmeichelhafte Geschichte, die sie da zu hören bekamen.

Mitte Mai des Vorjahres wurde Bigler an einen Polterabend eingeladen. Ein guter und betuchter Bekannter hatte sich mit seinen 50 Jahren zur allgemeinen Überraschung entschieden, doch noch den Hafen der Ehe anzulaufen. Gastgeber Robert Hofmann, CEO einer grossen ausländischen Fachmarktkette in der Schweiz, war in Gesellschaftskreisen der Hauptstadt gerne gesehen, nicht zuletzt wegen seiner attraktiven Braut, einer ehemaligen Kandidatin zur Wahl der Miss Schweiz, 18 Jahre jünger als Hofmann. Die beiden waren regelmässig auf den People-Seiten der einschlägigen Medien abgebildet, er in letzter Zeit als «begehrter Berner Bachelor». Insgesamt hatte Robert Hofmann an jenem Freitag ungefähr 50 Herren gegen 21:30 Uhr ins Restaurant Verdi eingeladen, zuunterst an der Gerechtigkeitsgasse, vis-à-vis des Hotels Belle Epoque. Dort hatten einzelne Teilnehmer infolge des zu erwartenden Alkoholkonsums vorsichtshalber gleich ein Zimmer für die Nacht reserviert.

Mehrere der anwesenden Herren – das ganze Altersspektrum zwischen 35 und 80 vertretend – kannte man ebenfalls aus den einschlägigen Klatschrubriken, vor allem aus der Gratiswochenzeitung «Berner Bär». Begonnen hatte der Polterabend vier Stunden zuvor, mit dem Foxtrail «Granit», einer Art moderner Schnitzeljagd quer durch die Stadt Bern. Anschliessend liess die bereits gut gelaunte Meute die Stadt an sich vorbeiziehen, im Oldtimer-Restaurant-Tram, Baujahr 1935, bevor man in zwei Keller eines der schönsten, weil geschmackvoll renovierten Restaurants in der Bundesstadt dislozierte, ins «Verdi».

Dort ging es hoch zu und her, jedes Klischee eines Junggesellenabschieds wurde zelebriert, auch mit drei nur leicht bekleideten Damen, die gleichzeitig aus drei übergrossen Torten stiegen. Überhaupt schien das Motto des Abends «Champagne!», «Girls!» und «Cigars!» gewesen zu sein, wobei die Cohibas und Montecristos aus Havanna auf offener Strasse geraucht wurden.


Einer der Kellerräume im Restaurant Verdi, wo der Polterabend von Robert Hofmann stattgefunden hatte.

«Wissen Sie, Herr Ritter, auch wenn das sonst nicht meine Welt ist, irgendwie wurde man im Laufe des Abends lockerer und zugänglicher.»

«Zugänglicher? Wie ist das denn zu verstehen?»

Wie sich herausstellte, waren unter den Gästen auch einige praktizierende und bekennende Schürzenjäger, die ihre diesbezüglichen Erfolgserlebnisse unverblümt ins Scheinwerferlicht stellten. «Den anderen überbieten» lautete dabei die Devise, obwohl einige der erzählten Intermezzi vom Wahrheitsgehalt höchst fragwürdig schienen, um es einmal diplomatisch auszudrücken. Über einen dieser Casanovas erzählte man sich, er würde wohl hemmungslos auch dem Tram Nummer 9 bis an den Guisanplatz in der Nähe des Stade de Suisse hinterherrennen, wäre es mit einer Schürze umwickelt.

«Irgendwann war plötzlich die Rede von sehr jungen Damen, die bereits in ihrem Alter giggerig7 auf echte Markenartikel von Louis Vuitton, Ed Hardy oder Dolce & Gabbana waren, die sie sich selber mit dem Taschengeld ihrer Eltern oder dem Ausbildungslohn nicht leisten konnten», erzählte Bigler weiter. «Einer der Anwesenden zeigte uns auch Fotos auf seinem Handy, verbunden mit der Aussicht, diese Teenager umgehend kennenlernen zu können, problemlos, diskret, in einem dafür geeigneten Hotel. Sie wissen schon, was ich meine …» «Wer war es, der die Fotos rumgezeigt hat?»

«Den Namen weiss ich leider nicht mehr …»

Die beiden Beamten nahmen Bigler diese Aussage nicht ab, liessen ihn aber für den Moment gewähren.

«Und da Sie – wie sagten Sie doch gleich? – ‹zugänglich› waren …»

«Ja, da habe ich diesen Gast gefragt, ob es denn möglich wäre, ein ganz bestimmtes Girl kennenzulernen, das mir besonders gefiel, weil sehr sexy auf dem Foto. Und sehr jung.»

Wie sich herausstellte, war das ohne Weiteres möglich, sogar noch in derselben Nacht, da die noch Minderjährige offenbar in der Region wohnte und mit dem Handy erreichbar war.

Der Gast habe ihm angeboten, sofort nachzufragen, ob das Mädchen während der Nacht noch frei sei. «Ich Idiot bin dann gegen Mitternacht zum nächsten Bancomaten gegangen und habe dort Geld abgehoben, laut Quittung um 00:09 Uhr.» «Wieviel?», wollte Kläy wissen.

«2000 Franken für die Liebesnacht, samt einem Hotelzimmer in der Stadt.»

«Im Belle Epoque?»

«Nein, in einem anderen Hotel, das offenbar dafür bekannt ist, dass man Zimmer quasi stundenweise mieten kann.»

Dass der edle Vermittler allenfalls ein Zuhälter der eleganteren Sorte für die obere Kaufkraftklasse hätte sein können, daran hatte Bigler nach eigenen Aussagen offenbar keinen Augenblick gedacht.

«Kunststück, das kennt man ja bei Männern unter Alkoholeinfluss, wenn dann das Gehirn ganz schnell nach unten rutscht, sämtliche Sicherungen durchbrennen und die Dame den Kunden im wahrsten Sinne des Wortes fest im Griff hat», dachte Ritter halblaut nach.

«Wie bitte?», kam die Frage von Martin Bigler.

«Nichts Wichtiges, fahren Sie fort.»

Gegen 01:00 Uhr, ungefähr eine Stunde nach dem Deal mit dem Vermittler, verabschiedete sich Bigler nach eigener Aussage vom Gastgeber, mit dem besten Dank für den tollen Abend, er gehe jetzt heim, weil er am nächsten Tag relativ früh aufstehen müsse, wegen eines Familientreffens. Bigler machte sich aber nicht auf den direkten Weg nach Säriswil, sondern zur angegebenen Hoteladresse. Der Vermittler habe ihm vorher gesagt, er brauche nur dreimal ganz kurz auf die Nachtglocke zu drücken, das Zimmer 24 sei reserviert und bereits zur Hälfte besetzt …

Und in der Tat: Nach dem dritten kurzen Drücken der Taste ging die Türe automatisch auf. Den Gang in den zweiten Stock hinauf nahm er, obwohl leicht schwankend, via Treppe in Angriff, fuhr nicht mit dem Lift, des Geräuschpegels wegen. Niemand sollte ihn bemerken. Als er die Türe zum Zimmer öffnete, hörte er leise Musik und sah im Licht einer Kerze die aufreizende Figur einer sehr jungen Frau auf dem Bett, nur halb zugedeckt.

«Schön, du hier, komm näher. Entspann dich …», sagte sie, in gebrochenem Deutsch, mit starkem Akzent.

Bigler erzählte davon, dass dann alles ziemlich schnell ging, dass die in Aussicht gestellten zwei Stunden lediglich die Maximaldauer des Aufenthaltes darstellten und er anderthalb Stunden davon nicht auskosten konnte. Nach seinem Orgasmus – dank geübter Massagetechnik – habe die junge Frau in ihrer Vuitton-Handtasche gewühlt und ihm kurz einen Ausweis gezeigt.

«Hier, schau Geburtsdatum, du soeben junges Mädchen gevögelt», sagte sie plötzlich in einem Jargon, der ihm zuwider war. «Wenn wieder Lust, sagen meinem Bekannten.»

 

Sekunden später stand das kleine Luder auf, mit einem Leintuch ihren Körper umhüllend. Nach einer kurzen Dusche zog sie ihre knallengen weissen Jeans, ein luftiges Top sowie schwarze Highheels an und verliess mit ihrer sündhaft schönen Figur und einem «Süsses Träume!» das Zimmer. Die Digitaluhr auf dem Nachttisch zeigte 01:51.

«Und wie hiess die Dame? Sie haben ja ihren Ausweis gesehen …», wollte Ritter wissen.

«Keine Ahnung, sie hatte wohl absichtlich ihren Daumen über den Namen gehalten, aber das Foto hat mit ihrem Aussehen übereingestimmt.»

Kläy und Ritter schauten sich an, keiner musste ein Wort sagen, denn sie wussten, was dem Visavis in diesem Moment durch den Kopf ging.

Bigler erzählte, was in den Tagen danach passierte. Am Montag bereits erhielt er einen Anruf auf seine Handynummer, Anrufer unbekannt. Der Mann teilte Bigler in zwei, drei kurzen Sätzen mit, er solle morgen Dienstag in seiner Post nach einem gelben Briefumschlag Ausschau halten, der an ihn mit «Persönlich» adressiert sei, und diesen sofort öffnen. Als Bigler nachfragen wollte, war die Verbindung bereits abgebrochen.

«Und? War das Couvert in Ihrer Post?»

Der Jurist bejahte.

«Und der Inhalt?»

«Einige ausgedruckte Fotos.»

«Und was war auf den Fotos zu sehen?»

Bigler musste zuerst tief durchatmen, die beiden Beamten ahnten, was jetzt folgen würde. Es stellte sich heraus, dass man Bigler eine Falle gestellt hatte. Aber wer? Auf einer der Aufnahmen, mit 00:55 Uhr gekennzeichnet, war die junge Frau, laut Aussagen Biglers, beim Betreten des Hotels zu sehen, 21 Minuten später Martin Bigler. Die Dame war auf einer dritten Aufnahme zu erkennen, wie sie um 01:52 Uhr das Hotel wieder verliess, Bigler eine knappe Viertelstunde später. Die Fotos waren von einem Zettel begleitet, der mit aus Zeitungen und Magazinen ausgeschnittenen Buchstaben vollgeklebt war: «Es gibt vom Hotel auch Innenaufnahmen, die deine Frau interessieren werden. Und die Sittenpolizei das Alter deiner Gespielin.»

Der Drohung waren Instruktionen beigelegt, in welchem Wortlaut ein Inserat auf der Seite «Treffpunkt» in der Unterrubrik «Einfach so» in der Berner Zeitung vom folgenden Samstag verfasst werden musste, um das Einverständnis Biglers zu einer einmaligen Zahlung zu signalisieren. Im Gegenzug würde er sämtliche vorhandenen Aufnahmen erhalten. Unterzeichnet war der Zettel mit «Jemand, der es gut mit dir meint». Da hatte sich also jemand stundenlang mit dem Ausschneiden von Buchstaben beschäftigt. Ein eher ungewöhnlicher Vorgang.

«Und was haben Sie gemacht?»

«Ich habe das Inserat aufgegeben, im vorgeschriebenen Wortlaut.»

«Und dann?»

Die Gereiztheit bei der Fragestellung war Ritter anzumerken, Kläy hingegen lehnte sich mit verschränkten Armen hinter dem Kopf zurück, so, als wisse er bereits, was jetzt folgen würde.

«Dann habe ich bezahlt. 20 000 Franken. Ich hatte telefonische Instruktionen erhalten.»

«Sie haben was!?»

«Ich habe bezahlt, ohne jemandem etwas zu sagen, die Polizei wollte ich nicht einschalten. Den Brief und die Fotos habe ich in den Schredder gesteckt, ich wollte kein Belastungsmaterial rumliegen haben. Aber die Erpressung geht weiter. Und die versprochenen restlichen Aufnahmen habe ich auch nie erhalten.»

«Jetzt brauche ich einen Schluck Wasser», sagte ein inzwischen sichtlich erzürnter Ritter. Er stand auf und griff nach der Literflasche Henniez und einem Glas, die beide auf dem fahrbaren Nachttisch neben dem Bett im Zimmer standen. «Das glaube ich jetzt aber nicht!», liess er Bigler wissen, wobei sein Zorn nicht zu überhören war und auch nicht zu übersehen, denn die ersten Tropfen aus der Flasche gerieten neben das Glas.

«Was hätten Sie denn an meiner Stelle gemacht, was?»

«Fällt Ihnen echt keine intelligentere Frage ein, Herr Bigler? Dreimal dürfen Sie raten. Nein, nur einmal!»

Bevor die Situation völlig ausser Kontrolle zu geraten drohte, unterbrach Peter Kläy die Redeschlacht. «Herr Bigler, haben Sie zufälligerweise Fotos vom Polterabend, irgendwo? Und wenn ja, mailen Sie sie mir bitte, hier ist meine Karte.» «Ja, drei, vier habe ich noch immer auf meinem Handy gespeichert. Es liegt auf dem Nachttisch.»

Mit diesen Worten stand nun auch Bigler auf, um auf den Nachttisch zuzugehen. Ritter ersparte ihm die paar Schritte, indem er das Smartphone vom Tisch nahm und es Bigler überreichte. Nach ein paar Augenblicken hatte Bigler die Fotos gefunden.

«Hier, sehen Sie selber.»

Kläy war auch aufgestanden, Ritter stand inzwischen direkt hinter ihm.

«Soso, die feine Herrengesellschaft, mit Promis und Möchtegern-Promis gespickt. Und schau mal, hier, J.R., wen haben wir denn hier?»

«Hoppla, Thomas Kowalski …»

«Herr Bigler, hat Ihnen Kowalski das Mädchen vermittelt?»

«Nein, das war nicht Koslowski …»

«Kowalski, nicht Koslowski, Herr Bigler …»

«Nein, das war er nicht, es war dieser hier», erwiderte Martin Bigler und zeigte mit dem Finger auf einen anderen Partygast.

7 scharf.

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