Lehrbuch Psychomotorik

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Lehrbuch Psychomotorik
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Prof. Dr. Stefanie Kuhlenkamp lehrt Inklusion und Soziale Teilhabe an der Fachhochschule Dortmund. Sie unterrichtete an einer Fachschule für Motopädie sowie im Lehrgebiet Bewegungserziehung und -therapie der TU Dortmund. Sie leitet den Förderverein Bewegungsambulatorium an der Universität Dortmund e. V., in dem sie auch Kinder und Jugendliche psychomotorisch fördert.

Außerdem im Ernst Reinhardt Verlag erschienen:

Kuhlenkamp, Strobel: Einführung in die Heilpädagogik für ErzieherInnen ( 4. Aufl. 2016, ISBN 978-3-497-02641-8)


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 8717

ISBN 978-3-8252-8717-7

ISBN 978-3-8463-8717-7 (EPUB)

© 2017 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Cover unter Verwendung eines Ausschnitts aus „Kämpfende Formen“ von Franz Marc

Abbildung 46 im Innenteil wurde erstellt von Caterina Schäfer, Essen

Satz: ew print & medien service gmbh, Würzburg

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuchs

Vorwort

Teil I: Grundlagen psychomotorischen Handelns

1 Entwicklung, Definition und zentrale Begriffe der Psychomotorik

1.1 Begriffsklärung Psychomotorik

1.2 Entwicklungslinien und psychomotorische Perspektiven

1.2.1 Funktional-physiologische Perspektive

1.2.2 Kompetenztheoretische, erkenntnisstrukturierende, selbstkonzeptorientierte Perspektive

1.2.3 Sinnverstehende Perspektive

1.2.4 Ökologisch-systemische und systemisch-konstruktivistische Perspektive

1.3 Paradigmen der Psychomotorik

1.3.1 Therapie

1.3.2 Pädagogik / Erziehung / Bildung

1.3.3 Entwicklungsförderung

1.3.4 Gesundheitsförderung

1.4 Ziele und Inhalte der Psychomotorik

1.5 Psychomotorische Bezugsdisziplinen

1.6 Zentrale Begriffe und Konzepte der Psychomotorik

1.6.1 Humanistisches Menschenbild

1.6.2 Körper – Leib, Bewegung – Motorik

1.6.3 Ganzheitlichkeit

1.6.4 Bewegungshandlung

1.6.5 (Persönlichkeits-)Entwicklung

2 Bedeutung von Bewegung

2.1 Funktionen der Bewegung

2.2 Bedeutungsdimensionen von Bewegung

2.2.1 Bewegung als Lerngegenstand

2.2.2 Bewegung als Medium

3 Begründungszusammenhänge für die Wirkung von Psychomotorik

3.1 Wie wirkt Psychomotorik?

3.2 Selbstbildung

3.3 Kommunikation und Sprache

3.4 Exekutive Funktionen

3.5 Risikokompetenz

3.6 Resilienz

Zwischenfazit: Grundlagen psychomotorischen Handelns

Teil II: Praxis psychomotorischen Handelns

4 Grundlagen psychomotorischer Praxis

4.1 Professionelle Haltung als Basis der psychomotorischen Praxis

4.2 AdressatInnen, Setting, Auftragsklärung

4.3 Handlungsprinzipien psychomotorischer Praxis

4.3.1 Beziehungs- und Dialogorientierung

4.3.2 Spielorientierung

4.3.3 Gruppenorientierung

4.3.4 Ressourcenorientierung und Resilienzförderung

4.3.5 Entwicklungsorientierung

4.4 Material, Raum, Zeit

4.4.1 Dimension Raum

4.4.2 Dimension Zeit und Struktur

4.4.3 Dimension Material

4.5 Inklusion

5 Diagnostik und Dokumentation in der Psychomotorik

5.1 Bedeutung diagnostischen Handelns in der Psychomotorik

5.2 Handlungsprinzipien einer psychomotorischen Diagnostik

 

5.3 Diagnostische Methoden

5.3.1 Quantitative Verfahren

5.3.2 Qualitative Verfahren

5.4 Dokumentation und Berichte

5.5 Anforderungen an diagnostisches Arbeiten

6 Kooperationen mit Fachkräften /Institutionen und Eltern gestalten

6.1 Allgemeine Ziele von Kooperationen

6.2 Kooperation mit Fachkräften / Institutionen

6.2.1 Ziele der Kooperation mit Fachkräften /Institutionen

6.2.2 Formen der Kooperation mit Fachkräften /Institutionen

6.3 Kooperation mit Eltern

6.3.1 Ziele der Kooperation mit Eltern

6.3.2 Formen der Elternkooperation

6.4 Rahmenbedingungen für Kooperationen

6.5 Gespräche mit Eltern und Fachkräften

6.6 Schriftliche Berichte für Fachkräfte und Eltern

6.7 Netzwerke

7 Beispiele psychomotorischer Praxis über die Lebensspanne

7.1 Psychomotorik in der frühen Kindheit

7.2 Psychomotorik in Kindheit und Jugend

7.3 Psychomotorik im mittleren Erwachsenenalter

7.4 Psychomotorik im hohen Alter

Anhang

Serviceteil

Serviceteil Deutschland

Serviceteil Österreich

Serviceteil Schweiz

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuchs


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Beispiel
Informationsquelle
Definition
Lernfragen

Vorwort

Kann ein Buch Psychomotorik lehren? Wie lehrbar ist ein Konzept, das sich aus der Praxis heraus entwickelt hat und zu einer vielfältigen und komplexen psychomotorischen Praxis geführt hat? Kann ein Buch lehren, wie in der Psychomotorik professionell gehandelt werden kann? Ist das Lesen eines Buches überhaupt die richtige Methode für ein Konzept, das sich durch einen erlebnisorientierten, leiblichen Zugang zum Menschen auszeichnet, das auch die Persönlichkeit der psychomotorischen Fachkraft mitdenkt? Diese (und noch mehr) Fragen stellten sich beim Verfassen des vorliegenden Buches.

Sie führten zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen psychomotorischen Lern- und Lehrbiografie und zu weiteren Fragen: Wie habe ich selbst gelernt, psychomotorisch zu arbeiten? Von wem habe ich wann und wie gelernt? Wie und was habe ich selber in den vergangenen Jahren an Hochschulen, an einer Fachschule für Motopädie, in der Fortbildung über das Thema Psychomotorik vermittelt? Auf welcher Basis gestalte und reflektiere ich meine psychomotorische Praxis in einem Psychomotorikverein?

Bei der Reflexion dieser Fragen zeichnen sich zwei Aspekte ab. Erstens: Lernen, Lehren und psychomotorische Praxis erfolgen idealerweise in einer engen Verzahnung und Interaktion von Theorie und Praxis. Die Psychomotorik in Deutschland hat sich seit Mitte der 1950er Jahre zunehmend zu einem theoretisch und wissenschaftlich fundierten Praxiskonzept entwickelt. Aus der Praxis heraus entstand unter anderem die Notwendigkeit der Lehrbarmachung der Psychomotorik unabhängig von ihren BegründerInnen. Jürgen Seewald (1991, 3) hat diesen Prozess als Weg „von der Meisterlehre zur Wissenschaft“ beschrieben. Ein Lehrbuch Psychomotorik dokumentiert daher auch ein Stück des Weges, den die Psychomotorik genommen hat.

Der zweite Aspekt, der sich bei der Beschäftigung mit der eigenen psychomotorischen Lern- und Lehrgeschichte herauskristallisiert, ist der des Dialogs. Durch wechselseitigen Austausch mit bereits erfahrenen psychomotorischen PraktikerInnen, Lehrenden, Mitstudierenden, Kindern, Jugendlichen sowie ihren Eltern, konnten die in der Universität vermittelten theoretischen Grundlagen transferiert und reflektiert werden, ihren Sinn entfalten. Aus der Praxis entstanden Fragen an die Theorie und die Theorie wirkte auf die Praxis. Diese Dialoge kann ein Lehrbuch naturgemäß nicht bieten. Psychomotorik muss immer auch in der Praxis leiblich erlebt werden. In einer Praxis, die auf einem theoretischen Fundament basiert. Über dieses Fundament möchte dieses Buch einen Überblick geben.

Als Lehrbuch wendet es sich an diejenigen Personen, die sich gerade auf ihren Weg in die Psychomotorik begeben. Auch diese Wege sind im Laufe der Jahre vielfältiger geworden. Psychomotorik wird inzwischen in vielen verschiedenen Institutionen gelehrt, sodass eine Heterogenität in der Aus- und Weiterbildung im psychomotorischen Kontext besteht. In Deutschland existiert keine grundständige psychomotorische Ausbildung. Sie wird in der Regel immer aufbauend auf oder integriert in eine berufsqualifizierende Ausbildung (zum Beispiel zur Erzieherin / zum Erzieher) oder ein Studium (beispielsweise Sportwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Soziale Arbeit) angeboten. Ausgehend von Studium und Ausbildung stehen aber auch weitere z. T. berufsqualifizierende Ausbildungs- und Hochschulstudiengänge zur Auswahl. Hier sind vor allem die staatliche anerkannten MotopädInnen sowie die Diplom- bzw. Master-MotologInnen zu nennen. Zu diesen etablierten und curricular verbindlich gestalteten Ausbildungs- und Studiengängen gesellt sich noch eine nahezu unüberschaubare Anzahl von Fort- und Weiterbildungsangeboten unterschiedlicher Institutionen und Qualitäten. Für diese vielfältige Leserschaft ein Lehrbuch Psychomotorik zu verfassen, ist eine Herausforderung, die zusammen mit einem limitierten Seitenumfang dazu führt, in die Breite der psychomotorischen Grundlagen zu gehen und für die Tiefe ergänzende Literaturhinweise zu geben.

Anmerkungen zu den verwendeten Begriffen Aufgrund der in Deutschland fehlenden einheitlichen Bezeichnungen für die Personen, die in unterschiedlichen Settings, mit verschiedenster Klientel und Ausbildung psychomotorisch arbeiten, werden in diesem Lehrbuch alle Personen, die professionell in der psychomotorischen Praxis arbeiten, als psychomotorische Fachkräfte bezeichnet. Die unterschiedlichen psychomotorischen Formate, die von psychomotorischen Fachkräften durchgeführt werden, werden zusammengefasst als psychomotorische Angebote oder psychomotorische Praxis bezeichnet.

Um die Personen zu benennen, die an psychomotorischen Angeboten partizipieren, werden die Begriffe KlientInnen, AdressatInnen und Teilnehmende gewählt. Diese Bezeichnungen tragen der Entwicklung der psychomotorischen Praxis Rechnung. Diese hat sich, ausgehend von der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im klinischen Umfeld, zu einer Praxis über die Lebensspanne in zahlreichen Settings mit unterschiedlichsten Personengruppen entwickelt. Abhängig vom Handlungsfeld und beruflicher Haltung werden diese Personenkreise auch unterschiedlich bezeichnet (zum Beispiel als PatientInnen, MandantInnen, Teilnehmende, NutzerInnen). Die Begriffe KlientIn, AdressatIn und Teilnehmende werden daher in diesem Buch im Sinne einer Vereinfachung genutzt, als allgemeine Bezeichnungen für Personen, die professionelle psychomotorische Angebote nachfragen.

Psychomotorik als Konzept Abschließend sei darauf hingewiesen, dass Psychomotorik im vorliegenden Lehrbuch als ein Konzept verstanden wird. Konzepte verstehen sich als Modelle für das Handeln, indem sie allgemeine Grundsätze und Regeln (Handlungsleitlinien) des Handelns formulieren. Konzepte benennen grobe Inhalte, Ziele und Mittel, verdeutlichen deren Zusammenhang, ohne dabei direkte dezidierte Anweisungen, Pläne etc. zu geben. Dies wäre aufgrund der oben beschrieben Heterogenität in der Psychomotorik weder sinnvoll noch möglich. Konzept bedeutet für Lernende ein hohes Maß an Flexibilität, theoretischem und praktischem Grundlagenwissen sowie eine stete Reflexion darüber, wie die Handlungsleitlinien in die psychomotorische Praxis übertragen werden können. Dazu lädt dieses Buch ein und wünscht allen angehenden psychomotorischen Fachkräften ein bewegtes und bewegendes Lernen.

Dortmund, im September 2017

Stefanie Kuhlenkamp


1 Entwicklung, Definition und zentrale Begriffe der Psychomotorik

Lernziele

■ Einen Überblick über psychomotorische Wurzeln, Perspektiven, Definitionen und zentrale Begriffe im Kontext Psychomotorik gewinnen,

■ Verstehen der Herausforderung hinsichtlich eines allgemeingültigen Psychomotorikbegriffs und -verständnisses,

■ die Vielfalt der Psychomotorik anhand ihrer historischen Entwicklung und psychomotorischer Perspektiven verstehen und systematisieren können (Kap. 1.1, 1.2),

■ anhand psychomotorischer Perspektiven und Paradigmen nachvollziehen können, dass psychomotorische Praxis in Abhängigkeit theoretischer Vorannahmen gestaltet wird (Kap. 1.2, 1.3),

■ allgemeine Ziele und Inhalte psychomotorischer Arbeit benennen können (Kap. 1.4),

■ nachvollziehen des Verhältnisses der Psychomotorik zu ihren Bezugsdisziplinen (Kap. 1.5) und

■ zentrale Begriffe der psychomotorischen Theorie und Praxis definieren und einordnen können (Kap. 1.6).

„Kannst Du mir vier Rollbretter, Sandsäckchen und Igelbälle ausleihen?“, wird die Vorsitzende eines Psychomotorikvereins von einer befreundeten Grundschullehrerin gefragt. „Ich möchte in meiner nächsten Sportstunde mal ein bisschen Psychomotorik machen.“ Die Antwort, die sie hierauf erhält, überrascht sie. „Warum brauchst du denn dafür besonderes Material? Das kannst du doch auch mit den Sachen aus der Turnhalle machen.“

Dieses kurze Beispiel wirft mehrere Fragen auf, wie zum Beispiel: Was ist unter Psychomotorik zu verstehen? Was unterscheidet sie vom Sportunterricht und einer allgemeinen Bewegungsförderung? Wer kann Psychomotorik anbieten? Wird spezielles Material für die Psychomotorik benötigt? Dieses Kapitel bildet den Einstieg in die Beantwortung dieser Fragen.

 

Der Begriff und die damit verbundene Idee der Psychomotorik konnte sich in Deutschland seit den 1950er Jahren in (heil-)pädagogischen, therapeutischen, sportwissenschaftlichen und gesundheitsbezogenen Kontexten zunehmend etablieren. Infolgedessen wurden und werden Konzeptentwicklung, Begriffs- und Theoriebildung sowie die praktische Ausgestaltung und Anwendung durch verschiedene Berufsgruppen und für unterschiedlichste AdressatInnen vorgenommen.

unterschiedliche Theorie- und Praxisansätze Dies hat unter anderem dazu geführt, dass sich aktuell unter dem Begriff Psychomotorik sehr unterschiedliche Theorie- und Praxisansätze versammeln. Eine Praxisansätze einheitliche Definition erscheint daher nicht möglich.

Psychomotorik als Etikett Wie das Eingangsbeispiel zeigt, wird die Begriffsklärung zusätzlich dadurch erschwert, dass der Begriff Psychomotorik als Etikett für diejenigen Angebote Etikett verwendet wird, die Bewegungsangebote abweichend von regulären Sportangeboten gestalten bzw. Materialien verwenden, die als „typisch“ psychomotorisch gelten, wie zum Beispiel das Rollbrett. So resümiert Manfred Höhne bei einem Rückblick auf seinen Weg in der Psychomotorik (sicherlich mit einem Augenzwinkern): „Bewegungserziehung mit dem Rollbrett! Ja, das war doch der Inbegriff der Psychomotorik – oder?“ (Höhne 2001, 57).

Um die Entwicklungen in der Psychomotorik nachvollziehbar zu machen, werden zunächst historische Wurzeln und Entwicklungen skizziert. Dabei erfolgt eine Einschränkung auf die Darstellung der Entwicklung der Psychomotorik in Deutschland. In der Schweiz und Österreich etablierte sich die Psychomotorik seit den 1960er Jahren. Die österreichische Psychomotorik kann auf die Kiphardschen Wurzeln zurückgeführt werden, die schweizerische Psychomotorik auf Ansätze der französischen Psychomotorik nach DeAjuriaguerra (Krus 2015a, 30f.). Durch die Darstellung ihrer Entwicklung wird deutlich, dass Psychomotorik auch immer sowohl im Gesamtkontext gesellschaftlicher Phänomene, wie beispielsweise Individualisierung und Pluralisierung, als auch im Kontext der Entwicklung ihrer Bezugswissenschaften verstanden werden muss. So haben beispielsweise Erkenntnisse der Gesundheitsförderungs- und Resilienzforschung (Kap. 3.6) sowie eine systemische Perspektive (Kap. 1.2.4, 1.3.4) Einzug in das Theoriegebäude der Psychomotorik gehalten. Michael Passolt (2000) beschreibt diesen Prozess der Entwicklung der Psychomotorik, ausgehend von ihren Ursprüngen, mit den Begriffen Weitung und Engung (Tab. 1).

Tab. 1: Weitung und Engung in der Psychomotorik (ergänzt nach Passolt 2000)


Stichworte
Sinnesphysiologische ErziehungMontessori-PädagogikRhythmikGymnastikHeilpädagogik Leibeserziehungu. a.PsychomotorischeÜbungsbehandlungMotopädieMotologiePränatale ForschungSäuglingsforschungSubjektive AnatomieChaos-ForschungSystem-KonstruktivismusProtektive Faktoren Dialogischer Prozess u. a.
Weitungbis ca. 1965Engung ca. 1965–1985Weitung ab ca. 1985

Tabelle 1 skizziert, dass die Psychomotorik aus einer Phase, in der viele Konzepte nebeneinander und miteinander standen, in eine Phase der Vereinheitlichung überging. Diese schlug sich im Konzept der Psychomotorischen Übungsbehandlung und in der Einrichtung des Studiengangs Motologie nieder. Seit Mitte der 1980er Jahre erfährt die Psychomotorik dann, auf Grundlage neuer Theorien und Forschungserkenntnissen, eine erneute Erweiterung ihres theoretischen und praktischen Fundus.

Wurzeln der Psychomotorik Die erste Phase der deutschen Psychomotorik ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich aus vielen Wurzeln entwickelt hat. Sie wurde nach Irmischer (1989) maßgeblich durch die Gedanken der sinnesphysiologischen Erziehung (Jean Itard, Édouard Séguin), durch die Arbeit Maria Montessoris, die Rhythmische Gymnastik (unter anderem Mimi Scheiblauer, Charlotte Pfeffer) und die Heilpädagogik (Heinz Löwnau) geprägt.

Ernst „Jonny“ Kiphard Der Artist und Sportlehrer Ernst „Jonny“ Kiphard (1923–2010) fasste diese und weitere Ansätze (aus dem Turnen, der Gymnastik, der Leibeserziehung etc.) zusammen und entwickelte hieraus ab Mitte der 1950er Jahre im Rahmen seiner praktischen Tätigkeit in der Gütersloher Kinder- und Jugendpsychiatrie die „Psychomotorische Übungsbehandlung“ (Irmischer 1989). Er gilt damit als „Vater“ und Begründer der deutschen Psychomotorik.

Charlotte Pfeffer Den Begriff Psychomotorik übernahm Kiphard von Charlotte Pfeffer (1881– 1970). Diese absolvierte in den 1910er Jahren eine Rhythmikausbildung bei Émile Jaques-Dalcroze. In der Rhythmikausbildung wurde davon ausgegangen, „dass aus der Wechselwirkung zwischen musikalischem und körperlichem Rhythmus ein rhythmisches Bewusstsein erwacht, durch welches nicht nur die musikalischen Fähigkeiten der Musikstudenten wesentlich verbessert, sondern auch psychische und physische Körpervorgänge zu einem Ausgleich geführt werden“ (Klöppel / Vliex 2007, 10).

Rhythmik Auf dieser Basis entwickelte Charlotte Pfeffer in den 1930er und 1940er Jahren, im Exil in Italien lebend, einen heilpädagogischen Ansatz der rhythmischen Arbeit für Kinder mit Behinderungen, den sie als psychomotorische Heilerziehung, psychomotorische Erziehung und Psychomotorik bezeichnete (Berger 2003, 11).

Psychomotorische Übungsbehandlung Aus einer Vielzahl von Grundgedanken und Ansätzen entwickelte Kiphard ein erstes psychomotorisches Konzept, die „Psychomotorische Übungsbehandlung“ (PMÜ). Dabei entwickelte sich die PMÜ zunächst in erster Linie aus Kiphards praktischen Erfahrungen heraus und weniger aus theoretischen Begründungszusammenhängen.

Auch wenn Kiphard dabei als die zentrale Gründungsperson der deutschen Psychomotorik betrachtet werden kann, ist die Etablierung der Psychomotorik die Leistung vieler Menschen aus dem pädagogischen, sportwissenschaftlichen und medizinischen Bereich. So wurde die Entwicklung der PMÜ vor allem durch die damalige Direktorin der Westfälischen Kinder- und Jugendpsychiatrie, Dr. Elisabeth Hecker, und dem dort tätigen Psychiater Dr. Helmut Hünnekens überhaupt erst ermöglicht und begleitet. Seit 1963 gestaltete dann Ingrid Schäfer maßgeblich die PMÜ mit (Kiphard 2001, 9ff.).

Aus der praktischen Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Gütersloh, – nach einem Umzug – 1965 in Hamm (Westfalen), ergaben sich jedoch Fragestellungen zum Beispiel danach, auf welche Weise Psychomotorik wirke, für welche Klientel sie geeignet sei und wie sie gelehrt werden könne.

Verwissenschaftlichung Eine Verwissenschaftlichung und Lehrbarmachung der Psychomotorik setzte infolgedessen ein. So verfasste Jonny Kiphard 1960 gemeinsam mit Helmut Hünnekens die erste Publikation über seine psychomotorische Arbeit mit dem Titel „Bewegung heilt!“.

Bewegung heilt! Das Buch war das Ergebnis einer ersten Studie mit dem Ziel, die PMÜ darzustellen. Die hier dargestellten Übungsgruppen tragen deutlich die Handschrift der historischen Wurzeln der PMÜ:

■ Sinnes- und Körperschema-Übungen

■ Übungen der Behutsamkeit und Selbstbeherrschung

■ rhythmisch-musikalische Übungen

■ Übungen des Erfindens und Darstellens (Hünnekens / Kiphard 1971)

Hünnekens und Kiphard geht es um die „Anregung der Selbsttätigkeit des Kindes ohne Dressur, Drill oder von außen diktierter Disziplin“ (Hecker 1971, 5). So selbstverständlich diese Aussagen heute für psychomotorische Fachkräfte sind; im Hinblick auf das zu dieser Zeit vorherrschende Erziehungs- und Bewegungsverständnis sowie Bild vom Kind, bildete diese Sicht auf das Kind und die Art es zu fördern etwas Neues.

Kiphards erfolgreiche praktische Arbeit fand große Resonanz und zahlreiche an der PMÜ Interessierte hospitierten in der Klinik und besuchten Fortbildungen bei ihm (Kiphard 2001, 12).

„Meisterlehre“ In dieser Phase wurde die Psychomotorik also im Sinne einer „Meisterlehre“ gelehrt und verbreitet (Seewald 2002).

In den folgenden Jahren entwickelte Kiphard unter anderem zusammen mit Friedhelm Schilling erste Motoriktests und es folgten weitere Studien.

Verwissenschaftlichung Die Entwicklung in den sich anschließenden Jahren fasst Seewald (1991) als Weg „von der Psychomotorik zur Motologie“ zusammen und beschreibt sie als einen „Prozess der Verwissenschaftlichung einer Meisterlehre“.

Aktionskreis Psychomotorik Maßgeblich an der Verbreitung und der Verwissenschaftlichung der Psycho-motorik beteiligt war und ist seit 1975 der Aktionskreis Psychomotorik (akp). Dieser ging aus dem 1974 in Hamm (Westfalen) gegründeten „Arbeitskreis spezielle Bewegungspädagogik und psychomotorische Therapie“ hervor. Als eingetragener Verein fördert der akp die Verbreitung der psychomotorischen Idee in Deutschland. Im Jahr der Vereinsgründung wurde auch die erste Fachzeitschrift für Psychomotorik durch den akp herausgegeben.

Zeitschrift motorik Diese trug zunächst den Titel „Psychomotorik“ – Offizielles Organ des Aktionskreises Psychomotorik e.V. 1978 wurde der Titel in „Motorik – Zeitschrift für Motopädagogik und Mototherapie“ umbenannt. Optisch änderte sich der Titel 1993 in „motorik‘“. Dieser Titel wird ohne Apostroph noch heute verwendet, seit 2013 mit dem Untertitel „Zeitschrift für Psychomotorik in Entwicklung, Bildung und Gesundheit“.

Fachschule Motopädie Auf der Basis der Arbeit einer Grundlagenkommission des akp beginnt die Professionalisierung in der psychomotorischen Ausbildung. In Fachzeitschriften erscheinen Beiträge wie „Der Motodiagnostiker und Mototherapeut. Grundlegung einer neuen Fachdisziplin der Psychomotorik und Motologie“ (Kiphard et al. 1975). Mit der ersten Fachschule für Motopädie 1977 in Dortmund wird das Berufsbild des Motopäden / der Motopädin etabliert. In den nächsten Jahren folgen weitere Fachschulen für Motopädie (aktuelle Übersicht im Serviceteil).

Studiengang Motologie Als wissenschaftliche Disziplin aus der Praxis der Psychomotorik entstand 1983 der Aufbau-Diplomstudiengang Motologie an der Philipps-Universität Marburg (seit 2007 ein Masterstudiengang). Diesem waren langjährige Verhandlungen, Überzeugungsarbeit und Vorbereitungen vorausgegangen (Schilling 2001, 23f.).

Parallel zu den fachschulischen und universitären Ausbildungsgängen wurden durch den akp psychomotorische Weiterbildungsangebote durchgeführt.

Deutsche Akademie für Psychomotorik Dieser gründete 1990 die eigenständige Akademie für Motopädagogik und Mototherapie (ak’M), die seit 2008 unter dem Namen Deutsche Akademie für Psychomotorik (dakp) psychomotorische Weiterbildungen und Qualifikationen anbietet.

Wissenschaftlichen Vereinigung Psychomotorik und Motologie Die Verwissenschaftlichung der Psychomotorik äußert sich auch in der in 2006 gegründeten Wissenschaftlichen Vereinigung Psychomotorik und Motologie e.V. (WVPM).

Weiterentwicklung der Praxis Ausgehend von der Psychomotorischen Übungsbehandlung für Kinder in einem klinisch-psychiatrischen Setting, entwickelten sich im Laufe der Jahrzehnte viele neue Anwendungsfelder und Vorgehensweisen psychomotorischen Arbeitens. Diese wurden wiederum beeinflusst durch neue Denk- und Forschungsansätze. Der Terminus Psychomotorik steht daher für unterschiedliche Ansätze, theoretische Begründungen sowie deren praktische Umsetzung.

fehlende Einheitlichkeit Daher ist es nicht möglich, von der einen Psychomotorik zu sprechen. Der Stand der Psychomotorik in Deutschland ist zusammengefasst dadurch gekennzeichnet, dass

■ Psychomotorik sich in den Feldern Entwicklung, Bildung und Gesundheit etablieren konnte,

■ Angebote sich, mit einem Schwerpunkt Kindheit / Jugend, über die gesamte Lebensspanne erstrecken,

■ unterschiedliche Modelle der Theorie und Praxis der Psychomotorik nebeneinander stehen,

■ mehrere Aus- und Weiterbildungen sowie Ausbildungs- und Weiterbildungseinrichtungen parallel existieren und daher keine einheitliche Ausbildung bzw. kein einheitliches psychomotorisches Berufsbild existiert.

Pluralität in Theorie und Praxis Anstelle des einen Modells existieren also Mehrdeutigkeiten, z. T. konkurrierende Theorien und eine Pluralität in der Vorgehensweise. Dies birgt sowohl Risiken als auch Chancen.

Ausdifferenzierung Zu den Risiken zählt die Gefahr einer weiteren Ausdifferenzierung und steigenden Unübersichtlichkeit psychomotorischer Angebote. Dies verunsichert vor allem BerufsanfängerInnen und LaiInnen, die aus einem Angebot von Theorie- und Praxismodellen auswählen müssen. Weiterhin besteht die Gefahr, dass für die PraktikerInnen die Modelle der Psychomotorik zu komplex werden und diesen keine Handlungsorientierung für die Praxis entnommen werden können. Darüber hinaus erscheint unter diesen Vorzeichen eine Etablierung, im Sinne der einen Psychomotorik, erschwert.

Chancen werden gesehen in einer breiten Auseinandersetzung und Diskussion unter anderem darüber, was denn den Kern psychomotorischen Arbeitens ausmacht.

Vielfalt Nachdem in den 1980er Jahren ein Theoriemangel der Psychomotorik beklagt wurde, besteht inzwischen eine sehr vielfältige Theorielandschaft. Hierdurch können PraktikerInnen aus einer Fülle von Möglichkeiten die für ihre Klientel, ihr Handlungsfeld, aber auch zu ihrer eigenen Persönlichkeit sowie Ausbildung passenden / sinnvollsten Vorgehensweisen individuell auswählen. Eine Aufgabe der TheoretikerInnen und PraktikerInnen der Psychomotorik besteht daher darin, Wege aufzuzeigen, auf denen mit der beschriebenen Vielfalt produktiv umgegangen werden kann. Also der Frage nachzugehen,

„[…] können wir die psychomotorische Bewegung so stärken, so öffnen, dass wir uns in der Vielfalt auch darstellen können und uns dadurch auch weiterentwickeln? Können wir im Diskurs eine Spaltung verhindern und die gegenseitige Anerkennung unserer Vielgestalt als Stärkung der Psychomotorik begreifen?“ (Passolt 2000).

Zusammenfassung

Die deutsche Psychomotorik basiert auf den Grundlagen der Leibeserziehung, der Gymnastik, der Rhythmik sowie der Sinnes- und Bewegungsschulung. Diese wurden von Ernst „Jonny“ Kiphard aufgegriffen, zusammengeführt und in seinem Konzept der Psychomotorischen Übungsbehandlung seit den 1950er Jahren neu systematisiert. Psychomotorische Praxis, Begriffs- und Theoriebildung werden seitdem durch unterschiedliche Berufsgruppen und für unterschiedliche AdressatInnen vorgenommen. Der Terminus Psychomotorik steht daher aktuell für eine Vielzahl an Ansätzen, theoretische Begründungen sowie deren praktische Umsetzung.


1. Beschreiben Sie den Weg der Psychomotorik von einer „Meisterlehre“ zu einer Wissenschaft (Seewald 2002).

2. Welche Organisationen und Institutionen vertreten die Psychomotorik in Deutschland?


Bücher, die aus einer persönlichen Sicht der Beteiligten Einblicke in die Anfänge und Weiterentwicklung der deutschen Psychomotorik geben: