Tausend Monde

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Unter meinem Kleid war ich feucht von Schweiß, ich zitterte, und ich stürmte quer durch den Schuppen und die große Leiter hinauf zu John Cole und umschlang ihn, als wäre ich noch ein kleines Mädchen. So viel dazu, dass ich mich selbst um die Dinge kümmerte … Seine Hände, seine Arme und sein Schoß waren schlammverkrustet. Er hinterließ überall Abdrücke auf meinem Kleid. Die zehn mit Stricken angebundenen Maultiere, die sich unter den Leitern gegen die Kälte zusammendrängten, erschauderten und wichen auf dem harten Boden ein paar Schritte zurück.

John Cole wollte wissen, was mir fehlte, und ich sagte ihm, Jas Jonski stehe vor dem Haus.

»Du musst ihn vertreiben«, sagte ich.

»Und wieso das?«, fragte John Cole.

Ich antwortete, das wisse ich auch nicht so recht, aber ich wäre ihm sehr dankbar, wenn er hinausginge und Jas Jonski genau das sagen würde. Und würde er Jas Jonski sagen, dass er sich nicht die Mühe machen solle, wiederzukommen?

Thomas McNulty war von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt, und um ihn loszuwerden, klopfte er sich, als er auf uns zukam, mit beiden Händen Brust, Beine und Hintern ab, was aber nicht viel nutzte. Dann sah er mich an.

»Ich geh raus und rede mit ihm«, sagte er, und seine Stimme klang so düster wie noch nie.

»Tu das, Thomas«, sagte John Cole.

Unterdessen war Lige Magan hinter mir die Leiter heraufgeklettert. In der Schule hatte Liges Vater Rosalee neben seinen Sohn gesetzt. Dergleichen hätte nur in alten Sklavenzeiten passieren können. Das war lange her. Vielleicht war Rosalee die einzige Schwarze in Tennessee, die Griechisch, Latein und Hebräisch beherrschte. Ihr Bruder Tennyson konnte weder lesen noch schreiben, somit waren ihre Kenntnisse eine Seltenheit. In all der Zeit, da ich ihn kannte, habe ich Lige Magan kein einziges Buch lesen sehen, aber er musste von Rosalees Weisheit irgendetwas abbekommen haben. Jedenfalls gebot er Thomas McNulty Einhalt.

»Ich schätze, am besten geh ich runter und überbring ihm den Befehl«, sagte er.

Damit meinte er, dass er Jas Jonski Bescheid stoßen wollte. Für Lige war die Welt eine einzige Armee.

Wenn ich es recht bedenke, waren wir im Henry County etlichen Gefahren ausgesetzt, mit drei Männern, die für die Union gekämpft hatten, aber genau darum ging es. Sie waren Soldaten durch und durch. Selbst Tach Petrie hatte feststellen müssen, dass er sie nicht aus dem Weg räumen konnte, und der hatte fünf, sechs Männer befehligt, kampferprobte Männer, die graue Uniformröcke trugen.

Lige Magan stieg die Leiter hinab ins staubige Innere der Scheune und griff nach seinem Gewehr. Er bedachte uns mit einem kurzen, eiligen Blick und schob sich durch die Schlupftür. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und in die Scheune kehrte wieder Dunkelheit ein. Wir wandten unsere Gesichter der Stelle zu, wo Lige Magan unserer Meinung nach auf dem Weg zu Jas Jonski den Hof durchquerte.

Ein, zwei Minuten verstrichen. Hatten wir überhaupt ausgeatmet? Dann gab es einen großen Knall. Thomas McNulty sah erschrocken aus, er blickte John Cole an und versuchte, eine Entscheidung zu treffen: bleiben oder gehen, und dann musste er wohl gedacht haben, es sei besser, zu gehen, falls Jas Jonski doch eine Waffe bei sich führte – und eilte davon.

Danach herrschte lange Zeit Stille. Kein Geräusch, das uns etwas verraten hätte.

Fünftes Kapitel

»Dann hat der’s also getan?«, fragte Lige Magan.

Wir waren im Haus, am vertrauten Tisch. Rosalee Bouguereau saß auf meiner einen und Thomas McNulty auf meiner anderen Seite. Thomas McNulty hatte die Arme verschränkt, sah mich an und nickte mit seinem graubärtigen Kopf. John Cole stand am Fenster, aber falls er hinausschaute, strafte der seltsam blinde, starre Blick in seinen Augen ihn Lügen. Tennyson Bouguereau war nicht da, er war mit Jas Jonski drüben in der Wäschekammer.

»Das hat er nich’ gesagt«, antwortete Thomas McNulty. »Er hat gesagt, er war’s nich’. Er hat gesagt, warum in drei Teufels Namen er herkommen würd, wenn er’s war, der’s getan hat. Das hat er gesagt, grad eben. Selbst als du ihm dein Gewehr unters Kinn gehalten hast, Lige, hat er geschworen, dass er’s nich’ war.«

»Dann müssen wir ihn wohl so lange verprügeln, bis er die Wahrheit sagt«, sagte Lige Magan aufbrausend. »Auf mich wirkt er schuldig. Als er mich hat rauskommen sehn, wollte er gleich das Weite suchen. Wollte weglaufen, ganz wie einer, der schuld is’. Wie ich den Schuss abgefeuert hab, isser stehn geblieben wie ’n Standbild. Dann hat er sich umgedreht, kreidebleich im Gesicht. Dann kommst du, Thomas, und ich stell ihm die Frage, und er sagt nichts, und die Pisse läuft ihm in die Hose, und dann frag ich noch mal mit Hilfe des Gewehrs, und er sagt, er hätt nichts verbrochen. Er sagt, er weiß nich’ mal, was passiert is’. Hat zehn Tage gewartet, dass Winona sich meldet, aber kein Wort. Seine Verlobte, hat er sie genannt. Is’ nur hergekommen, um rauszufinden, was los is’.«

Lige Magan musterte Thomas McNulty mit diesem speziellen Blick, der bedeutete: Und was sagst du dazu?

Doch Thomas McNulty antwortete nicht. Er legte mir die Hand auf den verschwitzten Rücken. Ich weinte wie ein Frühlingsregen. Ich zitterte. Zitterte von neuem. Mir war übel, als hätte man mich vergiftet. Thomas McNulty gab acht auf meine Rede, diese seltsame Rede ohne Worte, die aus mir hervorquoll. Noch nie hatte ich mich so freudlos, so fiebrig und so furchtsam gefühlt. Nicht einmal, als ich versucht hatte, mit Lana Jane Sugrues Brüdern nach Hause zu gelangen. Ich wusste nicht, was mit mir los war, vermochte es nicht zu deuten. Ich wollte kein Gerede mehr hören. Ich wollte, dass alles wieder so wäre wie vorher, ich und das weiße Kleid, meine Arbeit für den Anwalt Briscoe, die Vorstellung, Jas Jonski zu küssen.

»Wir müssen endlich wissen, was zu tun is’«, sagte Lige Magan, und sein Zorn verflog ebenso rasch, wie er gekommen war. »Verdammt, wenn er nichts getan hat, kann ich ihn nich’ gefesselt in der Wäschekammer lassen.«

»Falls wir ihm glauben, lassen wir ihn laufen«, sagte John Cole bestimmt. »Weiß nur nich’, ob’s mich kümmert, ob ich ihm glauben kann. Is’ ’n Lump.«

»Es wird dich aber kümmern, wenn Sheriff Flynn mit zwanzig Hilfssheriffs hier rauskommt und alles in Stücke schlägt«, sagte Lige Magan. »Wir müssen rauskriegen, was passiert is’.«

Dann blickte er mich an. Ich nahm ihn nur durch eine Kaskade von Tränen wahr. Ich wusste nicht, was Rosalee Bouguereau ihnen erzählt hatte. Von dem, was gerissen war. All das. Ich hatte den Kerl nicht einmal geküsst. Hatte er mich so zerrissen? War er es, der das getan hatte? Innerlich schrie ich mich selbst an, schrie mit offenem Mund. Nicht, dass sie es gesehen hätten. Aber Thomas McNulty war ein weiser alter Mensch, der spüren konnte, was andere Leute empfanden, das denke ich schon.

»Wenn du dich an nichts erinnerst«, sagte Thomas zu Lige Magan, »heißt das längst nich’, dass es nich’ passiert is’, so viel steht fest.«

»Ich werd mein Mädchen ins Bett bringen und ihr meine Kaninchensuppe verabreichen«, sagte Rosalee Bouguereau, ebenfalls wütend, rückte ihren Stuhl ab und erhob sich. »Schaut euch das Mädchen doch mal an. Kann ja nich’ mal sitzen.«

Ich spürte, wie ich wegschmolz. Ich glaubte, wie Wasser zu sein, hatte aber keinen Becher, der mich fasste. Wie klein ich mich fühlte. Der Welt war es gleich, das wusste ich. Der Welt außerhalb Liges Haus. Die Welt wollte, dass indianischen Mädchen Schlimmes widerfuhr. Das war es, was ich dachte, wenn ich überhaupt etwas dachte. Meist versuchte ich, meinen schmelzenden Kopf hochzuhalten. Meine schmelzenden Arme, meine schmelzenden Beine. Ich war doch nur ein Mädchen, nicht wahr? Ich war so froh, dass Rosalee da war, eine so freundliche Frau.

Aber sie waren alle freundlich. Nur wussten sie nicht, was zu tun war; dabei hatten sie in finsteren Zeiten tausendmal gewusst, was zu tun war. Deshalb waren sie noch am Leben, deshalb war ich noch am Leben. Ich war noch am Leben, und jetzt hatte ich Angst, irgendwie tot zu sein. Ich glaubte, dass jemand mich getötet hatte. Wie sollte ich jemals wieder auf die Beine kommen? Wie sollte ich die Herrschaft über meine Gliedmaßen wiedererlangen? Wie sollte ich je wieder glücklich sein, so närrisch glücklich, wie man es in diesem Leben sein muss? An einem Frühlingsmorgen auf der Veranda zu stehen und die Kälte im Sonnenlicht zu spüren, aber auch die Vorboten des Sommers? Was für ein närrisches kleines Kind ich doch gewesen war – aber in der ganzen Weltgeschichte war das die beste Art, zu sein. Ein närrisches kleines Kind, das von allen geliebt wurde, die es kannten, es sei denn, es handelte sich um einen ignoranten Bauernjungen in der Stadt, der nur das schwarze Haar einer Indianerin wahrnahm. Vielleicht war’s ein närrischer Bauernjunge, der mir wehgetan hatte, vielleicht war’s ja das. Jetzt blickte ich zurück, blickte zurück und versuchte, es wieder vor mir zu sehen, bis mir fast der Kopf platzte. Ach, wenn es nicht Jas Jonski war, dann bestand ja vielleicht doch noch Hoffnung für mich.

»Ich sage nicht, dass es Jas war«, sagte ich.

Dann war ich nicht mehr da. So hat’s mir Rosalee erzählt. Ich sank ohnmächtig zu Boden, und Thomas McNulty hob mich hoch, und dann, erzählte Rosalee, wurde ich in mein Bett getragen – das tiefe warme Bett, das ich mit ihr teilte –, und mir wurde gesagt, Lige Magan habe den Satz ernst genommen, sei in die Wäschekammer gegangen und habe Jas Jonski freigelassen. Jas Jonski habe seinen klapprigen Gaul geholt und sei geflohen.

Etwas später tauchte der Anwalt Briscoe auf. Joe Sugrue kutschierte ihn mit dem Buggy.

Es war der beste Buggy im Henry County. Meiner Meinung nach hatte er ihn für seine vornehme Frau benötigt, und jetzt war ihm nur noch der vornehme Buggy geblieben, der ihre Vornehmheit befördert hatte.

 

Als ich ihn kommen sah, heulte ich nur noch Rotz und Wasser – so war mein Gemütszustand.

Er trat durch die Tür. Der dunkle Raum nahm seinem Gesicht den Schimmer, so wie ein Löffel, der in eine Schale Haferschleim getaucht wird, seinen Glanz verliert. Rosalee Bouguereau war ungewöhnlich tollpatschig und ließ die Kaffeekanne auf den Herd krachen, aufgeregt, einen so bedeutenden Mann zu sehen.

Der saß zufrieden in einem alten Eichenholzsessel, den Lige Magan ihm gleich neben dem Herd zurechtgerückt hatte. Denn die ganze Nacht über hatte in den vertrockneten Wiesengräsern der Raureif gewütet. Trotzdem behielt er seine Pelzmütze und seinen Pelzmantel an. Er sprach kurz übers Wetter, fragte Lige Magan, wie es um die Pflanzarbeiten stehe, und kommentierte den misslichen Zustand von allem und jedem im Henry County, und o Herr!, werde es jemals wieder auf die Füße kommen, und nachdem der Gepflogenheiten Genüge getan war, sagte er, was zu sagen er gekommen war. Er sagte, er habe beunruhigende Nachrichten über seine Angestellte gehört – so nannte er mich – und halte es für seine Pflicht, moralisch wie gesetzlich, herzukommen und nachzuschauen, was vorgefallen sei.

»Nun«, sagte Lige Magan, »sie hat ’n großen Schreck bekommen, so viel is’ mal klar.«

»Ist mir zu Ohren gekommen. Joe Sugrue hat mir davon berichtet, und ich war sehr verärgert, es zu hören«, sagte er. »Aber die Zahlen rechnen sich nicht von allein zusammen, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Winona instanter zu mir zurückkommen könnte.«

Ich stand wie ertappt in der Mitte des Zimmers und nahm all meine Kraft zusammen, um mich würdig zu benehmen. Man kann nicht sein ganzes Leben lang ein Geysir an Tränen sein.

»Sie muss ’ne gesetzliche Entschädigung erhalten«, sagte Lige Magan.

»Eine Indianerin ist keine Bürgerin, und das Gesetz findet nicht in gleicher Weise Anwendung«, erwiderte der Anwalt Briscoe.

»Meinen Sie das ernst?«, fragte John Cole sehr leise, aber gewürzt mit einer hübschen Prise Bedrohlichkeit.

Die Männer blickten einander an und ließen das, denke ich, erst einmal auf sich wirken. John Cole sah aus, als könnte er jeden Moment in Flammen aufgehen, die nächste Stufe nach der Drohung.

»Nun heißt es friedlich sein und ruhig leben. Sie sind alte Männer, genau wie ich«, sagte der Anwalt Briscoe. »Zum Teufel, wie alt sind Sie, Lige, weiß Gott das überhaupt?«

»Ich glaub nich’«, sagte Lige, der in Gelächter auszubrechen drohte, es sich jedoch, so gut er konnte, verbiss.

John Cole, der sich im Hintergrund hielt, trat von einem Stiefel auf den andern – wie ein Pferd im Stall, das das Bedürfnis verspürt, sein Gewicht zu verlagern.

»Ich bin erst vierzig«, sagte Thomas McNulty, obwohl er in Wahrheit gar nicht genau wusste, wie alt er war. »Und ich glaube, ein niederträchtiger Mensch …«, fuhr er fort, doch dann fehlten ihm die Worte.

»Sie glauben was?«, fragte der Anwalt Briscoe scharf.

»Ich glaube, ein niederträchtiger Mensch muss für das, was er Winona angetan hat, zur Rechenschaft gezogen werden«, sagte Thomas, »wo Sie schon danach fragen.« Plötzlich hatte er die Worte wiedergefunden.

»Das glaube ich auch«, sagte Rosalee Bouguereau. Der Anwalt Briscoe starrte sie einen Moment lang an. War er überrascht? Nein. In diesem Augenblick hatte Rosalee endlich den Kaffee zu ihrer Zufriedenheit aufgebrüht und die Kanne samt einem Becher, dessen Henkel sie sich an den Finger gehängt hatte, zu ihm gebracht.

»Ich denke, wir finden heraus, wer die Tat begangen hat, und erschießen den Mann«, sagte John Cole.

Thomas McNulty und Rosalee sahen einander zustimmend an. Thomas McNulty öffnete die Hände, wie um zu fragen: Wie wär’s damit, Mr Briscoe?

»Trinkt sonst keiner Kaffee?«, fragte der Anwalt Briscoe. Niemand antwortete, und so erlaubte er Rosalee, seinen Becher zu füllen.

»Haben Sie Melasse da?«, fragte er sie leise, als wäre er plötzlich an einem anderen Ort mit ihr, als wären wir anderen gar nicht vorhanden.

»Haste nich’ noch was von der Melasse aus New Orleans?«, sagte Lige Magan zu Thomas McNulty, trotz allem bestrebt, seinem Besucher zu gewähren, wonach es diesen verlangte.

»Hab sie weggeschüttet«, sagte Thomas McNulty grob.

»Mögen Sie Rohrzucker, Herr Richter?«, fragte Rosalee.

»Ja doch, ja«, antwortete der Anwalt Briscoe. »Und ich danke Ihnen, Miss Bouguereau. Übrigens bin ich kein Richter.«

Dann holte Rosalee den Zucker, tat etwas davon in den Becher, und der Anwalt Briscoe trank seinen Kaffee.

Solange er trank, sprach er nicht. Das tat auch sonst niemand. Jeder von uns drehte und wendete in seinem Gehirn, was gesagt worden war und was nicht.

Ich wusste nicht, was ich hören wollte. Wenn Hochwasser eine Farm überschwemmt, stürzen zahlreiche Bäume um, und die Pflanzen, sofern sie bereits hoch stehen, werden niedergedrückt. Die ärgste Überschwemmung wird noch das letzte Feld, ein ganzes Königreich, verheeren; es muss von neuem gepflügt und von neuem geeggt werden, und vielleicht ist es schon zu spät, um in dem betreffenden Jahr noch eine weitere Aussaat vorzunehmen. Hat man nach der Überschwemmung erst einmal seine Kleidung getrocknet, merkt man womöglich, dass man im kommenden Jahr nicht so viel zu essen haben wird wie in diesem. Aber es ist klar wie der Tag, dass man der Stärke der Flut, des Tornados oder des heftigen Sturms mit ebenso großer Stärke begegnen muss. Um aufzubauen, was zerstört wurde, um das, was aus seiner Verankerung gerissen und von seinem Haken getrennt wurde, wieder an seinen Platz zu tun.

Ruhig trank der Anwalt Briscoe weiter seinen Kaffee.

Sechstes Kapitel

Ich muss ein paar Dinge über Tennyson Bouguereau sagen. Denn der wurde zusammengeschlagen. Was damit zu tun hatte, dass er es war, der Jas Jonski eine Weile gefangen gehalten hatte. So wurde später geredet: ein Schwarzer, der Herr über einen Weißen gewesen sei. So etwas bezeichneten diese dummen Leute als aufmüpfig. Im Henry County gab es viele Leute, die dergleichen nicht hören konnten, ohne ihn bestrafen zu wollen. Die wussten, wie man’s anstellt.

Ich war mir sicher, dass Jas Jonski sich nicht scheute, in der Stadt seine Unschuld zu beteuern. Er gehörte zu einer Gruppe junger Männer in seinem Alter, die alles ausposaunten. Ausposaunten und Blech redeten.

Ich weiß noch, wie in den alten Tagen in der Prärie auch die jungen Lakota-Burschen gemeinsam unterwegs waren. Ich vermute, junge Weiße sind genauso. Ein Mädchen bleibt mehr für sich. Dennoch erinnere ich mich an die drei Tage Tanz, wenn ein Mädchen endlich ihren Mond bekam. An das Lakota-Wort kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es bedeutete »Mond«. Ich erinnere mich an das Singen und Tanzen und daran, wie stolz man auf die junge Frau war. Als ich meinen Mond bekam – ich muss wohl zwölf oder so gewesen sein –, war ich schon nicht mehr bei meinem Volk, ich war beim Dichter McSweny in Grand Rapids, während Thomas McNulty und John Cole in Kriegsdingen unterwegs waren. Der Dichter McSweny war dunkelhäutig, genau wie Rosalee, und ein berühmter Türsteher am dortigen örtlichen Theater. Als ich meinen Mond bekam, glaubte ich, ich müsse sterben, und er glaubte es auch. Damals war er an die neunzig Jahre alt, hätte es also besser wissen sollen. Aber wir zwei da in seinem Haus waren unwissende Geschöpfe. Er rannte zu Doc Ganley, der ein paar Türen weiter wohnte, und der Doc kam mit ihm zurückgerannt, und als er sah, wie’s um mich bestellt war, musste er lachen. Der Dichter McSweny wurde über die Tatsachen des Lebens aufgeklärt und musste eines seiner alten Bettlaken zu Binden schneiden. Das war’s aber auch schon. Kein Tanz, kein Gesang und keine Frauen, die wussten, was zu tun war.

Jas Jonski war jung wie alle anderen jungen Männer, die je gelebt haben, ob weiß, ob schwarz, ob rot. Damals wusste ich nicht, ob er es war, der Tennyson Bouguereau in der Stadt gesehen hatte. Denkbar wäre es. Unser Pferdewagen wurde halb umgestürzt im Wald aufgefunden, und die arme, noch angeschirrte Jakes, unsere beste Stute, zitterte traurig. Wenn ich mich recht erinnere, war die Stelle nicht allzu weit vom Haus des Anwalts Briscoe entfernt, und so führten einige Männer Pferd und Wagen dorthin, und ich denke, sie waren der Meinung, ihrer Pflicht damit Genüge getan zu haben. Dem armen Schwarzen, der bewusstlos auf der Straße lag, schenkten sie nicht die geringste Beachtung.

Falls Sie sich je ein Bild des Leidens gewünscht haben sollten – ein reisender Fotograf hätte eine Daguerreotypie von Rosalee Bouguereaus Gesicht anfertigen können, als sie die Nachricht erhielt. Ich stürzte auf sie zu und zog sie an mich. Sie weinte ohne Unterlass.

»Schon gut, Rosalee, sei still«, sagte Lige Magan, »wenigstens isser nich’ tot.«

Später in jener Nacht kamen John Cole und Lige Magan mit Rosalees Bruder zurück. Nachdem sie von den Brüdern Sugrue die schlimme Nachricht vernommen hatten, waren sie auf Maultieren losgeritten, und jetzt kamen sie mit denselben Maultieren zurück, hinten an den Wagen gebunden, und die große Blechlampe warf auf alles ihr Licht. Jakes, die Stute, zitterte noch immer. Ein Pferd ist ein kundiges Geschöpf. Und auf der Ladefläche des Wagens lag Tennyson Bouguereaus armer, zerschundener Körper. Sein hübsches Gesicht war voller Schrammen, blutig und geschwollen, und seine Kleider, die er immer so in Ordnung hielt, glichen den Lumpen eines Bettlers.

Deshalb wollte ich ein paar Dinge über Tennyson sagen. Tennyson Bouguereau war – zumindest bei uns – berühmt für seinen geschickten Umgang mit dem Gewehr. Lige Magan erzählte uns oft, wie Tennyson einmal einen Grashalm aufgerichtet hatte, fünfzehn Meter zurückgegangen war, sich dann umgedreht und den Grashalm mit seinem Spencer-Karabiner in zwei Teile zerschossen hatte. Lige Magan wusste diese Fertigkeit zu würdigen, war er doch in der Armee selber Scharfschütze gewesen, wenn auch kein so scharfer wie Tennyson. Tennyson Bouguereau hatte eine natürliche, gottgegebene Befähigung. Als ehemaliger Sklave durfte er natürlich nur bei sich zu Hause Waffen tragen. Für kurze Zeit hatte es für diese Sklaven etwas besser ausgesehen. Auf Farmen, für die sie nicht mehr arbeiten wollten, hatten sie ihre Werkzeuge niedergelegt. Sie hatten das Stimmrecht erhalten, nun ja, zumindest die Männer. Sie konnten einem Weißen in die Augen sehen und offen mit ihm reden. Für kurze Zeit. Jetzt schwang das Pendel wieder zurück. Wenn die schwarzen Landarbeiter nicht blieben, hatten die Farmer niemanden, der ihre Felder bewirtschaftete. Sie drehten durch. Von großen Gewaltausbrüchen war die Rede, Böses wurde gesagt und getan. Tennyson Bouguereau war ein Fürst von einem Mann. Wenn jemand Hilfe gebraucht oder ihn um Hilfe gebeten hätte, er hätte jedem geholfen.

Er konnte nicht lesen oder schreiben, aber auf Rosalees hübschem Papier konnte er dein Gesicht zeichnen. Er zeichnete gern die Rotkehlchen im Hof, und wie eine Nachtschwalbe aussah, wusste ich nur deshalb, weil Tennyson eine eingefangen hatte – auf dem Papier.

Die Männer, die ihn zusammenschlugen, interessierte das alles nicht. Die meisten Weißen sehen nur Sklaven und Indianer. Den einzelnen Menschen nehmen sie nicht wahr. Dass jeder von ihnen ein Kaiser ist für die, die ihn lieben.

An diesem Abend mussten wir Reste essen. Rosalee säuberte ihren Bruder von all dem Blut und ließ sich von Lige Magan dabei helfen, Tennyson in das schmale Schlafzimmer auf der Rückseite des Hauses zu bugsieren, in dem er schlief. Dort sollte er genesen. Ich sah, wie sie ihm das Haar mit etwas von der Pomade einrieb, die John Cole gehörte. Tennyson gab kein Wort von sich. Er war all seiner Worte beraubt. Sie flehte ihn an, ihr zu verraten, wer die Tat begangen hatte, doch er starrte sie nur an wie ein verängstigtes Kind. Wo mit einem Werkzeug auf seinen Schädel eingeschlagen worden war, sah ich einen langgestreckten Bluterguss, dunkel wie Erde, die gerade umgepflügt worden ist. Er wurde immer dunkler. Rosalee trug mir auf, die Blumenköpfchen der Hyazinthen zu zerdrücken, die sie im Frühling des Vorjahres gesammelt und getrocknet hatte und die sie mir immer verabreichte, wenn ich meinen Mond bekam. Etwas davon gab sie in das Wasser, mit dem sie Tennyson wusch, so dass er ein wenig nach Frühling roch. Sie versuchte, die Gewalt von ihm abzuwaschen.

Jetzt war Rosalee die Traurige und ich die Suppenzubereiterin. Meine Fürsorge für Rosalee übte einen gewissen Reiz auf mich aus. Die Traurigkeit eines anderen Menschen kann die eigene ein wenig lindern. Habe ich festgestellt. Doch so seltsam ist das gar nicht, denn die Welt ist ohnehin mysteriös.

 

Sie war bestürzt, ihren Bruder so malträtiert zu sehen. Es weckte Erinnerungen an die Schrecknisse früherer Zeiten, als sie nicht wussten, ob sie für immer in Knechtschaft gefangen oder frei sein würden. Trotz allem mussten sie bittere Wahrheiten schmecken, das war gewiss.

Ich komme aus der traurigsten Geschichte, die es auf Erden je gegeben hat. Ich bin eine der Letzten, die noch weiß, was mir genommen wurde und wie es war, bevor es mir genommen wurde. Das Gewicht dieser Trauer hat schon so manchen Kopf zermalmt. Jemals einen betrunkenen Indianer gesehen, jemals einen Indianer in Lumpen gesehen? Das passiert, wenn ein König von Trauer überwältigt wird. Aber es ist nicht nur das. Wir glaubten, alles, was wir waren, sei Reichtum und Wunder. Wir wussten, dass dem so war. Wie sonst war es möglich, als Kind so glücklich gewesen zu sein? Eine Welt, die ein guter Ort ist für ein Kind, ist eine gute Welt. Es war ja nicht nur so, dass diese Welt beseitigt, sondern dass so oft der Befehl ergangen war: Tötet sie alle. Fragen Sie Thomas McNulty, er hatte ihn oft genug gehört. War losgezogen und hatte gehorcht. John Cole auch. Dieser wilde Bursche Starling Carlton. Sogar Lige Magan. Es kam nicht drauf an, ob’s ein Säugling war, ein Mädchen oder eine Mutter.

Allein die Berührung eines weißen Mannes, schon sein Nahen war der Herold des Todes.

Wir legten großen Wert auf jeden Einzelnen von uns. Aber der Wert, den die Weißen uns beimaßen, war nicht der gleiche. Wir waren ein Nichts – wenn man uns tötete, tötete man ein Nichts, und es bedeutete nichts. Es war kein Verbrechen, einen Indianer zu töten, weil ein Indianer nichts Besonderes war.

Das alles weiß ich, deswegen schreibe ich es auf.

Inzwischen war Tennyson Bouguereau jedoch eine Art Bürger, insofern war es vielleicht doch ein Verbrechen, ihn zusammenzuschlagen. Hatten sie den ganzen Krieg nicht genau deshalb geführt? Man sollte es meinen. Deshalb hatte der Dichter McSweny Thomas McNulty und John Cole dazu geraten, in den Kampf zu ziehen. Vielleicht hatte Thomas den Dichter McSweny aber einfach nur angesehen und erkannt, was für eine bemerkenswerte Menschenseele er war. Ich meine, auch er war ein König, wenn auch ein ziemlich trauriger, aber doch ein Mann, um dessen ergrautes Haupt ein goldener Lichtschein leuchtete wie auf Gemälden die goldene Scheibe hinter Jesus Christus. Der Dichter McSweny. Zu der Zeit waren Thomas und John Cole lange fort, und ich hätte ihre Nähe gebraucht. Damals war ich vom Leben noch nicht geheilt. Vielleicht bin ich’s auch jetzt noch nicht, aber damals ganz gewiss nicht. Doch der Dichter McSweny mit seinem dunklen, schmalen Gesicht und seinen Flusskieselaugen, der bemühte sich um mich, schulte mich und schimpfte mich und verrichtete das Werk einer Mutter.

Wie kam es, dass ich das Glück hatte, Männer um mich zu haben, die so gut wie Frauen waren? Ich glaube, nur eine Frau weiß, wie man leben soll; ein Mann ist meist zu hastig, vorschnell. Diese Waffe mit schon halb gespanntem Hahn verwundet aufs Geratewohl. In meinen Männern dagegen fand ich unerschütterliche, lebendige Weiblichkeit. Welches Glück! Welche Fülle von wirklichem Reichtum!

Selbst jetzt, wo Tennyson Bouguereau ans Bett gefesselt war, vielleicht sogar deswegen, waren die Männer im Freien und eggten das Erdreich, das zum Frühling hin schon lockerer wurde. Die Maultiere hatten ihr nahrhaftes Futter erhalten und waren vor das alte schwarze Zinkengerüst gespannt worden, und so zogen sie von einem Acker zum andern, um unsere dunkle Erde zu zerkrümeln. Mit einem Wanst voller Hafer ist ein Maultier ein glücklicher Gesell. Fast erwartest du, dass es lacht, so arbeitslustig sieht es aus.

Natürlich war Lige der Einzige, der jetzt noch nach Paris fahren konnte, um Vorräte einzukaufen, zumindest für den Augenblick. Günstigerweise gab es in Paris gleich fünf Geschäfte für Trockenwaren, und so verlor Mr Hicks uns als Kunden.

»Kann diesen schmierigen Jas Jonski einfach nich’ mehr sehn«, sagte Lige.

»Weil du ihn umbringen könntest«, sagte John Cole ruhig.

Ich war gerade draußen auf der Veranda, um Unterwäsche hereinzuholen, die ich für Rosalee getrocknet hatte, als ich auf der anderen Seite unseres noch brachliegenden Ackers einen Reiter erblickte. Furcht ergriff mich. Rosalee und Tennyson waren nicht die Einzigen, die schreckhaft geworden waren. Wenn’s irgendwo leichte Beute gab, dachte ich, dann waren wir diese Beute.

Wer immer es war, er kam nicht allein. Ich sah einen Trupp anderer Männer, die auf ihren Ponys auf und nieder hüpften. Meine Männer hielten sich auf zwei großen Feldern weiter nördlich auf. Wenn ich aufs Dach geklettert wäre, hätte ich sie sehen können, ihre schwarzen Gestalten, klein wie Rüsselkäfer, und die schwarzen Maultiere im Miniaturformat. Tennysons Spencer-Karabiner lag immer im Wohnzimmer – abgesehen davon, dass es eine ausnehmend schöne Waffe war, hatte jemand auf das Verschlussstück den Namen Luther eingraviert, ein mysteriöses, aber charakteristisches Merkmal –, und den holte ich mir nun und nahm dann wieder meine Position auf der Veranda ein, mit dem Karabiner als Verbündetem. Ich wusste recht gut, wie man ein Gewehr abfeuert, auch wenn’s für ’n Mädchen ’ne ziemlich große Waffe ist.

Der vorderste Reiter war Sheriff Flynn. Ich wusste nicht, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Er war kein Mensch, den ich besonders gut kannte. In der Stadt hatte ich ihn manchmal vorbeigehen sehen, dann klackten seine Stiefel auf den Holzbrettern des Gehsteigs. Jetzt hatte er drei Männer dabei. Drei zottelige Typen. Er ritt lässig vorneweg. Hatte keine Eile, bei mir anzukommen. Ließ sich alle Zeit der Welt.

Schließlich kam Sheriff Flynn aber doch bei mir an und befand sich, rittlings auf seinem Pferd, auf Augenhöhe mit mir, die ich auf der Veranda stand.

»Du gehst rein und holst Elijah, Schatz«, sagte er.

Noch nie in meinem Leben hatte ich jemanden Liges vollen Namen sagen hören. Noch nie in meinem Leben war ich Schatz genannt worden. Den Spencer-Karabiner schien er nicht zu sehen. Ich hielt ihn schräg in meiner Linken, doch er schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Ich war mir nicht sicher, ob er überhaupt geladen war. Ich dachte, vielleicht nicht, denn, nun ja, ich wusste es nicht. Ich wusste, dass die Burschen mich umstandslos erschießen würden, so wie man am Feldrain ein Kaninchen schießt. Und genauso schnell. Ich spürte, wie mir unter meinen Röcken die Pisse an den Beinen herablief. Ich wollte nicht, dass jemand es sah. Mein Körper hatte Angst, aber mein Herz war voller Mut. Der Groll, den ich wegen Tennyson empfand, nahm mir die Furcht, und in der Tat glaubte ich, dass Tennysons Gewehr eine geheime Kraft enthielt. Dass er es sein Eigen nennen durfte, war Tennysons ganzer Stolz, und allein es in den Händen zu halten verlieh mir Mut.

Ich gab Sheriff Flynn keine Antwort. Weil ich nicht wusste, ob ich sprechen sollte oder nicht.

Sheriff Flynn war ein dunkelhaariger Mann von rauem Äußeren, aber um seinen Schnurrbart herum waren seine Wangen glatt rasiert. Vermutlich war er um die vierzig, und die Frauen in der Stadt werden ihn wohl ziemlich attraktiv gefunden haben. Seine Hilfssheriffs waren eine Bande abgerissener Männer. Jetzt, wo ich sie aus der Nähe sah, erkannte ich einen von ihnen wieder, Frank Parkman. Ein Busenfreund von Jas Jonski.

Ich war erstaunt, wie viele Gedanken mir durch den Kopf schossen, während ich dort stand, ohne Sheriff Flynn eine Antwort zu geben.

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