Tausend Monde

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Drittes Kapitel





Dass es Jas Jonski war, der mir das Gesicht zerschlug, hätte meine Geschichte sein können. Natürlich hätte es das. Sie war aber nicht in meinem Kopf. Und dort sollten Geschichten angesiedelt sein. Klar wie ein hübscher Bach hoch oben in den Hügeln. Jas Jonski, ein Mann, den ich nicht einmal geküsst hatte. Es war alles zu schwarz, um etwas erkennen zu können. Immer wieder durchlief mich von Kopf bis Fuß dieser kleine Sturm des Zitterns. Jemand war in mich eingedrungen, denn unten herum bestand ich nur noch aus Lumpen und Fetzen. Ich hätte ihnen sagen können, dass ich ihn für den Täter hielt, aber ich weiß nicht, welche zehn Pferde sie dann noch davon abgebracht hätten, ihn zu töten. Es hätte keine Rolle gespielt, was John Cole zu diesem Zeitpunkt war, ob Engel oder Indianer, es hätte ihn nicht aufgehalten. Das Feuer der Rache in sich, wäre er in die Stadt gefahren, und nichts hätte Jas Jonski retten können.



Ich wollte nicht, dass John Cole aufgeknüpft wird. Und ich hatte die Geschichte ja auch nicht genau im Kopf.



In Amerika brauchtest du nur so auszusehen, als hättest du etwas Unrechtes getan – warst du arm, hingst du schnell am nächsten Baum.



Wie auch immer, vielleicht wollte ich die Rechnung ja auf eigene Kosten begleichen. Ich weiß noch, dass ich diesen Gedanken durchaus hatte. Es war der Mut der Verzweiflung. Ich weiß noch, wie ich dachte: Es gibt eine Zeit, in der dein Vater und deine Mutter deine Kämpfe für dich austragen, und es gibt eine Zeit, in der du selber kämpfen musst, und ich nahm an, dass diese Zeit jetzt gekommen war.



Ich will sagen, dass ich mich sehr schämte. Ich schämte mich dafür, dass Rosalee mich säubern musste. Ich war geradezu starr vor Scham. Ich konnte nicht darüber reden, nicht einmal zu mir selbst. Und so dachte ich: Statt zu reden, werde ich die Sache selber in die Hand nehmen. Nun, ich glaube, das war ziemlich mutig. Eine Zeit lang, einen Moment lang taugen derartige Gedanken. Aber wie setzt du sie um?



Könnte sein, dass ich von Dingen rede, die sich 1873 oder 1874 im Henry County, Tennessee, zugetragen haben, doch was Daten betrifft, war ich noch nie verlässlich. Und falls sie sich zugetragen haben, gab es zu der Zeit keine wahrheitsgetreue Darstellung. Es gab nackte Tatsachen und eine Leiche, und dann gab es die wahren Ereignisse, die niemand kannte. Dass Jas Jonski getötet wurde, war die nackte Tatsache. Auch andere wurden getötet, doch deren Mörder waren bekannt. Wer hatte ihn getötet? Eine Weile war das die große Frage in der Stadt. Länger, als Sie denken. Vielleicht reden sie heute noch darüber, dort unten in Paris, Tennessee. Wenn ich behaupte, dass im Folgenden die wahren Ereignisse geschildert werden, sollten Sie bedenken, dass sie in großem zeitlichem Abstand zum Geschehen geschildert werden. Und dass es niemanden mehr gibt, der meiner Schilderung zustimmen oder widersprechen könnte. Einigen Dingen würde ich am liebsten selbst widersprechen, denn ich sage mir: Kann es wirklich so gewesen sein, und habe ich das wirklich getan? Aber durch den Morast der Erinnerungen führt meist nur

ein

 Weg.



Vom Anwalt Briscoe und vielleicht noch ein paar anderen abgesehen, war ich in den Augen der Stadtbewohner kein menschliches Wesen, sondern eine Wilde. Näher an einer Wölfin als an einer Frau. Meine Mutter wurde getötet, wie ein Schäfer einen Wolf töten würde. Auch das ist eine Tatsache. Ich denke, es gab zwei Tatsachen. Ich war geringer als die Geringsten unter ihnen. Ich war geringer als die Huren im Hurenhaus, höchstens, dass ich in ihren Augen eine im Werden begriffene Hure war. Ich war geringer als die schwarzen Fliegen, die einen im Sommer verfolgten. Geringer als die alte Scheiße, die hinter die Häuser geschüttet wurde.



Etwas so

Geringes

, dass man mit ihm tun konnte, was man wollte: es herumstoßen, verprügeln, erschießen, häuten.



Nur weil John Cole mich als etwas so Goldenes großzog, dass, wie er sagte, die Sonne selber eifersüchtig auf mich war, bedeutete das nicht, dass sonst irgendjemand in der großen, weiten Welt genauso dachte.



Der Anwalt Briscoe war das, was Thomas McNulty ein »Original« nannte. Wenn ich in meinem Kopf Thomas McNultys Stimme höre, müsste man das Wort eher so schreiben:

’riginal

. Lige Magan sagte, in den weiten Landen Amerikas gebe es nicht seinesgleichen. Keinen, von dem man wüsste.



»’türlich«, sagte Lige Magan, »bin ich nich’ jedem in Amerika begegnet.«



Der Anwalt Briscoe – ich habe nie gehört, dass man ihn anders gerufen hätte – war etwa sechzig Jahre alt, als ich bei ihm zu arbeiten begann. Sein Schopf war noch drahtig, und er bändigte ihn mit Haaröl aus einem großen Glas. Dieses Haaröl! Es stank wie verfaulter Kohl. Und immer staunte ich darüber, wie sauber seine Hände waren. Natürlich hatte er mit Feldarbeit nichts zu schaffen. Aber er besaß auch kleine Bimssteine, mit denen er seine Fingernägel abrundete, und jedes Fitzelchen Schmutz entfernte er mit einem silbernen Dorn.



Er sei zu alt gewesen, um im Krieg zu kämpfen, aber vermutlich sei das eine gute Sache, sagte er, denn wie vielen Leuten in Tennessee wurde ihm ganz schwindelig im Kopf, wenn es darum ging, auf welche Seite er sich schlagen sollte. Vielleicht stand er auf der Seite des

Lebens

.



In seinem Haus war ein Büro, das ganz mit schimmerndem Holz ausgelegt war, so dass man meinen konnte, es stehe Wasser auf dem Boden, so sehr schien er zu schwappen und zu zittern. Er setzte mich an einen kleinen Tisch in der Ecke, an dem ich rechnen sollte. Neben meinem Platz war ein Fenster, das auf die Hauptstraße hinausging. Ich sollte darauf achten, wer da alles kam und ging, und manchmal bat er mich, die Namen aufzuschreiben, falls ich sie wusste. Viele der Passanten waren tagein, tagaus dieselben. Da gab es zum Beispiel den Fuhrmann Felix Potter, dessen Name auf seinem Pferdewagen prangte. Wenn es ein neues Gesicht war, bat ich den Anwalt Briscoe, an mein kleines Fenster zu eilen und selbst hinauszuspähen. Dann musste ich der Wampe Platz machen, die er vor sich hertrug. Auf diese Weise lernte ich fast jeden in Paris kennen, der in der Hauptstraße zu tun hatte. Wenn dann jemand kam, um die Dienste des Anwalts Briscoe in Anspruch zu nehmen, hatte ich meist eine Vorstellung davon, um wen es sich handelte, und wenn zu dieser Person bereits Papiere vorhanden waren, holte ich sie aus dem Dokumentenschrank.



Manchmal waren diese Dokumente gesprächig, manchmal stumm wie Schnee. Es gab Listen von all den schwarzen Seelen, die im Negro Sales Office des Henry County gekauft und verkauft worden waren; das war das Werk des Vaters von Anwalt Briscoe. Da war die buchhalterische Geschichte von Mr Hicks’ Laden und von vier weiteren Trockenwarenhandlungen, siebzig Jahre Versorgung mit Lebensmitteln, Jahre und Aberjahre Regierungsverträge zur Belieferung der inzwischen verschwundenen Indianer – und fünfzig alte, vergilbte Seiten Buchführung für die Milizen, die dabei geholfen hatten, die Chickasaw und die Cherokee aus Tennessee zu vertreiben.



Es habe sich als unmöglich erwiesen, uns zu zivilisieren, hieß es in den Dokumenten. So etwas zu lesen brachte mich zum Weinen. Es gab nichts Zivilisierteres als die Brust meiner Mutter und mich, die sich dort anschmiegte.



Aber Zahlen weinen nicht, und Zahlen wurden für alles und jedes gebraucht.



Der Anwalt Briscoe war sehr darauf bedacht, dass ich die Straße genau im Auge behielt. Es sollte unter anderem dazu dienen, dass er am

Leben

 blieb, denn zu dieser Zeit, nach dem Krieg, waren Fremde in Tennessee kein vertrauenswürdiges Gut. Und für einen Mann, der im Westen des Staates lebte, klangen die Ansichten des Anwalts Briscoe in Wahrheit viel zu sehr nach East Tennessee. In East Tennessee lebten viele, die sich nicht hatten abspalten wollen. Oft waren ganze Horden von Soldaten unterwegs, aber auch geheimnisvolle, düstere Gestalten, die vielleicht einmal Soldaten gewesen waren, ihren Krieg jedoch verloren hatten. Auf dieser Straße herrschte in der Dämmerung mitunter eine erschreckende Betriebsamkeit. Und das, obwohl sich der neue Gouverneur für die alten Rebellen stark machte und sie sogar das Stimmrecht zurückerhalten hatten, während sein Vorgänger für die Union eingetreten war und ihnen das Stimmrecht entzogen hatte – oder lag es gar an ebendiesem Tanz der Zeit?



Er selbst saß an einem großen Tisch, der mit den ersten Planwagen nach Tennessee gekommen war. Vor fast hundert Jahren, sagte er, bevor Tennessee überhaupt Tennessee gewesen sei. Sein Urgroßvater war der erste Briscoe hier gewesen. Der Anwalt Briscoe hegte starke Gefühle für Tennessee. Er sprach gern über die gute alte Gründerzeit und verwendete dabei oft einen alten Tennessee-Ausdruck – »zwischen den Bergen und dem Fluss«. Denn dem Anwalt Briscoe zufolge lag Tennessee genau dort: zwischen dem Mississippi und den Appalachen. Das traf ja auch zu. »Zwischen den beiden Flüssen« war ein Ausdruck für West Tennessee, denn das lag zwischen dem Tennessee River und dem Mississippi.



Der Anwalt Briscoe hatte, so konnte man es wohl bezeichnen, große Ideen über die Welt im Allgemeinen. Er begeisterte sich für »aus der Mode gekommene Anliegen«, wie er es nannte. Eines davon muss wohl ich gewesen sein. Er glaubte, vor langer Zeit habe der frühere Präsident Andrew Jackson den Chickasaw großes Unrecht zugefügt, indem er sie ins Indian Country vertrieb. Was Ulysses S. Grant, den jetzigen Präsidenten, betraf, so seufzte er oft über ihn. Der mochte ein guter Soldat gewesen sein, aber war ein guter Soldat auch ein guter Präsident?



Der Anwalt Briscoe war mit einer Frau aus Boston verheiratet und hatte sieben Kinder, seine Frau hatte die Kinder jedoch wieder nach Boston mitgenommen. Dafür hatte er Lana Jane Sugrue, die ihm den Haushalt führte, und ihre beiden Brüder Joe und Virg, die mich damals zur Farm von Lige hinausgefahren hatten. Lana Jane kam aus Louisiana und benutzte Wörter wie

couture

 und

coiffure

. Sie war sehr klein und trug, weil sie fast keine Haare mehr hatte, drinnen wie draußen einen Hut.

 



Ich saß an meinem kleinen Tisch und führte die Bücher. Und um sechs Uhr kam John Cole mit dem Pferdewagen und holte mich ab, denn das Haus des Anwalts Briscoe lag am südlichen Ende von Paris, und es bestand keine Notwendigkeit, quer durch die Stadt Spießruten zu laufen. Angeregt durch die Stille der Fahrt, sprach John Cole von Neuengland, wo er geboren war, und von all den Abenteuern, die er in der weiten Welt gemeinsam mit Thomas McNulty bestritten hatte. Manchmal war er recht fröhlich und erzählte mir humorvolle Geschichten, meist aber war John Cole jemand, der nur ernste Dinge von sich gab.



»Das ist das Wichtigste in der Welt«, sagte er. »Wer dir was antut, der hat nicht mehr lange zu leben.«



Die Jahreszeiten gaben die Kulisse zu seinen Worten ab, und wenn es Winter war, hatte er den Mantel fast bis zu den schwarzen Funken seiner Augen zugeknöpft, genau wie ich, aber irgendwie hielt er das Gespräch stets in Gang, selbst an eiskalten Tagen.



Wenn er sich in Thomas McNultys Nähe aufhielt, was er so oft tat, wie er es nur einfädeln konnte, sprach er kaum ein Wort.



Thomas blieb immer ganz er selbst, sogar wenn er sich als meine Mama kleidete. Seine Stimme veränderte sich nicht, eigentlich auch sonst nichts. Nachdem er aus Kansas zurückgekehrt war, zog er nicht mehr so oft Frauenkleider an. Wenn der Anwalt Briscoe ein

’riginal

 war, dann war auch er eins. Thomas McNulty sagte immer, er komme aus dem Nichts. Das meinte er wörtlich. Alle seine Familienangehörigen waren in Irland gestorben, in weiter Ferne, genau wie meine in Wyoming. Sie waren verhungert, und viele Indianer waren an demselben Leiden zugrunde gegangen. Er sagte, er komme aus dem Nichts, jetzt aber lebe er unter Königen und Königinnen. Es kam ihm nie in den Sinn, dass auch wir ein Nichts waren.



Wenn er von John Cole sprach, hatte er eine bestimmte Art, das Gesicht vorzustrecken, dann bewegte sich sein Kinn auf und ab wie der Kolben einer Maschine. John Cole war bei Thomas McNulty immer gut angeschrieben. Wenn er Dinge über ihn sagte, errötete er. Zwar waren es nur ganz gewöhnliche Dinge, doch sobald er sie äußerte, verfärbten sich seine Wangen.



»Schätze, da müssen wir John Cole fragen«, sagte er, wenn es mal eine Auseinandersetzung gab. Dabei streckte er das Gesicht vor. Das meinte er gar nicht lustig, und doch musste ich immer lachen. Ich bin sicher, dass er mich lachen sah, aber er schenkte mir keine Beachtung. Jedenfalls fragte er nie, was mich denn so belustige. Und hätte er’s getan, hätte ich nicht antworten können.



Mit Thomas McNulty konnte ich immer mühelos über alles reden – bis ich herausfand, wo meine Grenze war.



Vielleicht war auch Rosalee Bouguereau traurig, als das Kleid beiseite gelegt wurde, war sie es doch, die als Königin im Hintergrund sämtliche Arbeitsschritte geleitet und sich zudem die Mühe gemacht hatte, hundert weiße Stoffstücke zurechtzuschneiden, sie zu kleinen Rosen zu drehen und am Ausschnitt anzunähen. Rosalee Bouguereau war, wie gesagt, bis vor kurzem eine echte Sklavin gewesen, doch falls der Gedanke daran sie quälte, ließ sie sich nichts anmerken, sie zeigte nur ihre Begabung für das, was man Glück nennen könnte.



An dem Tag, als ich voller Blutergüsse nach Hause kam, war sie gar nicht glücklich. Tief erschüttert war sie, als sie mich säuberte. Sie musste mir zwischen die Beine greifen. Als Sklavin dürfte sie bei Frauen schon reichlich Verletzungen gesehen haben.



Natürlich mochte man in West Tennessee keine Schwarzen, weder vor noch nach dem Krieg.



»Die mögen’s nich, wenn ’n Schwarzer auf die Füße kommt«, sagte Lige Magan. »Is’ halt das Land der Grauröcke.«



Lige hatte den unbekümmerten Humor des siegreichen Soldaten, dem die Tücken des Sieges aufgegangen sind.



»Im Krieg«, sagte er, »war East Tennessee Lincoln-Land, die haben im Blau der Union gekämpft, genau wie wir – aber dieses West Tennessee? Nichts als Baumwollfelder und Konföderiertenröcke.« Er schüttelte den Kopf über dieses Stück Geschichte, als wäre es verwirrend und verworren, was es ja auch war.



»Schätze, Grant is’ gar nich’ so übel«, sagte Thomas McNulty. »Kein Freund der Grauröcke.«



Ulysses S. Grant war Rosalee Bouguereau herzlich egal, und so wie die Dinge sich entwickelten, hatte sie vielleicht recht damit. Sie wollte nur, dass ihre Pasteten genau so aus dem Backofen kamen, wie sie sich das wünschte, und dass wir uns an den Winterabenden, wenn die Witterung alle Träume ins Haus verbannte, wohlfühlten, und was sie ganz gewiss nicht wollte, war, mich nach allem, was ich durchgemacht hatte, säubern zu müssen, darauf würde ich gutes Geld wetten.



Ihr Bruder Tennyson versuchte, ein eigenes Feld zu bestellen, und arbeitete ansonsten für Lige, und Lige zahlte Rosalee einen Lohn für ihre Tätigkeit im Haushalt, und so glaubte Rosalee, ihr eigener Herr zu sein. Oder doch so gut wie.



Nach all den Jahren kann ich nicht berichten, dass sie in Paris willkommener gewesen wäre als John Cole oder ich; wenn sie in Paris durch die Straßen ging, musste sie die Augen niederschlagen. Doch sie nahm es auf sich, betrat die Kurzwarenhandlung allerdings so leise wie möglich durch die Hintertür. Ich behaupte, mit Bändern kannte sie sich besser aus als Ma Cohen, die Frau des Kurzwarenhändlers.



An jenem Tag säubert sie mich mit der Anmut und dem sanften Gemurmel einer Mutter.



Für eine Frau, die nie verheiratet war, wusste sie über die Ehe in mancher Hinsicht besser Bescheid als Thomas McNulty. Ich wusste in keinerlei Hinsicht Bescheid. Ich schätze, ein Pastor der Weißen hätte ein Mädchen auf die Ehe vorbereiten können; ich aber hätte eine derartige Unterweisung bestimmt nicht erhalten, da man mir als kleinem Mädchen verwehrt hatte, die Schule zu besuchen. Allerdings spielte das alles überhaupt keine Rolle, denn darum hatte sich Rosalee gekümmert. Sie erklärte mir, wie die Mechanik der Liebe funktionierte und was wohin gehörte und wie man das alles ertrug, und sie erklärte mir, was Männer höchstwahrscheinlich mochten und was höchstwahrscheinlich nicht. Damit war sie an den Grenzen ihres Wissens angelangt, dafür verbürge ich mich. Ihre Weisheit verdankte sie niemandem, eher der Tatsache, dass sie selbst eine Frau war und, wie gesagt, in ihren frühen Jahren in den alten Sklavenhütten gelebt hatte, die noch immer nordwestlich des großen Ackers auf Liges Farm standen und allmählich dem Unkraut und dem Wetter zum Opfer fielen. Früher hatten dort drei Dutzend Sklaven gehaust. Da drinnen, sagte sie, sei die Menschheit ein Buch ohne Deckel gewesen.



Sie hatte eine kleine Emailleschüssel mit heißem Wasser und einen sauberen Lappen geholt und mich abgetupft. O Erbarmen! Sie wusste genau, was vorgefallen war, aber wenn ich mich recht erinnere, hatte keine von uns beiden Worte dafür. Die Sprache, die sie benutzte, war Sanftmut. Sie säuberte mich, dann legte sie beide Arme um mich, wiegte mich und sagte, ich sei ein so braves Mädchen und ich solle mir nichts daraus machen. Aber natürlich machte ich mir etwas daraus, schrecklich viel sogar. Was sie auch genau wusste. Rosalees Augen hatten die sonderbare halb gelbe, halb orange Farbe des Erntemonds; nie wieder habe ich bei irgendjemandem noch einmal solche Augen gesehen. Sie war eine gütige Frau, die lange Zeit so behandelt worden war, als wäre sie ein Nichts. Lige hatte die verstiegene Idee, sie sei eine Königin. Das sagte er immer wieder gern.



»Wer weiß, ob sie nich’ ’ne Königin is’«, sagte er.



Bis zu diesem Zeitpunkt hätte Jas Jonski ein glückliches Mädchen geheiratet. Obwohl Liges Farm, wie er selbst sagte, nach dem Krieg keine zwei Cent wert war, warf sie für unsere unmittelbaren Bedürfnisse doch genug ab. Und ich hatte eine gute Anstellung. Auch für John Cole und Thomas McNulty waren es glückliche Tage gewesen, denn es war die Zeit nach der großen Notlage, in die Thomas in Fort Leavenworth geraten war, bevor ihm sein alter Feldherr, Major Neale, zu Hilfe eilte und ihn vor dem Galgen rettete.



Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als er nach seiner langen Zeit im Gefängnis nach Hause kam, und ich glaube, nie in der ganzen Weltgeschichte hat auf einem Hals ein glücklicheres Gesicht gesessen als Thomas McNultys Gesicht an jenem Tag. Die fünfhundert Meilen von Kansas war er ganz allein und zu Fuß hergekommen.



John Cole und ich waren die halbe Strecke Richtung Stadt gegangen, weil wir wussten, dass Thomas McNulty sich rechts vom Wald halten, Paris meiden und am Saum der Bäume wieder auftauchen würde wie ein großer Hirschbock.



Ich weiß nicht, ob Sie jemals gesehen haben, wie ein Mann einen anderen Mann in die Arme schließt, falls aber nicht, kann ich Ihnen versichern, es ist ein bewegender Anblick. Weil Männer immer glauben, kühl und tapfer sein zu müssen. Das mochte bei Jas Jonski der Fall sein, nicht aber bei meinen beiden Männern. Die umklammerten einander unter den zerzausten Bäumen, und mag sein, dass Thomas McNulty schlechter gekleidet war als jedes Unkraut des Waldes und John Cole in den Augen eines Fremden so verwildert wie ein Straßengraben, ich aber kannte ihre Geschichte, und so konnte ich die leidenschaftliche Kraft erahnen, die im Fieber dieser Umarmung brannte und sich von einer Brust zur anderen übertrug.



Ich vermute, wenn ich einen Wunsch an Jas Jonski hatte, dann den, dass er mich auf dieselbe Art geliebt hätte.



Danach schloss Rosalee mich in die Arme.



Die Welt kann schon ziemlich traurig sein.






Viertes Kapitel





Wir hörten, dass Menschen anderswo hungerten. Im letzten Kriegsjahr war der gesamte Süden niedergebrannt worden, und mitunter hieß es, danach könne nur noch Unkraut gedeihen. Und dann ging die ganze weite Welt zum Teufel. Kein Geld auf den Banken. Wozu waren Banken denn sonst da, als Geld auf ihnen zu haben? Und der

Paris Invigilator

 sprach von Countys, in denen ziellos große Mengen freigelassener Sklaven umherzogen. Fälle von Mord und Notzucht wurden aufgeführt, und niemand schien zu wissen, wann die Dinge eine Wendung zum Besseren nehmen würden. Wir hatten einen Präsidenten namens Andrew Johnson gehabt, der immer wieder behauptete, des armen toten Lincoln Abgesandter auf Erden zu sein, in Wahrheit aber die geschlagenen alten Rebellen liebte. Sagte Thomas. Und die geschlagenen Rebellen standen auf, standen überall wieder auf.



Es war nicht das erste Mal, dass die Welt für mich aus nichts als Flut und Flammen bestand, auch nicht das erste Mal, dass ich schöne Tage genoss. Oder dass äußere Einflüsse sich gegen das Glück verschworen. Als ich noch ein kleines Mädchen war, tat meine Mutter alles, um mich mit Glück zu überschütten. In meinem Volk war es ein Segen, ein Kind zu sein. Die erwachsenen Frauen hielten das Lager in Ordnung, die Männer jagten und kämpften, und unsere kleine Aufgabe als Kinder war es, herumzuspringen und glücklich zu sein. Daran zumindest erinnere ich mich deutlich. Wir rannten zwischen den Tipis umher, und es gab nichts, was uns daran hindern konnte, ausgenommen vielleicht der Zorn eines übellaunigen Hundes. Während der heftigen Winterstürme mussten wir auf engstem Raum zusammenhocken, aber was machte das schon? Wir bekamen lange Streifen Trockenfleisch, und der Schnee wurde auf dem Feuer geschmolzen. Im tiefsten Winter muss unser Tipi wie eine im hohen Schnee verborgene Kuppe gewirkt haben, und nur die nach oben steigenden Rauchfahnen verrieten, wo wir kauerten. Meine Mutter hatte gute Geschichten im Kopf; die erzählte sie uns, während wir uns an ihre Beine schmiegten, um uns zu wärmen. Damals hatten wir unsere eigene Sprache, und selbst heute noch höre ich ihre murmelnde Stimme. Wenn ich zu ihr aufblickte, war ihr Atem wie ein leichter Windhauch auf meinem Gesicht. Ihre Arme ruhten auf unseren Rücken wie herabgefallene Äste, die man dort vergessen hatte. So erzählte sie ihre Geschichten. Von Wundern und seltsamen Zeiten. Indem sie jeden Moment unseres kindlichen Daseins zu einem guten Moment machte, vermittelte sie uns einen Eindruck vom weiten Land der Ewigkeit. Wie oft musste ich an ihren Knien weinen, weil ich so glücklich war!



In unserem Stamm stand meine Mutter im Ruf großer Unerschrockenheit. Einmal, als sämtliche Männer fort waren, streifte ein Trupp Crow-Indianer, unsere Feinde, in der Nähe des Dorfes umher. Nur Frauen, Kinder und Alte waren zurückgeblieben. Diese Crow würden sich greifen, was sie nur konnten, und uns töten oder was immer sie mit uns vorhatten. Meine Mutter löste sich aus unserer kleinen Gruppe und ging bis zu der Stelle, wo sich die Crow versammelt hatten. Sie begrüßte sie freundlich und begann, mit ihnen zu sprechen, und bald unterhielten sie sich aufs Angenehmste, und so wurde die Katastrophe durch die Zauberkraft ihres Mutes abgewendet. Die Leute sprachen von diesem Moment als von einer heiligen Sache und begegneten ihr mit großer Ehrerbietung. Drei- oder viermal forderten die Männer sie auf, mit ihnen in den Krieg zu ziehen, weil sie glaubten, sie verfüge über besondere Kräfte. Sie legte Männerkleidung an und ritt davon. Sie wusste genau, wo im Gelände der Feind sich befand, selbst wenn er sich versteckt hielt. Kein Mann auf Erden hätte sich an sie heranschleichen können. Viele sagten mir, eine wie sie habe es noch nie gegeben. Auf diese Weise war auch sie eine Geschichte.

 



Eine andere Geschichte, die sie erzählte, nannte sie »Der Fall«. Eine große Krankheit sei über uns gekommen, sagte sie, vor tausend Monden. Fast alle starben. Sie fielen um, und nur wenige Stunden später waren sie tot. Oh, wie wir uns vor dieser Geschichte fürchteten! »Vor tausend Monden« war ihr größtes Zeitmaß. Es war ein ähnliches Zeitmaß wie Thomas McNultys »hundert Jahre«. Einmal fragte ihn ein Wanderprediger: »Wann seid’s Ihr nach Amerika gekommen, Thomas?« »Vor hundert Jahren«, lautete seine Antwort. Für meine Mutter war die Zeit eine Art Reifen oder Kreis, keine lange Schnur. Wenn man weit genug laufe, sagte sie, könne man auf lebendige Menschen stoßen, die schon in tiefster Vergangenheit gelebt hätten. »Tausend Monde auf einmal«, nannte sie das. So weit könne man gar nicht laufen, sagte sie, aber das bedeute nicht, dass die Menschen nicht da seien. Alle möglichen Vorstellungen hatte sie, die uns Kindern sehr gut gefielen und uns zugleich Angst machten.



Aber natürlich haben die Soldaten sie getötet, und sie haben meinen Vater und meine Onkel getötet. Sie haben meine Schwester und meine Tanten getötet, sie haben ungezählte Menschen getötet. Sie müssen’s getan haben, denn keiner von ihnen war mehr am Leben. Danach gab’s nur noch mich, so jedenfalls fühlte es sich an.



Für sie waren wir ein Nichts. Ich muss daran denken, wie viel Wert wir darauf legten,

was

 wir waren, und ich frage mich, was es bedeutet, wenn ein anderes Volk dich für so wertlos hält, dass du nur noch getötet werden kannst. Wie unser Stolz auf alles so zerschmettert wurde, dass er sich verflüchtigte, dass er nur noch ein kleines Stäubchen war, das der Wind verwehte. Wo war da der Mut meiner Mutter? War auch sie zu Staub geworden? Wir glaubten, der Name der Welt sei Schildkröteninsel, aber das stellte sich als Irrtum heraus. Was hat das mit deinem Herzen gemacht, was mit meinem?



Nichts, nichts, nichts, wir waren ein Nichts. Ich denke darüber nach und halte es für den Gipfel der Traurigkeit.



Aber vielleicht war das ja der Grund, weshalb Thomas McNulty und John Cole mich liebten – weil ich ein Kind des Nichts war.



Nur wenige von uns kleinen Kindern scheinen dem Massaker entkommen zu sein, um wie Stecklinge aus dem einen Leben herausgeschnitten und plötzlich in ein anderes verpflanzt zu werden. Wo mir Mrs Neale im Fort Englisch beibrachte und mich schließlich Thomas McNulty übergab, als der sie darum bat. Mrs Neale fragte mich, ob ich mitgehen wolle. Und obwohl ich ein kleines verlorenes Mädchen war und er nur ein grober Soldat, mochte ich ihn. Ich weiß noch, wie ich, ganz klein und adrett, vor Mrs Neale saß und meine Entscheidung traf. Ja. Er wollte mich nur als Bedienstete mitnehmen. Vielleicht hätte sie mich ihm in jedem Fall übergeben. Aber das weiß ich nicht, weil ich ja gesagt hatte. Mrs Neale hatte an Thomas Gefallen gefunden, und sie vertraute ihm. Inzwischen weiß ich, dass viele indianische Mädchen zu sündhaften Zwecken übergeben wurden. Dieser verrückte Starling Carlton, nun, es war weithin bekannt, dass er ein Kinderdieb war und Leuten Kinder aus dem Westen zuführte, aus Gründen, so finster, dass keine Jahreszeit und keine Sturmnacht ihnen gleichkamen.



Nein, ich glaube, es stimmt, dass ich mich an das Gemetzel nicht erinnern konnte. Ich glaube, ich konnte es wirklich nicht.



Und nun gab es ein zweites Ereignis, an das ich mich nicht erinnern konnte, und das war mir erst jüngst widerfahren.



Unterdessen tauchte Jas Jonski auf. Nach zwei Wochen kam er auf einem alten Gaul, den er wohl seinem Freund Frank Parkman vom städtischen Mietstall abgebettelt hatte, den Weg heraufgetrappelt. Natürlich war ich seit dem Vorfall nicht mal mehr in der Nähe der Stadt gewesen, und ich vermute, er hatte darauf gewartet, dass ic