Bob Lennce und der fremde Klang

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FRÜH

Ezra hatte schließlich doch in sein Bett gefunden. Steif und kalt hatte er sich in die Decke gerollt, nachdem Bob Lennce ihn einfach stehengelassen hatte. Er hatte sich umgedreht und war gegangen, denn der Dienst seiner kreativen Hebamme war abgeleistet. Ezra fühlte sich benützt, aber schlief trotzdem.

Er las die Morgenzeitungen, alle. Eves Tod ging durch die Blätter. Er erfuhr einiges über sie: frisch geschieden, Auslandskorrespondentin in Moskau. Hatte ein Buch geschrieben. Keine Kinder. Aber keiner wusste über den gestrigen Abend mehr als er. Nichts stand da über den Grund des Todes. Die Zeitungen bezeichneten den Todesfall als unerwartet, unbegreiflich, unerklärlich… Viele „un-“ und keine Fakten…

Ezra versuchte, den Vorabend möglichst genau zu rekonstruieren. War ihm etwas Besonderes aufgefallen? Hatte er vielleicht gesehen, wer Eve ermordet hatte, und es bloß nicht wahrgenommen? Er müsste es gesehen haben, denn er stand fast die ganze Zeit am gleichen Platz in der Nähe des Tischchens.

Eve war früh dagewesen. Natürlich konnte sie bereits mit Gift im Körper gekommen sein. Das musste Wolfgang klären. Sie stand die meiste Zeit an dem Tischchen mit Ro und Lennce. Viele Journalisten waren kurz vorbeigekommen, Walthen hatte sich auch einmal dazu gestellt. Vielleicht hatte er sie ermordet? - Und dann würden sie ihn verurteilen und hoffentlich aufs Rad spannen und vierteilen. Aber die Todesstrafe war ja leider abgeschafft. Bedauerlich! Es war auch nicht wirklich einzusehen, warum Walthen Eve Lesnault ermordet haben sollte.

Wie konnte Gift in ihren Körper gekommen sein? Irgendwo musste es drin gewesen sein und irgendwie den Weg in sie hinein gefunden haben. Aber kaum ein Gift wirkt innerhalb von Minuten, und die starken, schnell wirkenden Gifte schmecken deutlich. Es war also ganz unwahrscheinlich, dass sie es an Ort und Stelle getrunken hatte. Ezras Überlegungen liefen herum und suchten einen Anker. Was war vor der Veranstaltung gewesen? Hatte er unwissentlich zu ihrem Tod beigetragen? Hatte er etwas an der Veranstaltung so organisiert, dass das Gift seinen Weg nehmen konnte? Hatte er Schuld an ihrem Tod?

Wie konnte er Schuld haben? Was konnte er getan haben, um dem Tod den Weg zu ebnen? Er hatte die Probleme mit dem Raum zu regeln gehabt, war von der Gemeinde gekommen, mit der Information, dass der Gemeindesaal nicht zu mieten war. Für seine Aufgabe eine wirklich schwierige Situation. Er hatte die Inhaberin seiner Pension befragt, wo noch Räume wären, die für den Anlass gebucht werden konnten. Er hatte zu dem Zeitpunkt unbedingt einen Ort für den Empfang gebraucht.

An dem Tag war die Hausfrau mit Reinheit beschäftigt gewesen. Reinheit war für sie die entschlossene Vernichtung von allem, was sich bewegt, wächst, verändert. Reinheit war das Ewige, das immer Gleichbleibende. Sie rückte mit den unglaublichsten Giften aus, um alles, was da zappelte oder den Platz verließ, zu töten. Der Baum am Vorplatz hatte sein Leben lassen müssen, weil er Blätter produziert hatte. Jetzt prangte vor der Pension eine Betonfläche, eingezäunt wie ein Vorgarten, mit einem Gartenzwerg vorne links.

Ezra musste lachen: Da gäbe es ja doch die Sehnsucht nach Romantik, ein fernes Rühren an der Welt der Märchen und des Unkontrollierten, könnte man denken. Falsch! Das war wohl nur der Platzanspruch des Kleinen, der immer arbeitet, denn der Zwerg war mit einer Schaufel ausgerüstet.

Alle, die bleiben wollten, mussten Zimmer bei dieser Dame buchen, denn es gab nur eine Pension im Ort. Das gehörte zu den Problemen der Organisation rund um die Wohltätigkeitsveranstaltung, für die Bob Lennce stand - zum Weiterbau des mächtigen Gotteshauses in dem großen Dorf.

Ezra hatte schließlich nur die Kegelbahn als möglichen Ort für den Presseempfang aufgetan und hatte sie mit den Helfern aus dem Ort hergerichtet. Wie konnte Gift in dieses Szenario gekommen sein? War etwas von der tödlichen Reinigung ins Essen gelangt?

Draußen fuhr ein Wagen vor. Den Klang kannte er. Wolfgang war zurück mit neuem Equipment. Ezra wanderte die Treppen hinunter. Die Hausfrau war mit einem Kübel unterwegs, aus dem gewaltige Chlordämpfe aufstiegen. Sie sah ihn böse und gestresst an. Musste er befürchten, der Desinfektion zum Opfer zu fallen? Oder waren die tödlichen Substanzen nur zur Vernichtung von Journalisten und anderem Gelichter gedacht? Plötzliche Todesfälle waren dann einfach - Reinigung?

Wolfgang kletterte vor der Pension aus seinem Pickup.

„Hast du dir etwas in Sachen Akustik überlegt? Ich habe gestern nicht mit Bob Lennce über das Problem sprechen können. Ich wollte abwarten, was dir einfällt.“

Wolfgang zog die Plane fester nach. „Ich weiß nicht genau, ob es etwas bringt, aber ich wollte schon lange ausprobieren, was diese Klangkörper bewirken. Ich denke, es ist gut möglich, dass sie das Akustikproblem beheben, oder aber sie erzeugen etwas Neues.“ Ezra nahm wahr, dass sich unter der Plane etwas wölbte. Ein Experiment? Aber ja.

„Wir werden Bob Lennce einweihen. Jetzt ist es noch zu früh. Wir sollten ihn nicht reizen. Ich denke, in einer Stunde.“

Die Ideen von Wolfgang funktionierten meistens, es war eine große Erleichterung, ihn dabeizuhaben. Ezra liebte seinen cholerischen, kleptomanischen Jugendfreund.

Beide standen beim Pickup, da sah er ein Kind vorsichtig ums Eck schauen. Ein kleines Mädchen. Eine von den dreien, die er am Vortag in der Kathedrale im Sand spielen gesehen hatte. Sie schien auf Abenteuer aus, denn sie versteckte sich hinter der Ecke. Die Hausfrau kam gerade mit Kübel und Mobb aus der Türe. Sie wirkte sehr angestrengt. Das ständige Desinfizieren schien ihr auf die Nerven zu gehen. Es war keine befriedigende Sache, auch keine Erleichterung. Es war nicht erholsam und nicht entspannend, nicht einmal sicher fühlte es sich an. Jede Desinfektion führte zu neuen Desinfektionen. Wie Sisyphos sah sie sich gezwungen, verflucht, zu dieser Art Ordnung getrieben, ohne Freude. Als sie das Kind sah, schwang sie wütend den Mobb. Die Kleine lief quietschend davon.

„Hexenbrut“, schimpfte die Frau, zu Ezra gewandt. „Abschaum!“

Ezra und Wolfgang standen da und fanden es ziemlich übertrieben, dass nun schon Kinder aus den heiligen Chlorhallen vertrieben wurden. Sie merkte die Ablehnung und machte ihren Standpunkt klar: „Gotteslästerung“, fauchte sie. „Geister kommen. Die Kinder lassen Geister kommen. Das darf man nicht zulassen. Das muss verhindert werden. Aber die Leute zahlen dafür. Wenn sie Geld dafür kriegen, hört das nie auf. Dann werden die Geister immer wieder kommen und sich hier breitmachen. Die Töne in der Kathedrale sind auch hier, seit die Kinder die Geister beschwören.“ Sie dampfte Frustration aus jeder Pore. „Keine ordentlichen Leute, sehr schmutzig.“ – Das war die schlimmste Beschimpfung, die ihr einfiel. Damit ging sie wieder ins Haus.

Ezra war verwirrt. Die Kinder als Geisterbeschwörer? Die Geister kommen, wenn die Kinder was tun? Töne in der Kathedrale? Was für Töne? Ezra erinnerte sich an die Klänge, die er am Vorabend in der Kirche gehört hatte, als ob sie aus dem Himmel gekommen wären. War das Geistermusik? Waren Geister an Eves Tod schuld? Geisterkonzerte in einer unfertigen Kirche? War das tödlich?

Dieses Mädchen war die Mittlere von den Dreien. Ein kleines, dünnes Kind von vielleicht sechs oder sieben Jahren. Sie hockte hinter der Ecke und versuchte, mit dunklen Augen hervor zu spähen. Wolfgang ging, um sie zu beruhigen. Er nahm sie hoch. „Brauchst dich nicht aufregen, ein Mobb ist nicht sowas Schlimmes“, brummte er.

Die Kleine sah ihn mit großen Augen an. „Ja, aber er stinkt“, sagte sie dann sachlich.

„Da geb ich dir recht. Man mag das nicht in den Haaren.“

„Das letzte Mal hatte ich es dann im Kragen“, erzählte sie und fasste sich mit ihrer kleinen Hand hinter den Kopf. „Das war kalt und ist in meinen Pullover reingeronnen…“

„Bäh, pfui“, machte der große Mann. Es herrschte ein tiefes Einverständnis.

„Ist sie weg?“, fragte die kleine Frau.

„Ist ins Haus gegangen.“ Er ließ das Mädchen runter. Sie nahm seine Hand und schaute vorsichtig um die Ecke.

„Ist noch im Haus drin“, sagte er beruhigend.

„Kommt sie wieder raus?“

„Weiß ich doch nicht. Warum tust du dir das immer wieder an?“, fragte er und schaute auch ums Eck.

„Na, ich muss schauen, ob jemand in ihrem Keller ist.“

„Wer soll in ihrem Keller sein?“

Die Kleine zuckte nur mit den Achseln. Sie wollte sichtlich nichts weiter sagen. Er wartete. Ezra wartete auch. Er betrachtete das Einverständnis der beiden mit gutem Gefühl. Nur, wer sollte da im Keller sein? Gestern beim Spielen hatten sie gesagt, dass einer im Keller klopft – hatte das etwas damit zu tun?

„Komm ich zeig dir was“, sagte das Kind plötzlich und zog an Wolfgangs Hand.

Ein Ablenkungsmanöver, dachte Ezra, damit nicht weiter nach der Sache mit dem Keller geforscht wurde.

Entschlossen führte sie den großen Mann über die Straße zur Kathedrale. Ezra folgte. Sie gingen außen an der Mauer entlang auf die andere Seite. Dort lag ein großer Platz, sandig grau, und erstreckte sich weit, in der Ferne einige kleine Bäume mit den ersten Blättern. Wenige tapfere, grüne Pflanzenstände wurden vom Frühling aus der Erde gezwungen. Ziemlich öde lag die große Fläche da und wartete auf irgendein Ereignis.

Das Kind lief mit Wolfgang an der Hand an der hohen Mauer entlang. Schließlich erreichten sie eine Nische. Eine der riesigen Säulen war vorgerückt und die Mauer sprang zurück. So entstand ein kleiner Flecken wie ein Garten hinter der Säule, eingerahmt von einem kostbaren, alten Schmiedeeisen-Gitter. Dort war es sonnig und sehr geschützt, und der Boden war schon von einem grünen Kraut bewachsen.

 

„Schau, da sind sie“, sagte das Kind fast stolz.

„Was ist das?“, fragte Wolfgang.

„Die Mädchen.“

Wolfgang bückte sich und zupfte an einem Blatt.

„Nicht!“, rief sie. „Du tust ihnen weh, wenn du an ihnen ziehst, dann schreien sie vielleicht.“

„Wieso?“, Wolfgang war nicht sicher, worum es da ging.

Die Kleine bückte sich. Sie grub ein wenig Erde von einer großen Pflanze weg. Da kam etwas wie ein brauner Kopf zum Vorschein. Es hatte nicht wirklich ein Gesicht, aber es waren zwei dunkle Stellen, da wo die Augen hätten sein können.

Sie grub noch ein bisschen, vorsichtig, mit einem kleinen Stock, ohne die Pflanze zu berühren. „Sie mögen es nicht, wenn man sie angreift“, sagte sie dazu. Da kam etwas wie eine Schulter und der Ansatz von zwei Armen zum Vorschein, ein kleiner Mensch, obwohl es eine Wurzel war, die in der Erde steckte. Der eine Arm war verkrümmt nach oben gebogen, und aus ihm wuchsen kleine Blätter, dort wo die Hand gewesen wäre. „Das ist ein Galgenweibchen“, erklärte sie. „Hat Ivy gesagt.“

Wolfgang hatte sich neben sie gehockt. „…und was tun die?“

„Manchmal husten sie. Ivy sagt, sie wollen mit dir schlafen.“ Wolfgang bohrte mit seinem Finger in den sandigen Boden neben dem Galgenweibchen, um nachzuschauen, was weiter unten in der Erde los war. „Nicht!“ rief das Mädchen. „Nicht, die mögen das nicht.“

„Schreien sie dann wieder?“

„Nein sie husten aber, oder sie pfeifen, und das ist dann schlimm.“

„Wieso schlimm?“

„Sie holen den Gaukler.“

„…und was tut der?“

Sie schaute ihn angstvoll an, aber sagte kein Wort.

Wolfgang wollte nicht, dass sie sich fürchtete. „Schau, das Weibchen guckt aus der Erde, wer da kommt.“ Tatsächlich hatte sich durch das Graben um die Wurzel ein kleiner Krater gebildet, und es sah aus, als ob sie über den Rand schauen würde.

Das kleine Mädchen richtete sich auf. Sie hielt das Stöckchen in der Hand, an dem noch Sandkörner klebten. „Nein“, sagte sie. „Die schaut nicht, die ist ja blind.“ Sie legte den kleinen Ast vorsichtig neben die Pflanze murmelte noch: „… muss gehen“, und ging.

Ezra blieb mit Wolfgang ein wenig verunsichert zurück.

VORMITTAG

Nachdem die Zwischenstationen, vor allem Larry, der Bodyguard, und Odine Lennce überwunden waren, war Bob sofort bereit, sich mit dem Akustikproblem auseinanderzusetzen. Er kam in das zukünftige Gotteshaus. Wolfgang hatte einige seltsame Formen aus seinem Pickup gepackt. Aus verschiedenen Materialien zusammengesetzt, erinnerten sie an überdimensionierte Keksformen.

Auch Odine, die Gattin von Bob Lennce, kam dann. Sie sah interessant aus. Schick. Keine Barbie, eine besondere Frau, eine sichtlich zurückhaltende Frau. Jede ihrer Gesten schien zu sagen, ich bin klein, ich bin schwach neben ihm. Sie nannte sich Designerin, aber ihre wesentliche Lebensaufgabe schien es, um Bob zu sein.

Wolfgang erklärte das akustische Problem. „Kein Klang, der in richtiger Form den Raum erfüllt. Ein Amphitheater würden wir brauchen. Ganz im Gegenteil sind hier in Wellenform gebaute Ecken und Riffe…“ Dann zeigte er seine metergroßen Formen. „Es gibt eine Wahrscheinlichkeit, dass diese Formen Klang in besonderer Form reflektieren, weil sie Klangfiguren nachgebildet sind. Das Muster von Schwingungsfiguren, die aus Klang entstehen, wurde so verarbeitet, mit Keramik und Kupferteilen. Sie könnten Klänge in einer neuen Art mit Energie anreichern, verstärken. Ich denke wir können sie im Raum aufhängen und genau auf einzelne Instrumente einrichten. Sind auch recht dekorativ…“ Das war ein Nachgedanke, um Bob das Experiment schmackhaft zu machen.

Bob war sehr angetan. Man unterhielt sich über Frequenzen und Bässe. Ezra nahm aus der Entfernung wahr, dass die Konstruktion von noch größeren Formen überlegt wurde. Er versuchte inzwischen ein Gespräch mit der Gattin: „Das war ein Schock gestern...“

Sie schaute ihn nur abwartend an.

Er fuhr fort: „Eve, so plötzlich. Es tut mir wirklich leid um sie…“ Er hätte die Frau gerne sprechen gehört, aber sie befasste sich mit einem Papiervogel, den sie aus ihrer Tasche geholt hatte. Sie hielt den Papiervogel gegen das Licht, das durch das Gerüst der Kuppel fiel. Ezra durchsuchte seine Erfahrungen, um ein Gespräch mit ihr zustande zu bringen. Was würde sie wohl veranlassen, etwas zu sagen?

Schließlich verkündete er laut: „Eve war eine tolle Frau, reizvoll, gescheit und sehr, sehr mutig.“ Er hatte recht. Sie schaute ihn scharf an, plötzlich war der Vogel nicht mehr so interessant. „Eve war oft bei uns“, sagte sie. Ihre Stimme war lieblich.

„Hatte sie ein Projekt mit Bob?“

„Ach nein“, meinte sie wegwerfend. „Sie wollte Bob benützen.“

„Wofür benützen?“

„Über ihn schreiben.“

„Eve war eine gute Journalistin…“ Ezra blieb bei seiner Linie, um mehr aus ihr herauszuholen.

„Bob hielt sie auf Abstand. Er wollte nicht, dass ständig über ihn geschrieben wird.“

„Eigentlich lebt er davon, dass gute Journalisten über ihn schreiben.“

„Ja, aber Menschen sind auch neugierig auf Texte über ihn. Ein Schreiberling, der gelesen werden will, schreibt über Bob. Und dann schreiben sie, was er gegessen hat, und was er angezogen hat, und was er im Bett treibt. Nur, damit noch mehr geschrieben werden kann. Sie entkleiden ihn öffentlich und kriechen in seine Unterhosen.“ Sie sagte das abwertend und in einem Nachsatz: „Aber angezogen ist er interessanter… Er will geheimnisvoll bleiben, aber er muss auch, das ist sein Markenzeichen.“

„Ich hätte nie geglaubt, dass Eve die Art von Journalistin gewesen wäre, die billige Intimitäten breittritt.“

„Eve war auch nicht anders als alle, sie wollte gelesen werden. Ganz einfach.“

„Und da hat sie Intimes über Bob geschrieben?“

„Nein, so weit ist es dann doch nicht gekommen. Bob hat sie nur nicht rausgeschmissen.“ Eine Weile war es still.

„Hat er Angst gehabt, dass sie etwas schreibt, was er nicht will?“

„Angst nicht, aber er ist immer ganz schön giftig mit Journalisten geworden.“

„Hatte er denn Auseinandersetzungen mit Eve?“

Wieder eine lange Pause. „Er hatte vielleicht das Gefühl, er konnte sie nicht rausschmeißen…“, murmelte sie. Sie wendete sich ab und befasste sich wieder mit ihrem Papiervogel. Sie hielt ihn gegen den Himmel und prüfte ihn im Hellen.

Zwischen Bob und Wolfgang war es lauter geworden. Nicht Streit, keine Auseinandersetzung, die beiden hatten sich in große Begeisterung hineingeredet. Man würde den Innenraum mit den seltsamen Formen zuhängen, Klangbeschwörung, der Geist des Klanges und der Schwingung, ein mystisches Echo aus dem Jenseits. Töne würden eine besondere Energie bekommen. Wolfgang musste sich sofort mit den Hängungen befassen. Wo sollten sie die Instrumente hinstellen? Die Instrumente kamen unter das Dach in der Apsis, und sie würden die Gruppe einberufen, sobald die da waren. Wolfgang sollte sofort beginnen…

Die Frau von Bob bewegte sich auf die beiden zu. Ganz eng stellte sie sich neben Bob. „Wo könnte man die Klangkörper aufhängen?“, fragte sie.

Beide Männer erklärten. Die Haare fielen über Odines blasses Gesicht, während sie ernst zuhörte. Schließlich wendete sich Bob ab und ging, um mit seiner Band zu telefonieren, die bald kommen sollte.

Wolfgang hatte das Gefühl, er musste fertigerklären, aber sie hatte kein Interesse mehr. Nachdem Bob weg war, drehte auch sie sich um und befasste sich wieder mit ihrem Papiervogel. Wolfgang war belanglos, unwichtig.

MITTAG

Ezra hatte zuerst gedacht, Wolfgang bräuchte ihn den Nachmittag über beim Aufhängen der Formen. Einige schwebten bereits unter dem Himmel zwischen den hohen Wänden. Die Feinjustierung, sagte Wolfgang, könne er nur mit der Kapelle von Bob vornehmen. So war Ezra entlassen und schlenderte zu seiner Pension. Als er vor der Türe stand, überfiel ihn eine Abneigung gegen Chlordämpfe, Sisyphos und schlechte Laune. Er wollte nicht hören, dass sein Mantel falsch an der Garderobe hing, weil das Schlingerl ausgerissen war. So beschloss er, sich die Umgebung anzuschauen.

Gerne wollte er wissen, wo die drei Kinder wohnten, die Geister beschwören konnten. Wie sie lebten, und vor allem, wer dort klopfte.

Er schaute sich die kleinen und größeren Häuser mit ihren Vorgärten an. Kein Luxus, sofern ein eigenes Haus nicht prinzipiell Luxus ist. Einfache Wohnstätten mit hübscher Front, keine Gegend für die Reichen und Schönen. Nichts deutete auf den Kampf der großen Mächte. Der kleine häusliche Unfrieden, die kleine tägliche Gewalt vielleicht, aber da war niemand aus der High Society zu Hause, nichts geschah hier, was am roten Teppich ausgetragen wurde.

Er schaute sich um. Weit konnten die drei ja nicht weg wohnen. Nur fern war Straßenlärm von der Hauptstraße zu hören, sonst war es still. Konnte er Kinderlachen wahrnehmen? Er schaute zwischen den Häuserwänden in die Gärten. Eine junge Frau wusch mit dem Schlauch den Gehsteig. Ezra ging auf sie zu. Nein, so jung war sie gar nicht. Sie sah nur sehr jung aus, schlank, fast wie eine Schülerin, war aber wohl schon eine Weile im Leben, ein interessantes, glattes Gesicht.

„Ich habe gestern drei Mädchen in der Kathedrale getroffen, wohnen die hier irgendwo?“

Die Frau sah ihn sofort misstrauisch an. Ein Mann, der sich nach kleinen Mädchen erkundigt? Was genau wollte der? Ezra schluckte seinen Ärger hinunter. Konnte man tatsächlich mit Kindern keine normale Beziehung mehr haben? Alles von Sexfantasien verzerrt und beschädigt. „Unsere Hausfrau hat eine der drei mit dem Mobb geschlagen, und ich wollte schauen, ob alles in Ordnung ist.“ Die Erklärung war auch an den Tatsachen vorbei, aber er war genötigt, konnte nicht einfach sagen: „Ich hätte gerne herausgefunden, welche Geister sie beschwören.“.

Die Frau schaute deutlich freundlicher. „Ach, hat sie wieder angegriffen“. Sie sagte das lächelnd. Der Schlauch lief auf den Gehsteig und sie schaute ins Leere. Schließlich sagte sie leise: „Die Menschen sind komisch. Die ungebundenen Seelen faszinieren sie und lösen gleichzeitig Angst und Wut aus. Das mystisch Unerklärliche lockt und beschäftigt sie, aber hauptsächlich damit, dass sie es als Humbug entlarven möchten oder benützen. Sie verbringen Zeit auf der Suche nach dem, was man nicht erklären kann, um es dann mit allen Mitteln erklären zu wollen und anschließend mies zu machen oder dienstbar.“

Zornig reinigte sie eine Ecke.

„Die Mädchen sind etwas Besonderes. Sie haben Bewunderer und daher auch Feinde. Vor allem die sehr Katholischen sind gespalten. Sie sind fasziniert von der Möglichkeit eines lebendigen Totenreiches, obwohl sie Séancen verdammen. Sie glauben an ein belebtes Jenseits, an Teufel, und Geister wollen sie aber immer nur wegschicken, statt mit ihnen zu reden.“ Sie drehte den Schlauch ab. „Das Kreuz - Prinzip der ewigen Erstarrung - soll Seelen daran hindern, frei zu sein. Kein Dialog, nur Bannung, und das, obwohl sie glauben, dass die liebe Ur-Oma im Fegefeuer sitzt. Das Kreuz, das härteste Symbol von allen, ist der Garant dafür, dass alles an seinem Platz bleibt, auch die Oma im Fegefeuer.“

„Ja, es darf sich nichts verändern.“ Ezra wollte ein Gespräch, sie interessierte ihn mit ihrem ausdruckslosen Gesicht. „Leben ist bedrohlich, weil es in Bewegung ist“, bestätigte er. Seine Hausfrau fiel ihm ein, als Chlor-Ritter gegen das Böse, ihr Kreuzzug bekämpfte unter ungeheurem Einsatz etwas, das sie gar nicht kannte. Sie hatte ja nie versucht, es kennenzulernen - Mythen wie Bakterien, und dann vielleicht auch Geister…

Die Frau drehte das Wasser ab und kicherte: „Ja, Desinfektion gegen Geister, mit Gift lässt sich´s regeln. Oder?“

Gift? Gift war hier überall! War Eve doch einfach einer Reinigung zum Opfer gefallen?

Das erste Mal seit vierzehn Tagen hatte Ezra Zeit. Er konnte sich in Ruhe die Frage stellen, wie Eve am Vortag umgekommen war. Die Frage schmerzte. Sie war nicht leicht zu beantworten. Er war auch betroffen. Nicht nur von dem Tod, auch von seiner Rolle in der Sache. Im Augenblick genoss er es aber, mit dieser Frau in der blassen Frühlingssonne zu stehen. Sie war interessant, und vielleicht schaffte er so ein wenig Klarheit über den Mord an Eve. Hatte das tägliche Töten im Namen von Pasteur mit dem Mord zu tun? Eine erlaubte, leicht zugängliche Quelle von starkem Gift war immerhin gegeben.

 

Die Frau rollte den Schlauch auf. „Die Mädchen sind nicht da, die sind in der Schule und im Kindergarten. Möchten sie einen Tee?“ Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie vor ihm am Haus entlang. In dem kleinen Garten stand ein weiteres Gebäude. „Das ist meine Werkstatt.“ Sie ging über den Rasen und öffnete die Türe zu einem wohlgeheizten Raum.

Ezra blieb staunend in der Türe stehen. Bunt bemalte, seltsame Formen lagen und standen dort. Ein Drache mit großer Ähnlichkeit zu einem Pferd schwebte in der Mitte, und ein sehr seltsamer Sessel stand in strahlendem Blau da. Und dann gab es so etwas wie einen riesigen, dunkelroten Kinderwagen. Ezra war überwältigt. „Was machen Sie da?“

Sie ging durch den Raum und setzte einen Wasserkocher auf. „Ich möchte eine Skulptur machen, die beglückt. Einen Gegenstand, der heilt…“

Ezra stand noch immer wie ein staunendes Kind in einem Märchenland. Der Drache schwang leise an seinen Schnüren.

„Ein Ringelspiel macht glücklich, und Schaukeln machen glücklich, und deshalb will ich ein Schaukel-Ringelspiel der besonderen Art machen.“

Ezra ging langsam von einem Gegenstand zum anderen. Den blauen Sessel tippte er vorsichtig an. Er konnte nicht gleich erkennen, wie man auf dem Ding schaukeln konnte. Sie stand jetzt hinter ihm, Blätter in der hohlen Hand. „Ich habe immer gerne bei Tisch gehutscht“, erklärte sie. „Dann haben sie mir den Zappelphilipp vorgelesen, dieses grausame Buch. Kranke Erwachsene produzieren kranke Kinder. Die armen behinderten Kreaturen schauen mit irrem Blick aus den Seiten dieses Buches“. Sie holte von einem Regal eine mächtige, orangegelbe Kanne, deren überquellendes Blumendekor den ganzen rundlichen Körper überwuchert hatte. Ezra überlegte, wo wohl der Tee eingefüllt werden konnte, ein Deckel war nicht zu erkennen. Sie erzählte: „Ich möchte für Erwachsene die glückliche Kindheit verlängern, und für Kinder Erziehung nicht als Drohungen und Verbote, sondern als Erfahrung am eigenen Körper, an den Möglichkeiten, die man hat.“

Sie klappte einen Teil der Ornamente hoch und tat Blätter und Wasser hinein. Sie wirkte ruhig, gezielt ein wenig in sich gekehrt. Ihr Gesicht war weiter ausdruckslos, der äußere Schein war glatt und scheinbar freundlich leer. Ezra spürte starke Gefühle hinter der Fassade. Oder redete er sich das nur ein? Er hatte seine Hand auf die blaue Sitzfläche des Sessels gelegt, weil er immer noch herausfinden wollte, wie man mit diesem Sitz schaukeln konnte. Er übte Druck aus, da begannen die Beine zu knicken. Sie ließen sich nach allen Seiten verbiegen. „Ist das nicht gefährlich?“

„Das Leben ist ein äußerst gefährliches, führt garantiert zum Tode“, stellte sie fest.

„Ja, aber nicht schon als Kleinkind.“

„Sachen, die ein wenig gefährlich sind, sind meist interessanter und dann auch lustiger. Diese öden, abgesicherten Spielplätze, wo Kinder nur ganz bestimmte Bewegungen in ganz bestimmter Reihenfolge machen können, scheinen sicher, sind es aber nicht.“

„Nun, immerhin kann nicht leicht etwas passieren.“

„Oh doch, gerade dort passiert es. Dort werden böse Seelen gezüchtet, die anderen absichtlich das Schauferl verbiegen oder wegnehmen, damit sie sehen, wie das andere Kind weint. Oder die dem kleineren das Küberl über den Kopf braten, dass er blutet, damit sich irgendein Erlebnis einstellt. In dieser langweilig öden, anscheinend sicheren Welt wird die echte Gefahr gezüchtet. Die Keime der Bösartigkeit wuchern, das ist ein gutes, mildes Klima dafür. Gelangweilte kleine Teufel schöpfen ihre Potentiale aus.“ Sie sagte das freundlich, ausdruckslos.

Ezra überlegte sofort: War er damals, früher am Spielplatz, ein gelangweilter kleiner Teufel gewesen? Hatte er anderen das Schauferl übergebraten? Er konnte sich nicht erinnern. Wenn einer weinte oder blutete, hatte er einen seltsamen Gefühlsmatsch in seinem Bauch gehabt, zwischen Mitleid, Hilflosigkeit und Neugier. Eigentlich ähnlich wie er gerade jetzt den Tod von Eve erlebte.

Sie nahm sich einen Schemel zum Tisch. „Bösartigkeit ist nicht aus der Menschheit zu bekommen. Gewalt auch nicht, aber in der Verödung der Gefahrlosigkeit blühen die miesen Triebe.“ Sie nahm einen festen Bissen von einem Haferkeks.

Sehr dunkelbrauner Tee ergoss sich in seine Schale. Ezra schaute den Strahl an, der aus der Kanne kam. Er überlegte, ob er fragen konnte, wer da klopfte. Was die Kinder wohl damit gemeint haben könnten? Wer klopfte im Keller? Aber schließlich fühlte sich die Frage seltsam an. Kinderspiel allzu ernst genommen? Sie würde ihn wahrscheinlich nur eigenartig anschauen, mit einem kleinen Lächeln. Daher sagte er: „Haben Sie gehört, dass eine Journalistin ermordet wurde? Gestern Abend auf der Veranstaltung.“

„Ja, Eve. Es ist schlimm.“ Sie wirkte traurig.

Woher kannte sie Eve Lesnault?

„Ich glaube, Eve hat viel für diese Veranstaltung getan, sie war ihr wichtig.“

Sie schien Eve gut zu kennen.

Ezra fragte: „Woher kannten Sie Eve?“

„Wir hatten einen gemeinsamen Mann in jüngeren Jahren. Wir gehörten zu einer gemeinsamen Clique.“ Sie nahm Ezras erstaunten Blick war. „Eve stammt ja hier aus dem Ort. Vom Gut kommt sie. Sie war ein paar Klassen über mir, in jeder Hinsicht, aber auch in der Schule. Sie ist in die gleiche Schule gegangen.“ Sie nahm noch ein Stück Zucker, das fünfte. Sie rührte gedankenverloren in dem dunklen Gebräu. „Eve war immer eine schöne Frau, aber sie hatte kein Sitzfleisch. Hat immer neue Dinge begonnen und ist dann davongelaufen.“ Sie rührte weiter. „Auch mit Männern war sie so.“ Sie nahm einen Schluck und spuckte ihn in die Tasse zurück. „Bäh, grauslich, viel zu süß.“ Sie stand auf und schüttete den Tee in die Spüle. „Viel zu süß“, wiederholte sie leise zu sich selbst.

Ezra verstand, sie streifte gerade durch die Welt ihrer Vergangenheit mit Eve. Er überlegte fieberhaft wie er sie dazu bringen konnte, ihm etwas von dieser Vergangenheit zu erzählen. Er wollte mehr wissen, mehr hören. Die Frau stand da, die leere Tasse in der Hand und einen Löffel in der anderen. Ihr Blick aus dem Fenster gerichtet, ohne Ziel.

Er startete einen Versuch: „Eine Clique ist etwas Wunderschönes. Ich hatte immer große Sehnsucht danach. Ich bin ein Einzelkind mit zwei Müttern.“ Er lächelte sie an. „Ich durfte meine Freunde mitbringen, wenn sie aus nicht allzu zwielichtigen Familien kamen, aber eine Clique ist etwas viel Tolleres. Eine ganze Gruppe, mit denen man abhängt, mit denen man einen Blutsbund schließen kann, die für einen durchs Dickicht gehen…“

Sie schaute ihn an und lächelte, nachsichtig und ein wenig traurig. „Ja, so ist das in den Träumen kleiner, einsamer Buben. Die Wirklichkeit ist nicht ganz so.“ Ihr Blick wanderte wieder beim Fenster hinaus. Abrupt wechselte sie das Thema. „Die drei Mädchen sind gar nicht so ungewöhnlich. Man möchte glauben, dass sie Hochbegabte sind, oder fremdartiges Verhalten zeigen, aber so ist das nicht. Im Grunde sind es ganz normale kleine Mädchen mit ganz normalen Wünschen. Es passieren nur ungewöhnliche Dinge um sie herum.“

„Ja, das habe ich gehört. Der nasse Mobb hatte auch die Aufgabe, diese teuflische Gabe zu bekämpfen. Die Hausfrau hat große Angst, dass die mystischen Ereignisse Überhand nehmen könnten.“

Sie lachte und goss sich neuerlich Tee in die Schale.

Ezra erzählte weiter: „Meine Hausfrau hat gemeint, dass dafür bezahlt werde, und wenn der Teufel Silberlinge riecht, ist er kaum zu stoppen.“

„Aber ja! Gelegentlich wird auf Wunsch eine Sitzung abgehalten. Wenn jemand das wünscht, zahlt er auch dafür. Wenn ich mir wünsche, dass ein anderer für mich etwas tut, muss ich das doch immer bezahlen. Was ist daran gegen die guten Sitten?“

„Organisieren Sie das?“

„Organisieren ist zu viel gesagt. Ich unterstütze die Familie. Ich bin eine Halbschwester von der Mutter.“