Bob Lennce und der fremde Klang

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ABEND

Der Raum hatte sich langsam mit Journalisten gefüllt. Zwischen ihnen die auffallende Gestalt von Eve Lesnault, Ausnahmeerscheinung, groß und schlank, mit langen, grauen Haaren, aus guter Familie, wohlhabender Klan, ein bisschen adelig, großes Haus. Man kannte Eve.

Sekt-Orange und Rotwein, Bob Lennce war noch nicht da. War ja auch nicht zu erwarten gewesen, dass er pünktlich kommen würde. Man hoffte auf nicht allzu große Verspätung. Aber es war immerhin alles versammelt, was Rang und Namen hatte. Man konnte einiges besprechen. Zwischen den Gläser-Haltenden schob sich die beleibte Gestalt von Rowley durch, künstlerischer Leiter, kurz Ro genannt. Er bemühte sich immer, bodenständig zu wirken. Keine abgehobene, elitäre Kunst wollte er machen, praktisch, grenzenlos praktisch wollte er sein.

Und dann war da noch Walthen… Ezra freute sich, dass der so nervös war.

Das Buffet war wider erwarten großartig. Winzige Häppchen voll mit kleinen Freuden. Auch das trug zum Wohlbefinden bei, obwohl bei dieser Veranstaltung nur wenige zum Essen gekommen waren.

Schließlich erschien auch Bob und zeigte mit keiner Geste, dass er etwas mit dem Podium zu tun haben wollte. Er stand an einem Tisch mit Eve und Ro und unterhielt sich träge mit Kaffee. Die große Gestalt seines Bodyguards kam und ging wieder. Walthen eilte immer wieder vorbei um Bob in Richtung Bühne zu bewegen, hatte aber keine Chance. Ezra beobachtete das mit Genugtuung.

Also schritt Walthen tapfer zum Podium, die Mundwinkel gewaltsam hochgezogen. Nachdem er: „Meine Damen und Herrn…“, gesagt hatte, gingen alle zur Tagesordnung über, sprachen weiter wie vorher… Keiner war besonders interessiert. Eve hatte schon einige Zeit hektisch um sich geblickt und eilte dann in Richtung weiblicher Schutzzone.

Walthen wiederholte: „Meine Damen und Herren…“, etwas lauter.

Das leise Summen im Raum blieb unverändert. Was da am Podium gesprochen werden sollte, hatte keinen Reiz. Von dort war nichts Ungewöhnliches zu erwarten, nur alltägliches Wortgeklingel. Es gab Interessanteres. Einige versuchten, mit Bob ins Gespräch zu kommen, aber der hatte im Zuge seiner langen Karriere gelernt, wie man keine Gespräche führt. Er blieb weiter am Tischchen mit Ro.

Da ertönte ein lang gezogener, heller Ton.

Ein fremder, musikalischer Ton.

Er hallte durch das leise Summen der geknüpften Kontakte. Ein neuer Klang, eine fremde Note. Ezra erkannte weiße Löckchen und ein goldenes Instrument. Was war das hinter der Ecke? Hatte Ro etwas Nettes organisiert, ohne ihm etwas zu sagen? Das Instrument verschwand. Alle Blicke wanderten zu der Ecke, ein Lächeln im Raum.

Da kam der sehnsüchtige Ton durch das schmal geöffnete Fenster. Verlangend und gleichzeitig wie ein Jubelschrei. Alle Blicke richteten sich sofort dort hin. Walthens Rede war deutlich weniger interessant. Der stieg schließlich gereizt und gekränkt, voll Abwertung für alle vom Podium und lief wütend davon. Hatte er erkannt, dass seine Rede nicht von einem atemlosen Publikum empfangen wurde? Wollte er flüchten, ausgegrenzt und abgeschnitten von allen, die ihm zuhören sollten? Wundervoll! Ezra hatte noch immer Rache im Sinn. Hoffentlich hatte er seine Angst in den kleinen verfliesten Raum bringen müssen.

Wieder der lang gezogene Ton. Nur eine kurze Zeit war da etwas Helles, und weg war es wieder. Volle Aufmerksamkeit, Erwartung, ein beginnendes Abenteuer, das Fremde im langweiligen Geldgeschehen. Alle Augen suchten.

Der Ton kam jetzt wieder durch die Türe hinter Ezra. Er drehte sich schnell um und erkannte die zarte Gestalt einer alten Dame. Das Gesicht voll feiner, blassrosa Plissees, zerbrechlich, eingerahmt von einem silbrigen Gespinst, das sich von der rosa Kopfhaut ringelte. Das Haar erschien auch ein wenig rosa, getönt durch die Haut, silberne Brauen, sorgfältig gemalt, und darunter neugierige, blassblaue Augen. Ein später Engel, heruntergestiegen von seiner Wolke, blies die Posaune weiter in Erdennähe. Warum sollten Engel auch jung sein, nachdem sie Jahrmillionen an der Schöpfung gearbeitet hatten?

Eve war zurück und blickte neugierig zur Türe, die Tasche vor der Brust. Sie lächelte. Wusste sie etwas von dem Engel?

Ezra eilte hin und bat die alte Dame mit ihrem Instrument ins Zimmer. Einen tiefen Kratzfuß, eine Verbeugung ganz nach unten – wie man Engel eben empfängt. Mit kleinen Schritten dribbelte sie vorsichtig ins Zimmer, blickte um sich, voller Fragen, in einem Gewand aus altrosa Spitze mit kleinen glitzernden Steinchen. Zart und schwerelos, das goldene Instrument in der Hand stand sie dort.

Ezra fühlte harte Seelenstacheln in seinem Rücken. Das waren wohl die Blicke von Walthen – er war zurück, außer sich vor Wut, die Backen voll mit einer Rede, die ihn unsicher machte, und jeder blickte auf den Himmelsboten mit seiner Posaune anstatt auf ihn. Ezra war sehr zufrieden mit seiner Rache.

Da setzte das flauschige Wesen von der Wolke sein Instrument an die Lippen und blies ein Solo. Der Raum war plötzlich erfüllt mit Klängen, wo keiner Musik erwartet hätte. Alle Anwesenden bildeten einen Kreis. Viele überlegten, von wem wohl die Einlage geplant war. Ein zierlicher rosa Engel hier zwischen beinharten Journalisten... Man wartete, ob es noch goldene Sternchen regnen würde, oder…? Ein angenehm entspanntes Gefühl im warmen Raum. Ro schob sich heran und schloss das filigrane Geschöpf in die breiten Arme. „Wundervoll, meine Sternenfee“, tönte er, seine mächtige Stimme kehrte all die kleinen Fragezeichen beiseite. Er hatte sie bestellt – das war Kunst der Präsentation… Eine kleine Zugabe… Eine zufriedene Pause, während die letzten Töne in der Luft verglommen…

Da klang eine scharfe Stimme von der Türe: „MUTTER!!“ Erstarrt vor Schreck stand die Pensionsbesitzerin an der Türe. „WIE KANNST DU NUR?!“ Entschuldigungen murmelte sie und zog am Arm ihrer Mutter. Die lächelte sehnsüchtig in den Saal, ihre Posaune an die Brust gepresst, und wollte nicht mit.

War das doch nicht bestellt gewesen?

Schließlich wurde sie von der Tochter gewaltsam und widerstrebend aus dem Raum gezerrt.

Walthen nahm notgedrungen noch einen Schluck Kaffee neben Bob Lennce und erstieg dann schließlich wiederum das Podium, er schien angstvoll entschlossen, das Strahlelächeln wurde eingeschaltet. Keiner beachtete ihn. Er trat von einem Fuß auf den anderen.

„Ich muss mich vielmals entschuldigen…“ Die Hausfrau steckte ihren Kopf nochmals in den Raum, hochrot, mit hektischen Flecken an der Seite des Halses. Die alte Dame mit dem goldenen Instrument schaute an ihr vorbei, sehnsüchtig strahlend, aber der Auftritt war beendet. Im Gesicht der Pensionsbesitzerin zeichnete sich tiefe Abscheu. Das Verbrechen war abnormes Verhalten. Abnormes Verhalten, beschämend, erklärungsbedürftig, unmöglich…

Die meisten Anwesenden und Journalisten ließen den Engel nur ungern ziehen, vor allem Ro. Er hätte mit dem Himmelsboten von der Wolke gerne gemeinsame Sache gemacht. Und jetzt wurde der ganz profan abgezogen und versteckt. Nachdem die alte Dame von der Tochter abgeführt worden war, stand Ro da, als ob man ihn bestohlen hätte.

Eve wühlte verzweifelt in ihrer Tasche. Sie hatte noch Kaffee vor sich stehen. Was suchte sie? Schließlich stürzte sie den Kaffee hinunter und startete zurück in die geschützte Zone.

Bob Lennce schien unberührt. Er hatte andere Probleme.

Eve kehrte nicht zurück.

Sie lag tot auf dem schwarzweißen Boden der gepflegten Anlage, im Vorraum des WCs. Steril, Chlor, wohin die Nase reichte. Eve war tot, trotz Desinfektion.

Sie lag da, ihr graues Haar am Boden ausgebreitet, weiß und blutleer, der Raum mit Eve wirkte wie ein schwarz-weißes Foto. Rot wäre aufgefallen in der blassen, kargen Farbenwelt. Kein Blut.

SPÄTER ABEND

Walthen hatte die Tote gefunden. Seine Reaktion war organisatorisch unbrauchbar, er war mit sich und seinem Schock beschäftigt. Ezra verständigte die Rettung, während die Veranstaltung erstarrte.

Der Arzt rief die Polizei.

Das geliehene Heizsystem tat seinen Dienst, aber der Raum fühlte sich trotzdem bald kälter an. Ein plötzlicher Todesfall, eine Untersuchung, alle mussten ihre Daten abgeben, mussten bleiben, obwohl nichts mehr zu sagen war.

Geduld… In Ezras Kopf rotierten Fragen: Wenn der Arzt nach der Polizei gerufen hatte, war etwas seltsam an dem Todesfall. War Eve ermordet worden?

Die Polizei kam. Die Leiterin der Untersuchung war eine Frau. Ezra fand das gut. Mit Frauen hatte er umgehen gelernt, bevor er sprechen oder gehen konnte.

Frau Kommissarin war nicht ganz schlank und strömte Mütterlichkeit aus. Hier war die Mutter aller Anwesenden. Der erfahrene Beobachter hatte Zweifel: Wie hätte sie diesen Job geschafft, wenn all die weiche Fürsorglichkeit tatsächlich vorhanden gewesen wäre?

Sie hatte zuerst Bob Lennce befragt, in der irrigen Annahme, dass er irgendetwas von der Organisation wüsste. Der verwies sie an Ezra, er kannte, schien es, Walthen gut genug. Also kam sie auf Ezra zu und sagte mit sanfter, ruhiger Stimme: „Sie sind der Organisator hier, hat mir Herr Lennce gesagt.“ Walthen stand in der Nähe und rückte auf, mit charmantem Lächeln. Er konnte sich wohl seinen Job nicht so leicht aberkennen lassen. Er stellte sich neben die Dame von der Polizei, nahe, sodass sie ihn nicht übersehen konnte. Aber sie war auf Ezra konzentriert.

Ezra hatte vorher sein Handy bemüht, um das Profil der Dame zu erkunden: Doktorin der Rechte, Professorin an der Uni… Sie lächelte ihn freundlich an, zwei Grübchen in den Wangen. Eine biedere, blonde Frisur, milde Augen scannten ihn sanft. „Ich würde gerne mit Ihnen beginnen, weil sie alle Vorbereitungen kannten. Ich bitte Sie aber, dann noch zu bleiben, für Rückfragen.“ Nein, keine Befehle, ruhige Klarheit, das Notwendige im Vordergrund. Ezra war vorsichtig. Soviel sanfte, vernünftige Mütterlichkeit hatte sicher einen harten, krummen Geierschnabel im Verborgenen.

 

Man unterhielt sich über die Vorbereitungen, die Notwendigkeiten für die Veranstaltung, bevor sie begonnen hatte. Was war vorher da, was wurde wo und wie beschafft? Ezra erkannte an den Fragen: Es ging um Gift. Konnte es irrtümlich irgendwie in Eve hineingekommen sein? War es vielleicht schon da gewesen, bevor die Veranstaltung begonnen hatte? War hier ein mörderischer Zufall am Werk, oder Planung? Woher kam das Cateringservice, wollte Mutter Kommissar wissen. Wieso dieses, nicht ein anderes?

Ezra ging in sich. Hatte eine geheimnisvolle Kraft ihn bewogen, dieses Catering auszusuchen? Man sollte nicht so präpotent sein, zu glauben, dass man durch nichts beeinflusst würde, dass man immer alle Entscheidungen allein träfe, ohne Einflüsterungen. War er vielleicht einer Strömung ausgesetzt gewesen, die er so nicht wahrgenommen hatte?

Die Kommissarin befragte ihn sorgfältig. Er hatte das Catering aus sechs Anbietern ausgewählt, die er sich vorher aus dem Internet gesucht hatte, so sagte er ihr. Aus der Liste hatte er dann schnell entschieden: Fast die Billigsten, und sie hatten am Telefon kompetent geklungen. Einflüsterungen? Wie sollte das passiert sein?

Der Raum? Eine Kegelbahn – hatte geschlafen, mindestens ein halbes Jahr, aber wahrscheinlich länger. Wieso ein halbes Jahr oder länger? Das Laub vom Vorjahr, irgendjemand hatte die Türe im vergangenen Herbst offengelassen. Feuchtigkeit und Blätter im Raum, die Türe war verzogen, musste repariert werden. War vielleicht irgendetwas im Raum vergiftet? Alte Farbe möglicher Weise, die irgendwie ins Essen gekommen war?

Ezra bestätigte, er hatte extra Wein gekauft, weil er das Service nicht kannte. Wenn die den Termin verschlafen hätten, hätte es halt nur Brezeln und Weißen und Roten gegeben. Immerhin irgendetwas, nicht gar nichts. Der Wein und das Mineral wurden gelagert, und er hatte die Leute vom Catering dann angewiesen, alles aufzubrauchen.

Ezra führte die Dame zu dem Ort der Lagerung hinter der Ecke. In dem Stadium der Untersuchung mussten alle Möglichkeiten erkannt werden. Aber wie bitte sollte ein vergifteter Doppler im Umlauf gebracht worden sein? Ausrottung aller Journalisten? Das wäre wohl aufgefallen.

„Und haben Sie vielleicht beobachtet, was an dem Tisch, wo Frau Lesnault gestanden hat, los war?“

Ezra versuchte, sich zu erinnern. Zuerst fiel ihm der Engel mit der Posaune ein: „Wir hatten einen Engel da, einen Posaune blasenden Engel.“

Frau Kommissar nahm das gelassen. Bei Kunstveranstaltungen musste man auf alles gefasst sein. „Einen Engel…“, wiederholte sie ruhig.

„Die Mutter der Hausfrau blies ein Posaunensolo, als schon fast alle Leute da waren.“

„Wissen Sie zufällig, was zu dieser Zeit auf dem Tischchen gestanden hat, bei Frau Lesnault?“

Ezra kramte in seiner Bildergallerie des Abends. Ein dunkler Kellner lief um die Tische, stellte etwas ab, das waren wohl Brötchen oder etwas Ähnliches, und ein Glas Roter. Bob rührte in einer Tasse und schob sie dann weg… Das erzählte er. Was war da noch? „Alle haben einen Kreis um die alte Dame mit der Posaune gebildet. Ich habe sie herein gebeten.

Ich konnte da nicht auf das Tischchen sehen.“ Es war ihm natürlich klar, dass das der Moment war, wo man gut etwas Gift unterbringen konnte. Das war der Zeitpunkt, wo keiner etwas anderes sah als den Engel mit der Posaune.

Ungerufen kam ein Bild aus dem Dunkel des Abends: der Kellner mit einem Tablett und etwas Hellem drauf. Er konnte nicht erkennen, was es war. Das konnte er ihr so aber nicht sagen… Was war das Helle?

Ezra hätte gerne mehr erfahren, aber natürlich gab es keine Auskünfte an Zivilisten. Er rief also wiederum Wolfgang an: „Wir haben einen Mord hier.“

„Hoffentlich Walthen.“ Wolfgang wusste ja um die Probleme.

„Nein, leider nicht. Eve Lesnault.“

„Wirklich schade. Eine interessante Frau.“

„Kannst du Infos beschaffen?“

„Was für Infos?“

„Ich hätte gerne gewusst, an welchem Gift sie gestorben ist. Wie man die Wirkung einschätzt. Ich meine, wie lange vorher sie es genommen hatte.“

„Wird erst nach der Autopsie zu haben sein. Aber ich mach mich dran. Morgen vielleicht schon… Werde denen erzählen, dass wir nicht wissen, ob das Ganze nicht größere Tragweite hat und so...“ Es war gut, dass es Wolfgang gab, mit seinem Job als Techniker im Geheimdienst. Und er war gerade nicht im fernen Osten oder in Chile, wie zuletzt. Er hatte Pause. – Und er konnte Insiderinformationen besorgen. Auf diese Art war es mit einigen Ausreden möglich, Wissen zu beschaffen, das sonst nicht zu haben war.

Hatte er, Ezra, Mitschuld an Eves Tod? Hatte er etwas verbrochen und wusste es gar nicht? Er saß noch die Zeit ab für eventuelle Rückfragen. Die Journalisten tröpfelten aus dem Raum. Er wurde leerer kälter und müder. Spät war alles beendet und auch Ezra durfte gehen.

NACHT

Inzwischen war an Schlaf nicht zu denken. Leicht unterkühlt und hellwach glaubte Ezra nicht, dass er Freude am Pensionszimmer haben würde. Er zog die Jacke eng um seinen Körper und fand sie viel zu klein und zu dünn. Gerne hätte er sich eine Decke umgewickelt, aber Bett war sinnlos.

Ein wenig Wind trieb sich in der Straße herum. Leises Frösteln zog die Ärmel hinauf und umschlang die Handgelenke und Unterarme. Es begann zu regnen, aber das Wetter war nicht sicher, ob es dabei bleiben wollte. Mit dem Regen kamen einige Eisstückchen. In der Kathedrale brannte ein sehr heller Scheinwerfer. Ezra wanderte neugierig durch das Seitentor, oder das, was einmal ein Seitentor werden wollte.

Die gewölbten Mauern ragten auf um Gottes zukünftige Arena. Im starken Licht des Scheinwerfers rannen die gläsernen Tropfen aus dem Himmel und trafen Sand und Mosaike. Ein Beton-Engel blickte von einer Säule und hatte ein wenig Eis auf der Nase und auf den Flügeln. Hoch oben kletterte eine kleine, schwarze Gestalt durch das Gegenlicht, eine andere stand mitten im Raum.

Als ob er Gott zum Vatertag ein Gedicht aufsagen wollte, stand Bob Lennce im Sand. Ezra ging zu ihm, langsam, leise, vorsichtig. Er schien mit Gott zu sprechen, während der vom Himmel nasse, kalte Launen los ließ. Vielleicht wollte er in Ruhe beten?

Aber Bob drehte sich um, während Ezra näher kam.

Er wollte über das Konzert reden. „Ich habe gerade überlegt, ob ein Chorgesang von dem Gerüst dort oben am Rand interessant wäre. Ein Engelschor von abgerissenen Personen, vielleicht in Arbeitskleidung. So wie Bühnenarbeiter. Die Fetzen des Gewandes sähen aus wie Flügel, graue Flügel…“ Kein Wort von der toten Eve.

Ezra wollte den Todesfall auch verdrängen, daher überlegte er bereitwillig, wie ihm ein Chor von Bauarbeiterengeln gefallen würde. Ob er wohl das Akustikproblem besprechen sollte? Vielleicht war Bob aber zu hart aus seinen Überlegungen gerissen, wenn sein Arrangement zu hören bekam: „Kein Klang“. Außerdem hatte ja Wolfgang vielleicht eine Problemlösung, der sollte nicht vorgegriffen werden…

Bob war weiter mit dem Konzert beschäftigt: „Der Raum ist einfach sehr hoch – über ihm der Himmel…“ Gedankenversunken blickte der Musiker nach oben, und feuchte Flocken tanzten in sein Gesicht. Gott wollte zu diesem Zeitpunkt gerade Schnee produzieren. Statt der glitzernden Schnüre begannen weiße Federn, niederzutreiben und sich sanft auf die Sandflächen, die Engeln und die Mosaike zu legen.

Bob war ganz auf seine Pläne konzentriert. Er wollte seine Überlegungen diskutieren: „Es hält mich nur aufrecht, wenn ich etwas Besonderes mache“, murmelte er zu Ezra. „Todesfälle dürfen mich nicht leiden machen, es lenkt mich ab. Aber der Tod ist manchmal gut zu gebrauchen. Er bringt das notwendige Drama, damit Lieder unter die Haut gehen.“ Er ging einige Schritte in den feuchten Sand und überlegte ein Weilchen. „Tote sind dann schließlich auch Schauspieler auf der Bühne, sie bekommen Bedeutung, weil sie tot sind.

Das mit Eve ist gute Werbung. Ich kann sie nicht beweinen, ich muss hier einen Popanz schaffen, der alle Träume aufnimmt. Und der Todesfall ist ein Stück der Bühnendekoration…“ Er streichelte im Gedanken eine Säule. „Was ist, wenn wir in einer riesen Gefühlsmaschine leben? Und ich bin der, der die Maschine bedienen kann? Vielleicht ist Gott überhaupt eine Gefühlsmaschine?“ Bob ging im Kreis und suchte mit den Augen den oberen Rand der Mauern ab. Der Rand war gerade noch zu erkennen im Licht der Scheinwerfer. Scheinbar unbeeindruckt von Gottes Aktivitäten und der Geburt des Popanz kletterte das winzige, schwarze Männchen weiter durch die Gerüste.

Bobs Stimme war wieder da: „Ich habe mich mit Religion befasst, vor allem in den letzten Jahren. Zuerst habe ich immer gedacht, ich kann ohne leben. Aber dann war plötzlich der Ruf da. Ich wurde gerufen und frage noch immer, wohin.“ Er schüttelte den Kopf. Nach einer Weile sprach er weiter:

„Warum sollte Gott ein Vater sein? Mit welchen Eigenschaften? Ich sehe von ihm etwas, das wir Evolution nennen, das uns leiden macht. Will er uns leiden machen? Ich sehe nicht wirklich klare Planung, sondern eine Reihe von Experimenten. Quälendes, trauriges Experiment, Ausmustern von Leben. Es wird immer etwas getötet, damit etwas Anderes leben kann. Das muss doch schmerzhaft sein. Konnte er sich kein anderes Modell einfallen lassen? Will er seine Fehler vertuschen? Wo soll da ein Vater sein?

Vielleicht ist er ein blonder, deutscher Ausländer?

Aber mit Sicherheit arbeitet er an der Schöpfung. Seelen flattern wohl frei in seinem Atelier wie Schwalben, fangen Gefühle wie Mücken und glauben, das ist Leben.“ Bob lief um eine Säule herum und schaute dabei in den Nachthimmel, den die Säule scheinbar trug. „Ich soll hier ein Mysterienspiel erschaffen, heilige Kunst. Wissen Sie, ob das da wirklich ein Spiel ist?“ Er kam auf Ezra zu und schaute ihm in die Augen.

„Ein Spiel ist nur möglich, wenn man es wiederholen kann.

Wiedergeburt ist ein Spiel, sie ist eine mächtige Hoffnung, man kann es noch einmal probieren und noch einmal probieren und kann alles fertig machen, was unfertig liegengeblieben ist.“ Er bremste hart in seinem Lauf: „Etwas fertig machen, das ewig ist, ist ein komischer Gedanke, kann so nicht sein, aber macht das Leid der Evolution erträglicher... Und es lässt mich hoffen, weil bei mir bleibt sicher einiges unfertig liegen, und lange kann das so nicht weitergehen...“, murmelte er zu sich selbst.

Dann betrat er eines der Mosaike: „Arbeitet Gott allein oder hat er Helfer? Mordende Geister mit Flügeln, für die Auslese? - Vielleicht sind die auch inzwischen krank von dem was sie da tun und wollen Ruhe finden durch Gesang, wie der Soldat? Wollen die auch nach dem Mord ein Lulabei für den Schlaf?

Ein Schlafgesang für Engel und für Krieger, gehört das zu einem Mysterienspiel? Der Klang schläfert sie ein und weckt sie vielleicht auch wieder. Das wäre dann für uns wohl ernster als für den Schöpfer…“

Bob hatte einige Schneeflocken auf dem Hut. Er fixierte Ezra, der merkte, dass er hier eine Funktion hatte. Er war eine Hebamme für Bobs Mysterienspiele. Er war bedeutend, bekam Vertrauen, das fühlte er stolz. Bob Lennce war bekannt dafür, dass er sonst mit Mitteilungen sparte. Aber was bedeutete der Tod von Eve für dieses Genie? Was war Mord für ihn? Seine Gedanken waren seltsam. War er wohl in der Lage, einen Mord zu begehen, nur als Werbung für sein Konzert?

Lennce sprach leise weiter: „Die genaue Planung des Zufälligen ist vor allem wichtig. Die Freude der Überraschung und das Abenteuer der Suche will ich hier haben, nicht ein mächtiges Bühnenbild mit vielen sinnlosen, bunten Lichtern…“ Unentschlossen lief er in einem kleinen Kreis.

Dann wurde er menschlich. „Weißt du, ich habe die soziale Kompetenz von einem Star-Verkäufer. Ich kann nicht Rücksicht auf andere nehmen“, vertraute der Meister der Klänge Ezra an. „Der Mensch ist irgendwann Kompost, und ob ich hier ein Mysterienspiel über den blutigen Tod Gottes zu Stande bringe, ist eine wichtige Frage. Selbst mit Eves Hilfe war das nicht einfach.

In einer Kirche ist der Tod als Thema nicht zu vermeiden. Ist Eves Tod als Kunst-Abenteuer zu gebrauchen?“ Zweifel klang in seiner Stimme.

 

„Ich sollte besser Selbstmord begehen, damit ich mich nicht überlebe… Das wäre ein Mysterienspiel der anderen Art. Das gäbe einen unglaublichen Verkauf. Aber wer bedient dann Gottes Gefühlsmaschine?“ In dem Moment war ein leiser Klang zu hören. Der Ton blieb weit entfernt, aber er war deutlich. Es war, als ob gemeinsam mit den Schneeflocken Gesang von oben käme. Wind war spürbar, und ein fernes Grollen zeigte an, dass das Gewitter zurückgekommen war. Es war zwölf Uhr, der Beginn eines neuen Stundenreigens, einer neuen Uhrzeit.