Das Bild der Zeit

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Das Bild der Zeit
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Ruprecht Günther

DAS BILD DER ZEIT

Roman

adakia Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ohne Zustimmung des Verlags ist unzulässig.

Gesamtherstellung: adakia Verlag, Gera

1. Auflage, März 2015

ISBN 978-3-941935-19-8 (Print)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-941935-31-0 (ePub)

ISBN 978-3-941935-32-7 (Mobi)

ISBN 978-3-941935-33-4 (PDF)

Für Neném


Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

Prolog

1. Friedrichshain

2. Kamila

3. Atelier

4. Der Leib der Erde

5. Karl-Heinz

Montag

6. Die erste Begegnung

7. Kamila

Dienstag

8. Erwachen

9. Entscheidung

10. Kamila

11. Atelier

12. Büro

13. Fremde Nähe

14. Kamila

15. Umschwung

16. Sertão

Mittwoch

17. Sigi

18. Joana

19. Kamila

20. Sigi

21. Karl-Heinz

22. Der Landstreicher

23. GGK

24. Kamila

25. Freundinnen

Donnerstag

26. Das Fest

27. Der Anfang vom Ende

28. Maria Mulambo

29. Sertão

Freitag

30. Die Aufgabe

31. Sigi

32. Susi

33. Karl-Heinz

34. Kamila

35. Im Park

36. Atelier

37. Auf der Jagd

38. Friedhof

39. Joana

40. Gejagte

41. Im Keler

42. Unter der Erde

43. Der Doktor

44. Das Bild

45. An einem Strang

46. Der dritte Versuch

47. Joana

48. Sigi

49. Joana

50. Das Ende

Epilog

Eines Schattens Traum

ist der Mensch.

Pindar

Prolog

Auf einmal war es so, als berge selbst das Licht ein Geheimnis. Ein schräger Sonnenstrahl tastete sich über die Stufen hinab und zeichnete schnurgerade Bahnen aus glitzerndem Staub. Die zerbrochenen, vor Schmutz starrenden Scheiben glühten auf wie flüssiges Feuer. Selbst die Spinnweben stapelten hoch und wirkten für Augenblicke, als seien sie aus Gold gewebt. Der Abenddunst verspann sich zu einem transparenten Pulver, das alles, worauf es sich legte, verwandelte in etwas höher Geordnetes und Edles:

Der rostige alte VW-Bus war plötzlich ein Gefäß für Zauberformeln und magische Utensilien; die Blätter des rachitischen Buschs vor der Kellertür dienten in Wahrheit zur Zubereitung eines kostbaren Aphrodisiakums; der Schimmel an der bröckelnden Hauswand war ein Pilz, der je nach Dosierung töten mochte oder einen Adepten einführen in uralte und geheimnisvolle Riten.

Die hintere Klappe des Busses war geöffnet. Dahinter stapelten sich in wilder Unordnung Masken, diverse Kleider und Perücken, eine Glaskugel und mystisch anmutende Figuren. Ein dürrer dunkelhäutiger Mann, dem sein erschrockener Ausdruck auf dem Gesicht festgeschrieben schien, griff mit spitzen Fingern nach einer rot-schwarzen Statuette und ließ sie um ein Haar fallen.

»Pass doch auf, du Idiot«, zischte sein Mentor Valtinho, ein hochgewachsener, gut gebauter Schwarzer mit kurz geschnittenen Haaren. »Oder willst du, dass dich Exu auf der Stelle in die Hölle nimmt?«

Der Kleinere zuckte zusammen. »Jetzt noch nicht!«

Er schlug sich an die Stirne und lies die Figur dabei um ein Haar erneut fallen. Valtinho lachte schallend. Ungeduldig riss er seinem Assistenten die Statue aus den Fingern und erteilte ihm einen Tritt. Er wog den Exu liebevoll in der Hand und eilte mit schwingenden Hüften über die Treppe nach unten.

»Wenn ich nicht wäre, lägen meine Heiligen längst alle zerbrochen auf dem Müll.«

Er lachte wieder. Vorsichtig setzte er die Figur an der rechten Seite des Eingangs ab. An der linken thronte bereits ein ähnliches Exemplar. Valtinho hob beide Hände an und murmelte Beschwörungen in einer fremdartigen gutturalen Sprache. Dann öffnete er die quietschende Türe und betrat den Keller.

Ihm schlug ein stechender Geruch nach Moder und verdorbenem Fleisch entgegen. An der Rückwand hing ein sorgfältig gebündelter blutroter Vorhang. Davor standen ein heruntergekommener Sessel und größere Statuetten mit Darstellungen des Exu, des großen Dämons. Er besaß die Macht, Menschenwege zu öffnen und zu schließen, und mit seiner Hilfe sollte jedes wichtige Vorhaben auf der Erde beginnen.

Zu ihm gesellte sich die im Tanz erstarrte Gestalt Maria Mulambos, deren schwarz glänzende Haare in einem imaginären Wind zu flattern schienen. Vor dem Sessel stand ein kleiner, in schmutziges Weiß gedeckter Tisch mit zwei Stühlen. Über den staubigen Betonboden breitete sich ein zerschlissener Teppich. Zu beiden Seiten des spärlich beleuchteten Raums lagerte Gerümpel.

 

Valtinho trat konzentriert an den Tisch. Darauf lagen zu einem Kreis gebündelte Ketten aus bunten Perlen. In ihrer Mitte ruhte ein Satz kleiner Miesmuscheln.

Seine Hand fasste nach den Muscheln und warf sie mit einer raschen Bewegung flach auf den Tisch. Aufmerksam betrachtete er den Wurf. Er drehte nachdenklich seinen goldenen Ring und schürzte die Lippen. »Sie verlangt wieder ein Spiel …«

Sein sinnlicher Mund verzog sich zu einem Lächeln.

1. Friedrichshain

Ende August 2010

Kaum einen Kilometer in Luftlinie entfernt saß ein Mann in einem Friedrichshainer Lokal und telefonierte. Die letzten Sonnenstrahlen illuminierten seine mühsam beherrschten Züge und liehen ihnen einen überraschenden und wenig passenden Glanz.

Die Bedienungen zündeten Kerzen an, deren flackerndes Gelb mit dem schrägen Licht der Sonne konkurrierte. Kleine Kinder rasten um die weiß gedeckten Tische und spielten Fangen, während ihre Eltern bei einem Glas Wein oder Bier plauderten. Die Luft war nach dem heißen Tag angenehm lau, und die meisten Menschen bemühten sich, die Unbilden des Lebens für ein paar Stunden zu vergessen.

Nur Karl-Heinz’ gereizte Stimmung wollte nicht recht zu dem Ambiente passen. Er okkupierte einen ganzen Tisch für sich allein und füllte ihn weniger durch sein Volumen als durch seine hektischen Gesten aus. Mit einer einzigen Bewegung fegte er eine Fliege vom Designer T-Shirt und entfernte eine Strähne von seiner Wange. »Hör mal, Sabine, es tut mir wirklich leid – ein Geschäftsessen, ja. Wir müssen das auf ein andermal verschieben.«

Er schob einen Olivenkern mit der Zunge zwischen die Zähne und legte ihn akribisch auf den Teller.

»Was? …

Faule Ausrede? …

Jetzt komm mir bitte nicht so! …

Hör mal, ich bin hier im Restaurant, ich kann jetzt nicht reden.«

Während Karl-Heinz telefonierte und dabei gelegentlich Olivenmasse auf das Handy spuckte, schlenderte ein Mann auf das Lokal zu. Er betrachtete das angehende Liebesspiel zweier Hunde, einen Landstreicher, der unter einem Busch seinen Rausch ausschlief, sowie die blühenden Stockflecken an der Fassade des Nachbarhauses. Etwa einen Meter vor Karl-Heinz blieb er stehen und hörte dem einseitigen Gespräch zu. Sein Körper war kaum weniger schmal als der des Gastes; dennoch strahlte er die Gelassenheit eines beleibten Menschen aus. Wie in Trance senkte er die Lider und lies die unfreiwillige Komödie auf sich wirken. Eine wedelnde Hand, die ihn zum Verzehr von Oliven und Käse aufforderte, riss ihn aus der Versenkung.

»Sabine, hier kommt gerade mein Geschäftspartner – wir sprechen uns später.« Erleichtert klappte Karl-Heinz das Handy zu und verdrehte die Augen.

Der Besucher verkniff sich ein süffisantes Grinsen. »Ich komme wohl ungelegen?«

»Im Gegenteil, Sigi, du hast mich gerettet! Bestell dir einen Wein, der Weiße rutscht bei dem Wetter herrlich leicht durch die Kehle. Diese Sabine raubt mir noch meinen letzten Sinn für Humor …«

Sein Freund nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz und pickte nach einem Stück Käse. Er testete es genüsslich auf der Zunge und stellte fest: »… Wovon du ja mehr als genug besitzt, nicht wahr?!«

Karl-Heinz musterte ihn verwirrt und wechselte rasch das Thema. »Na – was macht die Malerei, alter Junge?«

»Bestens! Gestern habe ich erst ein Bild verkauft … Das heißt, ich habe einen hundertprozentigen Käufer; du weißt ja, wie das ist: kein Geld dabei, Kreditkarte vergessen – die Menschen haben heutzutage einfach zu viel im Kopf.«

Sigi merkte, dass die Bedienung, eine hübsche Schwarzhaarige, über ihm stand, und blinzelte ihr zu. Sie rückte noch ein Stück näher heran und fragte strahlend: »Was wünschen der Herr?«

Sigi nahm eine tragische Pose ein und klagte: »Was ich wünsche, ist doch nur Schall und Rauch.«

Die Bedienung nickte betroffen. Er fasste nach ihrer Hand und blickte mit seinen braunen Hundeaugen nach oben. »Wenn du mir einen kühlen Weißen bringst, bin ich schon halb zufrieden.«

Sie ließ ihre Hand in der seinen, zog die Augenbrauen hoch und fragte kokett: »Nur halb?«

Sigi seufzte und entließ ihre grünen Fingernägel in die Freiheit. »Alles Weitere, meine Schöne, würde mein Gewissen aufs Äußerste belasten!«

Er wandte sich an Karl-Heinz. »Hast du diesen jungen Käse ganz alleine niedergemacht?« Entsetzt schüttelte er den Kopf und fixierte die leuchtenden Augen über sich. »Also, dann noch einmal von dem Schafskäse mit Oliven. Der besänftigt das Gemüt …« Er runzelte die Stirn und schlug sich mit der Hand auf den Mund. »Oder war es umgekehrt?«

Die junge Frau begann zu kichern und eilte davon.

Karl-Heinz blickte ihr missgestimmt hinterher. »Ich möchte wissen, wie du das immer wieder anstellst – du bist doch eigentlich hässlich.«

Sigi zog erneut die Stirn in Falten und dachte nach. »Mit deinem aufpolierten Colgate-Lächeln kann ich natürlich nicht mithalten … aber mal im Ernst: Hattest du nicht gerade ein heißes Eisen an der Strippe? Die schien mir doch sehr bereit, bei dir einzulaufen.«

»Einlauf ist in diesem Fall die richtige Umschreibung.« Karl-Heinz nahm einen Schluck Wein und seufzte. »Nein, ich kann nicht klagen: Mein Terminkalender ist so voll mit Verabredungen, dass ich kaum hinterherkomme. Wenn ich die Mädels allerdings mit deiner Frau vergleiche …«

Die Bedienung kehrte mit der Vorspeise und einem Glas Weißwein zurück. Sie stellte den Wein auf den Tisch, gewährte Sigi dabei einen vorläufigen Einblick in ihr Dekolleté und streifte im Fortgehen dezent seinen Rücken.

Karl-Heinz fuhr, unbeeindruckt von den atmosphärischen Wirbeln, mit seinem Monolog fort. »… Für mich passt es so, wie es ist. Mein Job lässt mir ja gar keine Zeit, mich fest zu binden.«

Der Maler nickte, hielt sich die Hand vor den Mund und gähnte verhalten.

»Aber da kommt sie ja.« Karl-Heinz’ Hand wies bewundernd auf den Bürgersteig hinter seinem Freund.

»Wer, eine deiner Miezen?«

Hinter Sigis Rücken erschien die Silhouette einer dunkelhäutigen Frau. Ihre dünnen schwarzen Zöpfe wurden hinterstrahlt von einem fast unwirklichen Licht, das sich in der Lücke zwischen zwei Häuserfronten den Weg bahnte. Für Sekunden hielt halb Friedrichshain den Atem an. Selbst die Hunde unter den Tischen unterbrachen ihr gegenseitiges Ablecken und winselten devot. Die glühenden Gesichter der Kinder, das kühle Rot, das sich über den Asphalt ergoss; sogar die schillernde Luft schien erfüllt vom letzten Aufbäumen des Tages. Von einem Augenblick zum anderen war der Spuk vorüber. Stühle und Tische verloren alle Farbe und erblassten zu einem sozialistischen Grau. Einen Moment lang lag die Welt im Zwielicht, aus dem sich wie von Zauberhand das Licht der Kerzen schälte.

Über Sigis Augen legten sich zwei kräftige Frauenhände. Er sog genießerisch ihren Duft ein, tastete langsam darüber hin, entdeckte einen schmalen Ring am Finger und drehte ihn hin und her. Seine Stirn zog sich in Falten, und er überlegte laut: »Erika? … Tatjana? … Sabine?«

Seine Frau riss ihre Hände von seinen Augen, stellte sich vor ihm auf und boxte ihm auf die Brust. »Du … verflixter … sacana!« Ihre Stimme klang etwas rauchig und besaß einen höchst liebenswerten brasilianischen Akzent.

Sigi hob die Hände zum Zeichen, dass er sich ergab. Er grinste bis über beide Ohren. »Hallo mein Schatz, ich dachte, du wärest heute auf deinem Mädel-Treff.«

Joana bedachte Karl-Heinz mit einem entwaffnenden Lächeln. »Entschuldige, dass ich hier so reinplatze! Ich bin auch gleich wieder weg.«

An Sigi gewandt, setzte sie hinzu: »Schatz, so was Blödes: Ich habe meinen Wohnungsschlüssel vergessen.« Sie zerrte ihn vom Tisch fort, winkte Karl-Heinz zu und flüsterte: »Zu Hause war praktisch kein Geld in der Schublade. Hast du nicht noch ein bisschen Kleingeld?«

»Natürlich, Liebling.« Sigis Stimme wirkte auf einmal belegt. Er drehte sich von seinem Freund fort und zog den Beutel aus der Tasche. Unauffällig durchsuchte er dessen Innenleben und fand endlich zwischen verschrumpelten Rechnungen und alten Visitenkarten einen Zwanzig-Euro-Schein. Erleichtert fischte er ihn heraus und steckte ihn Joana zu. Er lächelte hölzern. »Amüsier dich!«

»Und du, querido? Kommst du den Abend klar?«

»Keine Sorge«, sagte er leise, »ich sitze mit dem Geldadel am Tisch.« Laut setzte er hinzu: »Viel Spaß mit den Mädels! Und verlier den Schlüssel nicht.«

Joana drückte ihm einen Kuss auf den Mund, lächelte, winkte Karl-Heinz noch einmal zu und rief: »Ich bin schon wieder weg. Tschau und bis bald!« Mit wiegenden Hüften eilte sie davon.

Sigi setzte sich zurück an den Tisch und seufzte. »Frauen! Na, zum Glück sitzen wir ja immer in derselben Kneipe.«

Gedankenverloren tastete er nach seiner Hosentasche und griff sich an die Stirn. »Verdammt, ich glaube, ich habe zu Hause meine Börse vergessen.« Seine zutraulichen Augen richteten sich auf den Freund. »Du hast doch bestimmt etwas dabei, oder?«

»Na klar, Alter. Du bist in letzter Zeit aber recht vergesslich …«

Sigi trank einen Schluck Wein und lächelte entspannt.

2. Kamila

September 1941

Sie spürte sofort, dass er wieder hinter ihr stand. Kamila begann vor Wut und Scham zu zittern; die Demütigung brannte ihr noch immer heiß auf den Wangen. Ihr Körper reagierte sofort, und sie merkte, dass ihr der Schweiß unter den Achseln hinunterrann. Der Mann roch es vielleicht auch, denn er beugte sich noch tiefer über das graue Kopftuch und sah ihren geschickten Fingern bei der Arbeit zu, wie um sie noch mehr zu quälen. Kamila verstand nicht, warum er es immer auf sie abgesehen hatte. Die anderen Frauen ließ er weitgehend in Ruhe. Nur um sie kreiste er herum wie ein Schakal, der nur darauf wartete, zuzuschnappen und sich in ihren Hals zu verbeißen. Oder vielleicht in etwas anderem …

Kamila war klar, dass sie ihn irgendwann umbringen würde. Eines Tages würde sie ihm die Kehle durchschneiden und zusehen, wie sein ekelhaftes fauliges Blut aus der Halsschlagader spritzte. Sie würde das Entsetzen und den Tod in seinen Augen sehen und ihn so lange anstarren, bis das letzte Quäntchen Leben daraus gewichen war. Erst dann würde sie sich wieder sauber fühlen.

Ihre Finger schlossen sich um das Gehäuse des Feldstechers, als wollten sie es brechen.

»Na na«, bellte Herr Kurz und erteilte ihr einen scharfen Klaps auf den Arm. »Wir wollen doch das Gerät nicht beschädigen, oder?!«

Kamilas Hand zitterte erneut. Sie spürte den besorgten Blick von Justyna neben sich und den Fuß, der unter der Werkbank heftig gegen den ihren trat. Sieh dich vor, sollte das heißen, mach bloß keine Dummheiten!

Das Mädchen schloss einen Moment lang die Augen. Die wohltuende Schwärze hüllte sie ein und legte sich um sie wie ein Mantel. Nichts kann mich zerstören, dachte sie trotzig und fühlte, wie die Angst mit scharfen Krallen nach ihr griff, nichts.

Herr Kurz wand ihr das Gehäuse aus den Fingern und betrachtete es von allen Seiten. Seine feingliedrigen Hände schienen wie dazu geschaffen, das Innere eines filigranen Mechanismus zu entschlüsseln, gezackte Rädchen übereinander zu legen und in eine wohl durchdachte Bewegung zu versetzen. Er war Feinmechanikermeister und im Grunde dafür verantwortlich, dass die Geräte Fabrik Reinickendorf, kurz GFR, ausschließlich Qualitätsware an Zeiss lieferte, wo die Linsen mit den Gehäusen zusammengefügt wurden.

Es handelte sich um Spezialgehäuse für die Wüste und die Tropen. Kurz war auf ihre Entwicklung besonders stolz: leichtes Druckgasmetall mit versenkten Schrauben und einer Bedeckung aus tropenfestem Leder. Ideal für Rommels Wüstenfüchse. Die Kuppe seines Zeigefingers glitt liebevoll über das Rad zur Scharfeinstellung. Es bewegte sich nur zögernd. Seine linke Hand schoss nach unten und wies anklagend auf das Mädchen.

»Kleiner Sabotageversuch, was? Damit unsere deutschen Soldaten im Feld blind sind? Ich werde diesen Vorfall melden!«

Justyna, Kamilas Nachbarin, hatte so etwas schon kommen sehen. Seit geraumer Zeit beobachtete sie die merkwürdige Obsession des Meisters für das Mädchen, das Tag für Tag wütender wurde. Verzweifelt blickte sie nach oben und sagte in einem annehmbaren, wenn auch stark akzentuierten Deutsch: »Bitte, Herr, das war keine Absicht. Kamila arbeitet immer sehr gut, Sie werden sehen.«

 

In diesem Augenblick trat ein weiterer Mann zu den dreien. Im Gegensatz zu Kurz verbreitete er eine gewisse Aura der Lässigkeit, die mit seinem gut geschnittenen aber legeren Anzug korrespondierte. Er schüttelte amüsiert den Kopf. »Was gibt’s denn, Kürzelchen; irgendwelche Probleme?«

Der Meister fuhr herum, als habe ihn eine Natter gebissen. Seine Züge wurden fast übergangslos beflissen. »Ach Herr Doktor, ich hatte Sie gar nicht gehört.«

Er wies vorwurfsvoll auf das Gerät in seiner Hand. »Ich war gerade auf meinem Kontrollgang, da sah ich, wie diese Ostarbeiterin« – er zeigte auf Kamila – »ihre Faust um das Gehäuse schloss, als wollte sie es brechen. Bei einer flüchtigen Untersuchung musste ich feststellen, dass das Rad zur Scharfeinstellung verbogen ist.« Seine schmutzig braunen Augen wurden schmal. »Herr Doktor, das ist einwandfrei Sabotage!«

Der Firmenchef nahm das Gerät entgegen und drehte gedankenvoll an dem Rädchen. Sein Blick fiel auf Kamilas Werkbank und streifte suchend darüber hin. Endlich hatte er das Gewünschte gefunden und ergriff ein winziges Kännchen mit Öl. Mit einer fast zarten Bewegung, die man seinen dicklichen Fingern kaum zutraute, goss er einen Tropfen über das Rad. Er drehte es ein paar Mal hin und her. Das Rädchen bewegte sich unter seinem Finger, als sei es eigens für ihn geschaffen.

Der Doktor reichte das Gerät an den Meister zurück und säuberte sich die Hand mit einem Lappen. Sein Blick fiel dabei auf das Mädchen, das ihn mit einer seltsamen Mischung aus Furcht, Trotz und Verzweiflung anstarrte.

»Na na, Kürzelchen«, sagte er freundlich und versank plötzlich in den gelb schimmernden Augen. Sie erinnerten ihn an etwas, das er erst kürzlich erlebt hatte; er kam nur nicht darauf, was es war. Angestrengt runzelte er die Stirne und überlegte. Ach ja, jetzt hatte er es: Vor einigen Wochen auf der Jagd hatte er einen Luchs entdeckt, der in eine Falle gerannt war. Er winselte und fletschte dabei gleichzeitig mit den Zähnen. Seine zitternde Lefze war voller Blut. Das Tier litt entsetzliche Schmerzen, die es sich selbst zugefügt hatte. Seine in dem Eisen gefangene Pfote hing nur noch an ein paar Muskelfasern und einem Stück Knorpel. Es fehlte ein einziger Biss, dann wäre es wieder frei. Sterben allerdings würde es so oder so. Sein Blick war wie der des Mädchens gewesen, voller Verzweiflung und Hass. Diese Polin, dachte er nachdenklich, erträgt keine Ketten. Sie wird hier in den Baracken sterben. Er riss sich von ihren Augen los und blickte auf Kurz. »Dem Rädchen hat nur ein wenig Öl gefehlt, sehen Sie?«

Sein Blick schweifte über die kleine Gruppe wie der eines Bürgermeisters, der ein paar unverbesserliche Streithähne beschwichtigt.

»Ich glaube, diese Frauen und Mädchen hier tun ihre Pflicht und, wenn es auch nur Ostarbeiterinnen sind, wollen wir doch nicht gleich annehmen, sie seien bösartig, nicht wahr? In dubio pro reo, wie der Lateiner so schön sagt; daran wollen wir uns doch gerade in diesen Zeiten halten, nicht wahr Kürzelchen?«

Er wollte sich bereits abwenden, da fiel ihm noch etwas ein. Er beugte sich zu der scharf riechenden jungen Frau hinunter und fragte sanft: »Wie heißt du denn? Du kannst doch Deutsch, oder?«

Sie starrte ihn noch immer aus wilden Augen an und nickte trotzig. »Kamila«, presste sie so heiser hervor, als müsste sie ihre Stimmbänder dazu zwingen.

Damit war ihr weiteres Schicksal besiegelt.