bernsteinhell

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Eugenia wendet sich ab, rückt am Spiegel ihren Hut zurecht.

„Hanna, was nutzt es dir? Geh weniger naiv durch den Ort.“

Tine horcht auf, in ihrem Geist bildet sich ein Mosaik.

„Hanna, welche gewisse Herren?“

„Einer mit schiefer Nase und Gehstock trägt ständig eilends Pakete herein. Die Pein des Alterns im Gesicht scheint mir sein Grund zu sein, wozu er sich das aufhalst.“

„Wer könnte dagegen anbeten, meint die Pastorsgattin wegen ihrer Knie“, kräht Eugenia zynisch und schlüpft in die Handschuhe.

„Auch dieser Herr könnte das Gewissen durch eine Spende zum Kirchenbau erleichtern!“, wirft Emilie ein, mit glühenden Augen hinter der Brille. „Kommenden Sonntag beehren mich die Frauen von Zimmermann, Apotheker und Müller zur nötigen Zerstreuung ob ihrer Schicksale. Also bis nächstes Mal.“ Ihr Augenglühen endet im Abwägen von Helena, die den Mantel zuknöpft. „Längst wollte zu dir Johann. Meinem alternden Mann enteilt jegliche Zeit.“

Für Helena schwebt bei dem Blick, getragen von den Worten, etwas Endgültiges durch die Diele. Auch Emilies Eifersucht auf des Lehrers Zuneigung, wiederum eine unüberbrückbare Welle. Helena drängt es ins Freie, sie reicht Emilie die Hand.

„Oh ja, die Zeit. Wir sehen uns kaum, grüße ihn herzlich.“

Emilie wendet sich hastig und unmissverständlich um, sorgt mit dem Finger am Mund für gemäßigtes Geplauder am Ausgang, wo Rosa, agil hantierend, die Heimweglaternen anzündet. Als Hanna die ihre annimmt, legt sie Emilie eine Hand an den Arm.

„Zürne nicht meiner Neugier, von der deine Teetafel ein rohes Ende nahm. Dafür gebührt mir kein Abendfriede. Mich wühlt mein Verplappern auf, aber du sagtest ja, nehmt Anteil aneinander.“

„Von derlei Randerscheinungen lass dich nur kurz tangieren, und trotze unerschütterlich allen Machenschaften, von denen du etwas hörst“, meint daraufhin Emilie, mit lehrerhaftem Ton. Sie tätschelt begütigend Hanna, aber drängt sie zur Haustür hinaus.

Im Frost der Nebel, teils sind sie wie Wolken, lässt Tine alle anderen an sich vorbei. Sie wartet auf Helena, und zieht sie mit sich.

„Ich muss etwas lästern, nach dem Gewitter in Emilies Haus. Die Stofftiere lösten Kontroversen aus. Im Laden ignoriere ich derlei, im Privaten ärgert mich das!, vermiest mir fast Emilies Buch für den Abend, gemütlich im Sessel. Ich könnte verzweifeln an Emilies so manipulierender Intoleranz.“

Ihr Buch stimmt kräftig zu, wippt in Tines Tasche, im Gehen vor und zurück. Dem Schlackern an ihre Hüfte entrückt Helena um eine Handbreite.

„Ich fühle mich nach dem müßigen Geschwätz hilflos, Tine.“

„Du erkennst Emilies Absicht? Eugenia war deine Erneuerung, so bald schon, zu viel und zu brillant, um sie anzuerkennen.“

„Ist es an dem, sei auch du nicht mehr streng mit ihr.“

Helena nimmt Tines Arm, einer Eispfütze am Weg ausweichend. Einmütig passt Tine ihre Schritte an.

„Weißt du mehr von Marthas Söhnen? So sage es mir ganz unter uns, Helena.“

„Martha erbat Schweigen. Erzähle du eines deiner Gerüchte.“

„Aha. Verkürzen wir den Weg mit Abscheulichkeiten anderer.“ Tine schaut Helena von der Seite an, dann unters Laternenlicht, um sicher zu gehen. „Im Geschäft höre ich von Betrügereien, bei denen mir meine Ohren zufallen. Aber, in Gemunkel keimt Wahres, falsche Blüten, auch taube Nüsse! Nun, das Ungeheuerlichste der Leute ist Folgendes. Ein alter Agent erpresst Bernsteinsammler damit, ihn für allzeit los zu sein, wenn sie ihr Küstenland übereignen. Wer keines hat, ist für ihn uninteressant.“

„Entsetzte Lüüt vertrauen dir Geheimnisse an.“

„Wo käme ich hin, wenn ich mir die alle zu Herzen nähme!“

„Eben! Die Suppe nicht versalzen lassen.“

„Dein Fischblut ist nicht ohne, wir kommen ins Geschäft, so dein Optimismus sprudelt, aus meinem flutet eine Idee. Gibst du mir die hübschen Stofftiere in Kommission, stelle ich sie aus. Ich seh schon Sommergäste sich für die Spiele der Kinder eindecken, in Ruhe und Langmut bei mir Trikotagen und Kurzwaren erwerben. Kommst du mit Bernstein voran, gilt es auch dafür.“

„Großartig! Urahnin Eli höre ich applaudieren, auf rechter Spur komme das Gute. Dein Angebot ehrt mich, aber wieso gilt es auch für die Bernsteine? Du kennst das Risiko.“

Tine lacht in den Nebel über ihr auf, und quietscht heraus: „Im Laden liegt Intimwäsche für Damen. Schämen sollten sich Spione. Nichts passiert mir. Eher entgehen mir gute Verkäufe, achte ich nur eine Sekunde lang auf Denunzianten!“

„Komisch. Fischköpfe sehe ich vor mir. Pranken schieben die in feine Wäschespitze!“, kichert Helena.

Helena biegt, im schwachen Licht ihrer Laterne, bald in den Wiesenweg ein. Dort hört sie von jenseits der Nacht einen Ruf, das zarte Band von Vedders Lächeln sieht sie nach ihr luschern. Ihr ein Gewinn, während der mit Handarbeit randvollen Stunden, die ihr vor liegen für die nächste Nacht.

10

Anfang März deckt Helena ein Leinen auf die Kiepe mit den von Helge zuvor bestellten Käselaiben für seine Mutter Line, Köchin in Villa Achterkerke. Helena rückt die Riemen am Rücken zurecht, und geht hinaus in den windarmen Frühlingsmorgen. Froh bemerkt sie an der Ahlbecker Chaussee die an saftigen Zweigen sprießenden roten Knospen, nicht aufzuhalten im Sonnenlicht. So wie sie selber, die ihre Schultern voran stemmt. Fern hört sie Hufe traben, indes sie an den Hügel zur Villa einbiegt.

Nach ihrem Klopfen an die rückwärtige Küchentür, öffnet ihr Line, die zugreift, die Kiepe am Grill ausleert. Helena mustert wie jedes Mal ihre Freundin. Ein weißes Tuch bedeckt ihr Haar, ihre Brust die Rüschen der Schürze, von ihr betastet. Der Mund, der pausenlos witzeln und jede Schinderei würzen kann, liegt in scharfen Zügen. Dennoch umarmt Helena herzlich Line, nimm ihre Münzen an. Line stellt sich vor die großen Kochtöpfe, die noch keine Speisen in den Raum duften oder hinaus der drei schmalen Fenster. Das Morgenlicht malt an die schwarzweißen Bodenfliesen vor den blank polierten Herd Karrees, hübsch gespiegelt an den emaillierten Klappen, doch nicht an Lines Gesicht.

„Ach, Helena, der Tag heute wäre nach deinem Geschmack. Du liebt es, bleibt nichts gleich. Deinem Naturell entfällt solch eine Ärgerlichkeit wie der ausgefranste Saum an deinem braunen Rock. Ja, Helena, Graf Bülow ist auf Gothen, er hat Ärger mit dem Verwalter, der nach Amerika will. Setz dich zu mir, Tee ist stets bereit, fährt der Graf früh aus.“

Im selben Atemzug noch, füllt Line für Helena eine Tasse, rückt weniger geschwind die Zuckerdose vor sie, und plumpst auf einen Stuhl. Hektisch tippt sie an die Zeitung am Tisch, fährt mit dem Finger entlang an einem Bericht.

„Oklahoma Land Run. Besiedelung des Indianerterritoriums am 22. April 1889. Freigabe von zwei Millionen Morgen fruchtbares Land an Siedler. Auswandererschiffe gehen von Hamburg ab.“

Line reckt die Stirn in die Luft. Ihr Blick streift Helena, dann durch die Küche. Im Ton ihrer Stimme schwingt Unbehagen.

„Der Verwalter hörte von den im Hamburger Hafen Lungernden. Ungelernte heuern auf Dampfern an, schuften während dem Warten auf ihre Abfahrt siebzig Stunden am Stück, erschütternd sowas. Aber davon klingeln Helge die Ohren, und jetzt auch von meinen Prügeln. Mag ihn nicht hergeben, brauche ihn für Steffi. Denn mein Oller ist seit Joos’ Unglück wie ausgewechselt, wälzt sich nachts, pufft ins Bettzeug, gemartert von der Endlichkeit eines Fischerlebens. Wegen dem von Joos. Helge bekniet er, nicht aufs Erbe des Fangrechts zu warten, kein Helfer zu bleiben. Aber der taugt auch nicht fürn Ackerbau. Was soll nur werden ...“

Line krümmt sich vor häuslichen Sorgen und wischt über ihre Stirn, deutet dann auf die Zeitung.

„Letzthin stritten Graf und Verwalter ausführlich über neue Dünger. Hätte er sein lassen können, haut er sowieso ab. Dieser Zeitungsbericht preist die Düngetafel Grünebergs als unentbehrlich für die Wirtschaft. Der Forscher konnte den Westdeutschen Verein für Erfindungsschutz gründen und den Chemieverband. Aus Stettin stammt er und durfte als zweites von sechs Kindern eine Lehre in der Pelikan-Apotheke absolvieren.“ Line tippt nachhaltig auf. „So sollte es sein. Allerdings gehen hier die potentiellen Gönner in Ferien, achten kaum auf meinen barfüßigen Ableger, der im Sand pickt wie ein Hahn auf Suche nach einem goldenen Korn.“

Ein angedeutetes Kopfschütteln bringt Helena zustande. Sie bedient sich mit der grazilen Zange vom Würfelzucker aus einer Porzellandose im Silbergestell, und rührt ihren Tee.

„Male Helge keine schwarze Zukunft, Line, auch wenn er auf Steffi achten muss. Mit der Zeit findet er etwas besseres.“

„Wenn das doch bald wäre, sonst rutscht er ab.“

Lines Wangen blähen sich gewichtig. Gedankenverloren nimmt sie einen Zuckerwürfel und wirft ihn zwischen den Händen hoch.

„Line, Sorgen helfen Helge nicht. Lass dich nicht am Zucker aus, nimm einstweilen unseren Schnack. Neuen Dünger brauche ich nicht, von eigenem Mist wachsen prächtige Kartoffeln. Putzenius kennt übrigens Major Dreher gut, den Gründer unserer Ahlbecker Feuerwehr. Sein Einsatz komme nah dem des Bürgermeisters, meint er, und freut sich auf die Einweihung am ersten April.“

„Ich geh nicht zu dem Fest, und Helge soll das auch nicht!“

Lines Verdruss sitzt tief in ihren Mundwinkeln. Sie wirft den Zucker in die Tasse und rührt hektisch mit dem Löffel.

„So eine Veranstaltung wie die gibt nur unerfreuliche Ablenkungen, und artet stets in Bechern aus. Grobe Leute sichern uns die Häuser.“

„Reibe dich nicht daran!“ Helena zieht Leuchten in ihre Augen. „Besser am Baulärm an Swinemünder Villen. Das Wolliner Kreisblatt berichtet, Swinemünde wird der reichen Welt reizvoller werden, das Stadtbild soll glänzen wie einst. Zumal inzwischen etliche Berliner Familien für Wochen von teuren Ahlbecker Hotels nach Heringsdorf abweichen. So jedenfalls begründet das Kreisblatt die Umtriebe des Bürgermeisters Herrn Eggebrecht.“

 

„Helge taugt weder für Bauarbeiten, noch für eine Pension.“ Übergangslos legt Line ein Grinsen der Art in ihr Gesicht, von der sie weiß, Helena mag es, denn sie bedrückt noch etwas. „Erst im Mai kommen mehr Gäste in die Villa, doch plant der Graf schon seine eigene Molkerei. Deshalb, Helena, verkaufe den Käse alsbald woandershin. Frage die Köchin bei den Delbrücks.“

„Oh! Das erwischt mich kalt. Euer Käsegeld kam regelmäßig!“

Helenas Hände knallen auf die Tischplatte. Durch den Schlag hindurch, spürt sie einen leisen Hauch aus dem Winterruhe, der ihr einen Handelswagen zeigte, eine andere Möglichkeit.

Line, derweil noch bestürzt von dem, was sie ausgelöst hat, nestelt an einem Schürzenträger, wobei sie tief den Kopf neigt. Denn steif sitzt Helena, mit Blässe um die Nase.

„Ach, Helena, ich hab dich erschreckt, und schlecht siehst du aus, aber lass den Kopf nicht hängen. Besuch die Swinemünder und verkaufe deinen Verwandten etwas von deinem Käse.“

„Ach, die missgönnen mir das Schwarze an den Nägeln! Bauern sind denen unschickliches Pack ohne Hirn. Sie würden mich einer Pension vermitteln. Im Dankesbrief für die Anteilnahme an Joos’ Hinscheiden bekundete ich, mir gebe mein Land ein gutes Leben.“

„Ja, die eigene Scholle, sei sie noch so klein, erhält dich in unserer Zeit des Kopfstehens. Schlimm geht es den Städtern. Neid und größte Armut gehen überall um.“

Line nickt leicht, an ihre viel eher reichen Gäste denkend, und an das Befinden ihrer Freundin Helena. Line deutet hin auf Helenas Tee, und schaut zu wie sie trinkt. Dann aber plappert sie, ohne einen witzelnden Beiklang von Nöten zu sehen, nur um Helena etwas abzulenken.

„Vor Zeiten gründeten die Siedler von Gut Gothen die Dörfer auf Parzellen von Oberforstmeister von Bülow, mit Salzhütten am Strand, worin Aufseher die Fassheringe prüften, bevor die zum Verkauf frei waren. Unsere Fischer sind rechtschaffen wie einst geblieben, wenige schwarze Schafe lechzen nach mehr Vermögen.“ Helenas Lider flattern, also ergänzt Line in warmherzigem Ton: „Deiner Landidylle steht ein schwerer Weg ohne Joos bevor. Du willst mit deinen zwei Händen alles beackern? Mir würde es vor der Plackerei grausen! Dein Mut scheint dir nicht zu fehlen.“

„Ooch ... es kommt auf den Zweck an. Sind die Kartoffeln in die Erde gelegt, wachsen meine paar Reihen von allein.“

Helena mag über Vedders Beitrag nichts berichten, denn Line lächelt bewundernd und neugierig. Davon muss sie Line ablenken.

„Wendickes Hotel lädt zu Abendgesellschaften, zur Feier des fünfzehnten Jahres an der Dünenstrasse. Vermutlich wegen neuer respektabler Konkurrenz. Ecke Seestrasse eröffnet nächstes Jahr der Ahlbecker Hof.“

„Fünfzehn Jahre? Schnell vergangen. Das Amt teilt großzügig Baugenehmigungen aus. Ob der Spekulanten rauft Graf Bülow sein schütteres Haar, aber eigentlich reibt er seine Finger imaginär an Geldscheinen.“ Line lächelt vergnügt, ihre Absicht gelang. „Du hast wieder Farbe. Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“

„Hm! Schick mir durch Helge einen halben Sack Mehl, und ein Dutzend leckere frische Eier. Oder geht das auch nicht mehr den üblichen Gang?“

„Sei unbesorgt. Ich verrechne es mit dem Käse. Wahres muss wahr bleiben, sonst gibt es einen eingezogenen Hals am krummen Buckel. Geradestehen ist wie Respekt vor mir selber haben.“

Erleichtert und aufrichtig, lächelt Helena Line an.

„Das stimmt. Eine meiner Wahrheiten ist, ich warte auf den Händler Friedel, ihm neue Stofftiere anzubieten, und dann hätte ich sofort Nadelgeld zur Hand. Ein Sortiment nimmt Tine für die Badegäste.“ Nach einer Minute Grübeln ergänzt sie: „Ich las in der Gartenlaube von den Nähmaschinen und hätte gern eine. Damit könnte ich viel mehr in meiner knappen Zeit anfertigen.“

Sprachlos von solchen Neuerungen verstummt Line. Sie schaut zur Wanduhr; die Zeit verflog. Geschäftig steht sie auf, umarmt Helena flüchtig.

„Einandermal erzähle mir ausführlicher, für heute endet die Audienz. Ein opulentes Mittagsgedeck wünscht sich ein Graf.“

Nachdem Helena mit dem nun leichten Korb gegangen ist, erwartet Line die Küchenhilfe Anna, um mit ihr das Essen zu kochen. Bis sie da ist, studiert sie die Zeitung, vor sich hin murmelnd.

„Die Moldauer Würfelzuckerfabrik feiert ihre fünfzehn Jahre Bestehen. Was in höheren Kreisen auf den Tisch kommt, fertigen Arbeiterinnen im Stundenlohn von dreizehn Pfennig. Die tägliche Fabrikarbeitszeit dauert elf bis siebzehn Stunden. Oh, in 1890 erst wird die Feiertags- und Nachtarbeit für Frauen verboten? - Ah, des Kaisers Streit mit Kanzler Bismarck wird durch Caprivis Sozialistengesetz und in Minderheitenfragen eine Wende bringen. Caprivi will die Kinderarbeit unter vierzehn Jahren in Fabriken abschaffen, auch Sonntagsarbeit. Seine Reformen zielen auf den Wandel vom Agrar- in einen Industriestaat. Oh, seine markante Aussage lautet, wir exportieren entweder Waren oder Menschen.“

Line nickt zustimmend. Ihr Heim erlebt sie nur im Dustern, früh im Gehen, nachts im Heimkehren. Und Helge ... Ja, er spürt den Sog der neuen Winde, die hauen ihn nicht von vorne fast um. Könnte er eine gehörige Portion Zähigkeit aufbringen, wenn ihm in der Fremde ein Hungerlohn gezahlt wird?

In der Schale voll Zuckerwürfel zerstört Line einen glatten Würfel. Körnchen berieseln ihre Finger, und der Gedanke, etwas anderes würde sie zerbröseln, könnte sie es. Denn alle in ihrer Familie sind an das Karge gewöhnt, kein Krümel von Zucker lenkt davon ab und keine Raserei des Nachts!

11

Inzwischen strebt Helena bereits zur Delbrücker Villa, um Lines Vorschlag mit der Köchin umzusetzen, eher nur halbherzig. Näher herbei rumpeln Wagenräder, in der Kakophonie der Hufe. Und die weiße Stirnblesse des Kaltblüters, hoch am Kutschbock Ansgars bekannte Gestalt, seine blauen Augen blitzen einen freundlichen Gruß.

„Magst du mitkommen? Gibt Freibier im Turm. Fiete hat sein mageres Strandland los. Er lässt nach glücklichem Verkauf die Sau raus.“

„Dünenland für neue Pensionen?“

„Juckt nicht, was die damit anstellen.“ Ansgars Hand wedelt in Eile. „Steig auf. Rike braucht mich für den Ausschank. Diesmal eine ihr höchst gelegen kommende Retourkutsche für mein ständiges in der Werkstatt umher tüfteln.“

„Ich wollte ... aber, nun gut ...“

Helena lehnt den Rücken gegen Ansgar, damit er sich nieder beugt, ihre Kiepe aufnimmt. Sie rafft den Rock und steigt auf, während er wohlgefällig ihre schmale Wade im kurzen Stiefel betrachtet.

Der Kaltblüter hat offenbar schonungslose Tage hinter sich. Er ignoriert den schlagenden Zügel, steht ruhig, und macht den Eindruck, er gehe, wann es ihm gefalle. Ansgar springt ab, wühlt aus der Tasche einen Zuckerwürfel.

„Er befleißigt sich, dich zu blamieren, Ansgar. Den haste verzogen“, spottet Helena, als er neben ihr sitzt, das Pferd in lahmen Trott fällt. Ansgars Lächeln färbt den Klang seiner Stimme heiter.

„Sein sturer Pferdeverstand versteht, drohe ich ihm mit dem Abdecker. Dann rollen seine Augen vor Zorn. Wird er den los, so läuft er gar ordentlich. Ihm liegt heute sicher etwas in der Luft.“

Als sie am Langen Berg von Bansin halten, dröhnt Gesang und Schifferklaviermusik aus dem Turm, Friederikes Wirtschaft. Auch offensichtlich zur Erheiterung der von Sonnenlicht überfluteten Fassade grauer Quader. Und für die Beiden, die aus dem Eingang torkeln. Am Arm von Ansgars Nachbar hängt ein Mann mit schiefer Kappe, der an des Nachbarn Kragen zieht und somit ihm die Luft abwürgt. Er rückt den nicht Trinkfesten zurecht und schlingert, durch den Schlamm der Radspuren jener, die zum Feiern kamen, zu seinem Karren, der neben einem hochrädrigen Einspänner steht.

„Steernhogeldicht en lichte Dag? Wat mut, dat schall mut!“, ruft Ansgar hinüber, nimmt Helena am Arm, steuert die Tür an.

Im Gedränge vor dem Eingang wendet ein Kerl, in zugeknöpfter Jacke aus abgetragener Wolle, seine blau geäderte Nase ab.

Ansgar erkennt Krischan im Vorbeigehen, und schaut ihm nach, der mit ernster Miene bei dem Nachbarn dessen Kragen aufklappt, als sei der für seine Musterung wichtig. Von Weitem hört Ansgar die harsche Stimme, und denkt fluchend: Halte dicht vor den Erfüllungsgehilfen, der will dein Leben nur schwer machen. Er hört noch den Nachbarn rufen: „Weg mit deinem Schietkrom!“, da grölt es im Schankraum. Erheitert aufatmend, zieht Ansgar Helena mit voran.

Im Hineingehen beobachtet sie über Ansgars Schulter hinweg den Nachbarn. Er brummt abgehackt, manövriert den Betrunkenen in den Karren, schiebt nach. Der Kerl bei ihm kehrt um. Im Pulk an der Tür reiht der sich ein, taxiert schon alle, rückt sich zu Einem durch, der sich bei seinem Nähern duckt.

Helena umarmt nach der frischen Luft nun Bierdunst. Und der Neid und die Freude feiernder Fischer, von all dem was ihnen die Stunde gedanklich schlug. Durch dies Dichte spielt das Akkordeon einen Walzer. Eben steigt ein Sänger auf den Tisch, tanzt vergnügt. Ringsum schunkeln die Krüge.

„Schnell ein neues Fass her!“, kräht Friederike, und winkt Ansgar.

Sie tänzelt in ihrer sauberen dunkelblauen Schürze hinter der Theke. Ihre Wangen zeigen den Humor schwesterlich burschikoser Art. Schon geht Ansgar schulterklopfend zu den rotwangig Feiernden, gibt der Schwingtür zum Lager dann einen Stoß. Friederike wischt ihre Finger am Latz ab, schiebt die Ärmel des erdbraunen Kleides auf die Unterarme hoch. Sie schaut über die gepflegten Haartrachten der betüddelt Grinsenden, so sind die See erfahrenen Fischer nicht wiederzuerkennen. Aber Helena, an die sie sich wendet, der sie, den Lärm überbietend, zuruft:

„Schau dir Fietes Tanz an! Alterskrumme Hüpfer des Gottes, der er einstmals war. Fiete vertreibt den Nachbarn den Trott, sehen sie ihm zu und seinem zur Feier des Tages weißes Hemd. Aber ich gehe richtig auf von etwas anderem. Ansgar weiß, macht der Turm einmal zu und ich kann dann noch, gibt es ein Ziel.“ Sie senkt die Stimme, ein Flüstern wird es nicht. „Orangenhaine will ich sehen, nicht nur im Traum. Dahin pflastern gesparte Münzen der verschrobenen Wirtin den Weg.“

Friederike muss mit dem Nachschub an Krügen zwischen die Stehenden. Nah am Tresen klönen zwei Bier trinkende Fischer mit faltigen Gesichtern. Helena horcht hinein in das Wortgeplänkel.

„Kennst du den da mit der wulstigen Nase, den Schlaumeier?“

„Der begreift nicht eine Schwierigkeit, belauert er Lüüt. An kann er nicht gegen uns. Solche wie den stapelt der Herrgott im Rübenkeller, lässt den auch verrecken.“

Der andere Alte trinkt einen Schluck, grinst dann ironisch.

„Nie nich für den morden, der Fischfutter nordwärts inne Schären treibt. Jau, dem wird's so ergehn.“

Intensiv gehen sie einig. Ihren Jacken entweicht der Geruch nach Fisch, mischt sich mit den Fahnen der Kehlen, die sie aushauchen. Eine Dunstglocke umweht Helena, sie kann in dem Gedränge nicht fort, viel zu nah dem Schlagabtausch, dem Groll darin.

„Die See spuckt nie Leichen aus“, raunt der erste Sprecher und beugt sich zur Theke. „Aber er sieht denen eines Tages ins Auge, versucht, nicht nur vorm ollen Agenten sich zu retten.“

„Ah! Der schadet uns Lüüt unbeugsamen Bluts bis zum Ruin!“

Helena mag dem Gerede nicht mehr zuhören. Es öffnet sich im Dunst eine Lücke auf den heiteren Akkordeonspieler. Er schwingt das Instrument am Knie, die Finger federn über Tasten, er zieht am Luftbalg die Lederfalten auf, Klänge darbietend. Dort vorbei tänzelt Friederike, die ihre Finger ausstreckt zu einem Krug an Fietes Tanztisch.

Plötzlich gleitet Fiete aus in einer Pfütze am Tisch, fällt über die Kante. Im Sturz brüllt er noch laut auf. Lahm in ihrer Reaktion suchen Umstehende ihn zu fassen, greifen ins Leere. Zu spät, am Boden gibt Fiete keinen Mucks mehr von sich. Doch eine letzte Sequenz quetscht das Akkordeon hinein in die Stille vor dem Tisch, wo das ausgelassene Vergnügen war. Blut sickert aus dem weißen Hemdkragen, färbt ihn ein in rotem Braun.

„Der is hin“, lallt neben Helena jemand. „Erst himmelhoch jauchzen, nun mausetot.“ Er kniet nieder und schließt, behutsam und völlig klar vor Schreck, an Fiete die Augen.

 

Inmitten der stummen Fischer entweicht Helena ein Wimmern. Sie sieht Joos, im Sturz fortgerissen, seinen Untergang auf der Todesfahrt. Eine Faust presst sie an den Mund, sucht nach Halt, reißt ihren Blick von Fiete los, spürt am Pochen in ihrem Hals, die Realität rufe sie weit fort, heraus aus der Turmschänke.

„Bekommen hat er, was sich jeder wünscht, nun bringt ihn das schöne Geld um“, höhnt ein Fischer von Fietes Tisch. „War unser Gott denn hier und heute nicht eingeladen?“

Er erntet Murren. Der Schock des soeben Erlebten spricht.

Die Schwingtür vom Lager kracht an den Türstock. Ansgars Brauen fliegen hoch. Das Fass stemmt er noch unter die Theke. Er reibt sein Nackenhaar, sieht zu dem Alten, dem keiner mehr helfen kann, und ruft nach einem Moment in die stumme Menge:

„Nu Lüüt is allens ut un vöröver, dat gifft nu nix mehr.“

Helena sieht den Kerl mit der wulstigen Nase, über den die beiden Fischer zuvor sprachen, nun bei Ansgars Rede die Mauer der Fischer grinsend aufstemmen, den Weg sich öffnen. Und sie bemerkt, wie ein ignorantes Lachen ihn schüttelt!

Bewegung kommt auf, und leert die Schankstube. Friederike verschränkt die Arme.

„Manche von denen wünschen sich, so schnell soll es gehen. Der Tod gab einem Glücklichen einen prachtvollen Abgang. Wird still hier. Von denen kommt so bald keiner mehr.“

Ansgar starrt so krumm auf den Toten, wie der daliegt. Und auch darüber seufzt Friederike.

„Aus ist es. Fahr los, bring Gendarm Karl her, um das Malheur anzusehen. Nimm Helena mit.“

Sie tätschelt Helenas Hand und rückt sie heftig zu Ansgar. An der Tür murmelt sie leise im Ton:

„Musste nicht mit ansehen, Helena, was nun aus Fiete wird.“

„So was kümmert mich längst nicht mehr“, antwortet Helena im eiligen Aufsteigen am Wagen. „Ich lebe, und meine Kraft strebt voran. Wird es dir zu still, komm mit Ansgars nächster Fuhre zu mir. Bist mir sehr willkommen, mitsamt deinem Weitblick.“

Unter der Tür tupft Friederike mit der Schürze ihre Augen trocken. Sie blickt dem Pferd nach, das die Beine müde bewegt und noch einmal auf die Chaussee geführt wird.

Bei Ankunft vor der Dienststelle steht das Portal offen. Karl sitzt Pfeifchen qualmend neben der Wache bei den Heringsdorfer Alten am Rondell um die uralte Linde.

„In trauter Runde, Wachtmeister? Dich hält das sonnige Wetter vom Dienst ab?“, ruft Ansgar hinab.

Karl klopft die Pfeife an die Bank, Krümel rieseln zu Boden herab. Dann meint er beiläufig, weil die Sitzenden zuhören und er sich in seiner ehre gezupft empfindet:

„Meine Beobachtung entlässt keinen Halunken. In deiner Akte stehen Verweise, aber Einerlei. Alle wissen, du fährst ständig irgend etwas umher. Spiel also nicht den Helden, schon gar nicht an der Wolgaster Fähre. Dort fluten Vagabunden die Insel, mehr als mir lieb sind. - Helena! Wie geht's dir?“

„Ich beklage mich nicht, Karl.“

„Mich wundert, warum du mit Ansgar umher ziehst.“

„Er repariert hin und wieder etwas für mich.“

„So? Schlawiner können lästig fallen.“

Ansgar reckt seine breite Brust, derweil er knurrt: „Karl, beschreie nichts, bringe mich nicht aus der Spur! Rike wartet im Turm. Fiete stürzte tödlich in die volle Schänke. Helena sah es auch. Ich fahre sie heim, komme nach.“

„Nichts überstürzen. Fiete läuft nicht mehr davon.“

Karl stemmt die Fäuste auf die Knie, und weiß doch sogleich, wie flink ihm die Worte, wieder vor den Gedanken, herauspurzelten.

„Bist keine gute Seele!“, tönt es neben ihm postwendend von einem verärgerten Alten, mit drohend erhobener Faust.

Karl übersieht es geflissentlich. Umständlich steckt er die Pfeife in die Rocktasche, und drückt seinen Pickelhelm aufs Haar, die Hand unwillig an der Brust abstreifend.

„Das Nötige wird veranlasst, die Kiste der letzten Ausfahrt bei Grüneberg beauftragt.“ Schon beehrt er Helena süffisant mit einem Zwinkern. „Mit mir kannst du jederzeit reden, hörst du?“

„Ob sie darauf Wert legt?“, urteilt Ansgar, und entbindet Helena von einem passenden Kommentar. Er bläht seine Wangen auf und entlädt ein angekratztes Grunzen. Das Pferd trottet an.

Daheim zurück, schaut Helena im frühen Abendlicht über ihr Land. Bis hinunter an die Beek wäre zu pflügen. Line hat ja so Recht, auf der Scholle steht Schinderei an. - Oh, oh, nicht für Schafe!

Vedders staunendes Gesicht, offeriere sie ihm das, übertönt das schmerzliches Erlebnis im Turm. Helena geht zum Käsekeller, stellt die Kiepe vor die auf Gittern im Winter gereiften Laibe. Ihr wird offensichtlich, Lines Hinweis umsetzen zu müssen, den Käse Heringsdorfer Köchinnen anzubieten. Trockene Büschel alter Brennnesseln sieht sie hängen. Bald sind frische zu schneiden, damit sich der Käse hält, und länger reifen kann.

Aus der Kartoffelschütte füllt Helena den Vorratskorb ihrer Kök und trägt ihn die Kellerstufen hoch. Ihr nähert sich Vedder, rasch im Gang, der Schwung eines stolzen Abenteurers behaftet ihn. Und über ihm, dem Helena entgegengeht und mit großen Augen mustert, wuchert und glüht ein Gold in einem Bogen nach rückwärts. Höchst überrascht von ihren wachen Sinnen, ruft sie Vedder zu:

„Ich erkenne inzwischen, du gehst entzückt dorthin, wo ich bin! Willst du auch etwas Land an der Scheune? Musst es einzäunen und die Schafe vom Gemüse stets fernhalten.“

Er schlendert zur Scheune, schaut ins Gelände, ruft von da: „Ein Unterstand würde längsseits hinpassen! Wenn Ansgar mit mir bauen würde, wäre das ganz einfach.“

Seine sich rötenden Wangen ob maßloser Freude, kommentiert Helena im gleichen Moment mit einem Zucken der Schultern, geht dann zur Vorratskammer, den Kartoffelkorb wegzuräumen. In der Küche sinkt sie am Herd mit einem glücklichen Glucksen in die Knie, legt Scheite hinein. Sie deckt den Tisch mit Geschirr. Bald stellt sie auch die im Topf dampfenden Pellkartoffeln darauf.

Vedder kommt ihr nach, sein Grinsen wird breiter.

„Bin mit Krischan hierher gefahren. Dem flattert das Hemd.“

Helena fährt herum. Das Erlebnis im Turm, ihre Doppelsicht des Sterbenden, schillert in ihren Sinnen, die aufhorchen und sie warnen, ihr Glücklichsein mit etwas kalter Härte dämpfen.

„Von wem sprichst du?“

Unbeirrt entnimmt er seiner Joppe einen Lederbeutel, wobei ein freudiges Leuchten seine Augen in ihrer Helle weitet.

„Ich bringe dir etwas. Nur ein Schaf für Helge und du wirst besser werden. Aufs Züchten verstehe ich mich so gut wie Helge sich aufs Finden. Verstand hat er, gehört kaum zur üblen Sorte wie Krischan. Hier nimm, es soll dir Freude machen.“

Helena nimmt den Beutel an. Sie öffnet daran den Knoten und schaut hinein auf den Inhalt, zieht überrascht die Brauen hoch.

„Schenkst du es mir? Mit diesem Vorrat entfällt vorerst ein Sammeln am Strand! Helge hatte viel Glück. Für ihn ist Finden von so vielen Bernsteinen wohl keine Kunst.“

Beseelt und doch ernsthaft glimmt das helle Blau in Vedders Augen. Er walkt seine Finger, Begehren sirrt an seine Wangen. Schon lässt Helena den Beutel auf den Tisch sinken. Vedders Gefummel löst sie und legt seine Hände mit tiefgründig schmalen Augen auf die Rockschichten in ihrem Rücken.

„Magst bleiben?“

„Ansgar kommt morgen nachsehen, ob der Grund frostfrei ist, um bald das Fundament am Anbau zu machen. Kann dauern, bis das Fachwerk der Badestube steht. Wirst uns übers Frühjahr oft hier haben. Für die Rohrleitungen, die Schlegelpumpe, den Badeofen und deine Wanne, dafür schachten wir aus.“

Helena sieht zu Boden. Sie ahnt, was vorgeht in ihm, der so selig plappert. Ein eigenes Kribbeln spürt sie, das seinem wohl ungleich. Sie könnte warten, um aus der Emaillewanne heraus in einem Fenster den Himmel über den Feuchtwiesen zu betrachten. Sie rückt von Vedder ab, deutet zum Tisch.

„Setz dich. Essen wir.“

Vedder sticht eine Gabel in eine große Kartoffel, pellt sie mit dem Messer, stippt sie in das Schälchen mit Salz, löffelt aus einer Schale etwas Frischkäse darauf, beißt einen Happen ab und kaut. Sein Blick fliegt zu Helena, hart würgt er. Nichts rutscht, als ob seine Kehle rein gefühlsmäßig Ella verenge, sie nähere sich in ihrem Sarg, dahinter zeigt sich Joos. Zum Glück verblasst es so schnell wie es kam. Ein leiser Schreck bleibt, und die Qual des harten Kartoffelbrockens. Scheu schaut er zu Helena. In die gelbe Butter drückt sie ihren Löffel. Ja, das schmiert. Wie Ella macht sie das, die im Reinen mit sich, nach einem einfachen Essen, nachts bei ihm lag. Jetzt aber, eine Armlänge nur, drei Handbreit fern isst Helenas Mund. Plötzlich wird sein Hals weich. Der Brocken rutscht. In den Händen Kartoffel und Löffel haltend, neigt Vedder sich hinüber und drückt im Kuss seine klebrigen Lippen an ihre Wange.

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