bernsteinhell

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Zur Truhe geht sie, kehrt zurück an den Tisch und kippt den Sammelbeutel aus, „in Gottes Namen“ murmelnd. Unerwartet tritt in der selben Sekunde in sie der Traum von den bernsteinhellen Augen im bezopften Kindergesicht. Magisch berührt davon zittern Helenas Finger, fühlen es ganz und gar. Rasch streift sie durch das Häuflein, zeigt dann an jenen handtellergroßen Brocken, den sie vor ihrer von Glück besonnten Hüpferei am Strand fand.

„Könnte ich einen Schmuckanhänger daraus machen, Ansgar?“

„Sehr groß ist er. Stört es dich nicht? Wäre schade, etwas so Kostbares kleiner als nötig zu machen.“

„Vedder? Sag du!“ Helena dreht den Stein des damals sie berauschenden Glücksmomentes im Licht.

„Der ist selten zu finden, kommt aus tiefer See. Mach, wie du denkst. Tee ist getrunken. Bis später.“

Seine Fellkappe aufs Haar drückend, schnellt Vedder zur Tür hinaus. Helena blickt ihm nach. Ansgar räkelt sich, winkt ihr.

„Da bist du platt, was? So kurzangebunden ist der Sturkopf, seit er weiß wir fahren zu dir. Lass dir davon nichts verderben! Komm, ich brenne darauf, zu sehen, wie du klarkommst.“

Helena seufzt leise, rückt dann ihren Schemel in der Kammer neben Ansgar vor das sonderbare Werkzeug. Schon erfasst sie des Steines fertige Form, fühlt auch die Euphorie darin, voll Begeisterung gehüpft zu sein. Ein Omen, all dem die Stirn zu bieten, das daherkomme, oder hinfort renne.

„Aha, simpel, damit beginne ich“, murmelnd, legt Helena den Hebel um, führt ihre Hand zur Kurbel.

Staubigen Puder scheuert das Schleifband vom Rand. Kanten entstehen, nach und nach ein mäßiges Oval, während Helena ihre anfängliche Scheu vor dem Gerät verliert.

Ansgar betrachtet die regen Finger, hört ihr Stoßatmen über ihrem konzentriert eingezogenen Mund. Dahinter spielt die Zunge an der Haut zum Kinn. Sähe er bald die rosige Spitze die Lippen lecken? Ansgar greift sich an den Nacken, nimmt dann das Oval, reibt mit dem Daumen an den Schleifstellen.

„Feile die Unterseite etwas großflächiger. Danach wirkt die Vorderseite mehr, als wölbe sie sich.“

Helena schafft es leidlich, und steht in Kürze abrupt auf.

„Das war die erste der langen Reihe von Stunden. Es macht Spaß, aber die Anspannung verkrampft!“

„Lohnt allemal. Du bist handwerklich begabt. Doch fehlt noch das Bohrloch, lege den Hebel um, die Schraubzwinge an.“ Helena arbeitet behutsam weiter, bis er zufrieden brummt: „Nach dem Schleifen machen Wachs oder Fett unebene Spuren unsichtbar. Und reibst du den Schmuckstein auf dem Leder deiner Fellweste, entsteht eine hohe Temperatur, davon glänzt er.“

Mit dem Ergebnis zufrieden und sogar freudig erregt von den künftig sich ergebenden Möglichkeiten, nimmt Helena aus ihren Utensilien am Spiegel der Schlafkammer ein Samtband. Sie fädelt eine Schlaufe durch den Anhänger, bindet die Enden hinter ihrem Hals zusammen. Der kostbare Schmuck wirkt vor Joos’ altem Arbeitshemd wie ein verirrtes Kleinod. Helena lacht schallend, gurrt ein wenig, ruft dann durch die offen stehende Tür:

„Ich brauche passendes Darunter, wäre sonst für die Katz!“

Sie geht grinsend zu Ansgar hinaus, der am Küchenfenster nach Vedder ausschaut. Er dreht sich zu ihr, kichert wie sie.

„Warte, was erst Vedder sagt. Bist sowieso bedeutend für ihn. Trägst du ein feines Kleid, ergreift er die Flucht!“

„Darin täuschst du dich!“, tönt es an der Hintertür.

Vedders Augenhelles glüht, während er seine frostigen Hände reibt. Er rückt die Fellkappe aus der Stirn, schaut von unten hoch über Ansgar, dem er das selbstgefällig gereckte Kinn mit einem Haken polieren mag. Dies zutiefst zu tun, stellt er sich vor. Er unterlässt es, spürt sein Vertrauen im Argen, und, ihm schmecke vor lauter Unvermögen sowieso sein Mund sauer. Schwer zu ertragen, würden hernach alle seine Felle davonschwimmen, er wohlmöglich Helena an Ansgar verliere.

„Wärme dich am Kamin, Vedder.“

Ansgar drängt mit einer Hand und grinsend, Vedder hinüber. Im selben Dreh schlägt dessen Arm an gegen seine Direktive, mit in etwa einem Fünftel der zornigen Hilflosigkeit.

„Kaminfeuer kühlt dich wohl nicht“, erfasst Ansgar, und was aus Vedders Augen fliegt. Zu ihm kehrt der vorherige mentale Schlag um, sein Vedder alleine hinaus in den Wald schicken. „Mach halblang, Freund. Du führst dich auf, als müsstest du durch eine Wand, wo gar keine ist!“, knurrt er, ohne an irgend ein helfendes Wort zu denken.

Gegenüber stehen sie sich, stumm ihre Zwietracht billigend. Vermeintlich verteidigt der Eine, indes der andere abwehrt, was augenscheinlich über bordet. Vedders Blick ähnelt Ansgars, allerdings fühlt er bei sich mehr Brodeln zu Kopfe steigen.

„Nun sage ich, was wir machen! Dreh bei, Ansgar! Ausbooten lasse ich mich von dir nicht!“

„Ich jage sie dir nicht ab! Freundlichkeit verbindet uns. Schon mal gehört? Auf Freundschaft jage zu, um deinetwillen.“

„Reicht erstmal!“, knurrt Vedder. „Zwei Fuhren an Brennholz brachte ich. Passt das Wetter, hole ich mehr.“ Helena sieht er nicken und zustimmen. Er weist zur Tür. „Dem Gaul erfrieren die Hufe, ich will vorm Dustern heim!“

Ansgar holt Kiste und Jacke aus der Werkstatt, und flüstert im Hinausgehen Helena wehmütig zu: „Kein Übermut vorhanden.“

Er kraust die Brauen, zuckt mit seinen Schultern. Helena ahnt, er wird Vedder Kontra geben. Daran wäre freundlich, es nicht ihre Ohren hören zu lassen, hätte er es sofort in klaren Worten getan. Innerlich schlägt sie drei Kreuze vor Vedders Schweigemauer, und seufzt über sich:

„Er übersah meine schmucke Brust und fand kein lobend Wort! Rike, du gute Freundin, du spurtest nur Ansgar in Takt hinein.“

Im Wintermantel geht Helena kurz noch über den von vielen Schlittenspuren durchkreuzten Hof auf den Asthaufen neben der Scheune zu, und bricht in Freudenjauchzer aus. Einen knorrigen Ast hebt sie an und merkt unmittelbar, mit welch großer Hingabe Vedder den Vorrat herschaffte, und seine Zuneigung versteckte. Für einen Moment spürt sie eine zerknirschte Anwandlung, und legt den Ast zurück. Im Aufrichten schweift ihr Blick auf den Horizont über der Ostsee.

Doch, ja. Der Gedanke an versteckte Zuneigung bewirkt auch ein Bejahen von mehr Begegnungen. Neben Vedders zu erwartenden Neuantritt, endet ihre Abkehr von anderen. Wie gewaschen sieht Helena ihren Willen für etwas Gutes aus den Fluten steigen und als Wetterpfeil voraus deuten an den Sonntag. Sie kehrt in erneuerter und schon heiterer Voraussicht um. In der Küche hängt sie den Mantel an den Haken hinter der Tür, und schnellt zur Kleidertruhe in der Schlafkammer, wühlt darin nach etwas Passendem zu ihrem neuen ovalen Schmuck.

9

Am nächsten Sonntagnachmittag eilt Helena, knapp an Zeit, durch die Schleier frostiger Luft vor den Ahlbecker Hausfassaden. Der lange Atem des Winters gibt noch nicht auf.

Ihr in Sorgfalt gewählter knöchellanger Rock mit bauschigem Volant wippt im Mantel um die Beine. Helena fühlt sich herausgeputzt mit den schmalen Schnürstiefeln, in denen sie durch den krustigen festen Schnee balanciert. Unter dem Arm stecken, an der Laterne für den Heimweg, ein Buch und ein Beutel mit den Tieren, den Freundinnen zu zeigen. Sie treffen sich bei Emilie, derweil der Lehrer die Chorprobe vom Männergesangsverein im Kurhaus leitet.

Zum Haus von Martha biegt Helena ein, die mit ihr geht. An der Straßenecke dröhnt das Hufklappern einer geschlossenen Kutsche auf und wird zunehmend lauter. Aus entgegengesetzter Richtung jagt in rasender Fahrt ein leicht gebauter Einspänner auf hohen Rädern heran. Helena prallt zurück vor dem auf sie zu galoppierenden Pferd in ledernem Geschirr. Einige Passanten, sonntäglich aufgetakelt mit Hüten und Kappen, queren noch die Straße und trippeln jäh los, sodass der Kutscher gar nicht anders kann und ablenkt, das Zweigespann herumreißt.

Geistesgegenwärtig presst Helena sich an ein Haus. Der Pulk der erschreckten Leute bedrängt sie, raubt etwas die Sicht auf den Beinahezusammenprall beider Wagen. Die Kutsche entwischt kaum dem Einspänner, schliddert über das Kopfsteinpflaster, ein linksseitiges Rad streift knatternd einen Laternenpfahl. Um einem nächsten auszuweichen, greift der Kutscher in die Zügel. Zu hastig, die Kalesche ruckt aus der Spur. Die trabenden Pferde werfen ihre Köpfe hoch, auch vom Aufschrei der Menschen wie aus einer Kehle erschreckt. Sie straucheln im verharschten Schnee, doch fangen sich, reißen im Vorwärtsschießen das Gefährt mit sich. Es schlittert nach gegenüber, zu den Pfosten der Einfahrt bei Marthas Haus.

Dort stiert der schwarzen Breitseite des kollernden Kastens und dem alten Gesicht am Fenster ein schmächtiger Bub entgegen, panisch erstarrt. Das hintere Speichenrad rollt rasant auf den Kleinen zu, quetscht ihn in Sekunden an den Pfosten. Ohne das zu bemerken, zieht die Kutsche vorbei.

Rasch ist sie fort. Zurück bleibt von der tückischen Bedrängnis ein geräuschloser Moment. Dumpf lärmend bricht er. Neugierige Anwohner gesellen sich den Passanten zu. Helena schaut einzig auf den Jungen, den Riss in seiner Jacke. Ihr Signal. Sie stolpert über die vereiste Straße hinüber zu dem, der sie erblickt, und wiederholt dann auch hinüber zu der Straße.

„Is er wes?“, lispelt er.

„Ja, wie dreist! War es ein arg schlimmer Schlag?“

Schmerzvoll stöhnt er, neigt sich dann und spuckt einen von blutigen Fäden durchzogenen Schwall in den Schnee. Er fischt mit der Hand den ausgeschlagenen Eckzahn heraus.

Martha eilt im wehenden Mantel herbei, schmiegt ihren Sohn an sich, tastet hektisch aúf Arme und Beine, über sein blondes Haar, sieht dann Helena an, dämpft ihre Stimme.

 

„Gemeine, widerliche Kinderschänder! Mein lieber Gatte glaubt und sagte vor wenigen Minuten erst: Nach dem Unglück von neulich käme nichts mehr, den Alten wären wir los. Künftig müssen meine Jungs noch besser aufpassen, das meine ich.“

Helena erinnert sofort den verletzten Rotschopf. Sie nickt kurz nur, schüttelt dann jedoch vehement den Kopf und flüstert: „Dies Pech heute kuriert ihm hoffentlich seine Annahme.“

„Mir glaubte er seither nicht, sie hätten es auch auf mich abgesehen, beobachten mich, als täte ich das Verwerfliche, obwohl wir bloß aus der Misere heraus wollen“, ergänzt Martha, indes sie Helena beschwörend anblickt, schon vorausdenkend. „Schade, das Teekränzchen ist kalter Kaffee, ich wäre gerne dabei, wo wir dich so lange nicht sahen. Erzähl ihnen nichts, versprich es!“

„Wie dir zumute ist, verschweige ich sicher. Auch den Schreck des Kleinen, der dich jetzt braucht.“

Martha zieht ihr Kind mit sich. Vor der Haustür verscheucht sie schimpfend die stehen gebliebenen Passanten, die das Unglück ihres Jungen zu begierig verfolgen. Deren wartende Menge durchquert Helena achtlos. Eben schlägt in der Ferne die Heringsdorfer Kirchenuhr drei Mal und rüttelt Helena aus ihrem Schreck auf. Sie trippelt, so schnell es geht in engen Stiefeln, zum Garten am Lehrerhaus. Dort steht bereits Emilie in der Haustür und mustert durch ihre Brille die Eintretenden. Wie eine Gastgeberin, die auch im letzten Winkel im Hinterkopf nur ans Gelingen denkt, alles im Griff hat.

Trappelnde Absätze dröhnen in dem geräumigen Flur, warm von dem Kachelofen, der von hier alle Räume wohlig beheizt. Davor steht Magd Rosa, die Helena mit lauer Gebärde Laterne und Mantel abnimmt. Am Garderobenspiegel zieht Helena die Hutnadel heraus, legt ihren grauen Filzhut ab, zupft ihre schwarze Bluse glatt, tastet zum Bernsteinanhänger. Sie nickt sich aufmunternd zu, um den Vorfall an Marthas Haus zu vergessen, und das Omen im ovalen Schmuck wahrzunehmen. Sie eilt den Anderen in die Mitte der längsseits zum Fenster mit Blick zur Straße ausgerichteten Stube nach.

Helena tritt hinter der Hausherrin herein, grüßt die Freundinnen vor dem Tischchen am Bücherregal, nimmt sodann ein ausgelegtes Werk zur Hand. Neben ihr befragen, übertönen sich gegenseitig die Frauen, erwägend, was sie daheim lesen, und mustern nebenbei Helena mit raschen Seitenblicken, in denen der Anstand spricht, den ihre schwarze Bluse einfordert.

Das Buch, und ihr mitgebrachtes, legt Helena ab. Sie spürt, ihre Haltung wackelt. Sie hätte sich anders kleiden müssen! Ihr schwanen lästige Bemerkungen, und die erstickten nur willensstarke Antworten.

Bald äußert Emilie am Kopf der Tafel laut vor ihren Gästen:

„Rosa, schenke den vollmundigen Assam der Westindien Company aus. Von einem Sangesbruder ergatterte mein Johann ein ganzes Pfund. Welch einen Duft er hat, und golden anzusehen ist, mischt ihr Milch hinein! Der Tee gewinnt an Leichtigkeit, nehmt ihr hinein nur von den weißen Kluntjes.“

Als serviert ist und sich Löffelchen leise klirrend in den Tassen drehen, stellt Emilie fest, Rosa vergaß die Likörkaraffe zwar nicht, in allen Gedecken aber die Gläser. Sie rückt ihre Nickelbrille empört an der Nase hoch, und winkt Rosa herbei.

„Zum Brombeerlikör reiche uns Langstielige aus der Vitrine, danach sei fürs Erste entlassen.“

Rosa erfüllt es auf der Stelle. Dann stellt sie Bücher im Regal exakt in die Reihen zurück. Beauftragt nachzuzählen, lugt sie in die darunter gestellten Taschen, aus denen kantige Einbände vor schauen. Bevor sie hinausgeht, stellt sie die Spendendose zum Bau der Kirche auf das Tischchen.

Emilie kredenzt allen Likör, hebt danach impulsiv ihr Glas und ihre Stimme für eine Begrüßung.

„Mein strebender Geist liebt es, sich sonntags vor trister Routine zu drücken! Nehmen wir Anteil aneinander, doch nicht zu viel, wir wollen ja zurückfinden können aus allem, was vorgeht. Genießen wir die Stunde Teekultur, während unsere Ehemänner die im Gesang erprobten Kehlen strapazieren. Das sichert den häuslichen Frieden.“

Sie kichert dezent, genehmigt sich ein Schlückchen, deutet einladend dann an die Platte mit Gebäck und Streuselkuchen. Ihr dankt zustimmendes Gemurmel.

Links von ihr sitzt Eugenia, eine dürre Frau Mitte Vierzig, die sich als Hausdame in Haus Berthold bessergestellt weiß als manch andere Angestellte. Hier in der feinen Umgebung erstrebt sie nur das Gebührliche, führt die Kuchengabel langsam zum Mund.

Eben mustert Eugenia der Wandhalter hübsche Schmiedearbeit, in deren Petroleumflammen hell brennen, neben einem Gemälde von Gesteinen auf grüner Alm. Still krittelt sie: Das Brennöl tritt an gegen das Nebeltrübe am Fenster, aber zeichnet Emilies Kinn in harter Kontur in ihrem perfekten Puder gegen das Alter, und blass macht sie ihr hellblaues Kleid. Ihr Streuselkuchen mundet auch nicht, weil Emilie unsere existentiellen Unterschiede ob der Ehemänner überging. Das hörte Tine, Witwe seit Jahren, die ihr Kurzwarengeschäft mit Trikotwäscheabteilung führt. Überaus modisch wirkt die blusige Jacke ihres Kostüms. Solch samtiges Grün hat etwas.

Eugenia reibt über den Stehkragen ihres grauen Kleides, der unter dem Kinn einen blassen Hautstreifen zeigt. Sie neigt sich zu Helena neben sich, hüstelt kurz, zischt dann laut heraus:

„Hübsch gekleidet bist du heute, mit extra Schmuck für uns. Es geht dir wohl? Und weshalb so bald?“

„Herrjemine!“, protestiert Helena. „Nun, mir geht es wegen der Handarbeiten gut, die ich so bald wie möglich verkaufe.“

Rasch zeigt sie Eugenia ein Stofftier, reicht andere weiter an Hanna. Deren Drallheit erbebt. Die bekundet ihr Talent, im Haus von Gemeindevorsteher Kurth auf den Tisch zu bringen, was seiner Wirtschafterin bekömmlich ist. Auch Anderes entgeht ihr nicht. Und wissbegierig schlägt manchmal ihre Zunge zu, die nur spontan ruht, ängstigt Hanna sich, aber kaum vor den Geschöpfen aus Wolle. Ihr Blick huscht an Helenas zerstochene Finger.

„So kommt eines zum anderen. Und du, Helena, stirbst nicht vor Einsamkeit. Auch isst du gesittet wie vornehme Herrschaft mit der Gabel, bist nicht nur in derber Arbeit, sogar auch mit Nadel und Faden geschickt! Was brachte dich so weit?“

„Hanna, deinen Augen entgeht wohl nichts, du hast dein Gespür im Nähkästchen dabei. Nun ja, bei meinem winzigen Sticheln öffnen sich mir mächtige geistige Kräfte, und machen fast alles gut.“

Emilie beugt sich bei diesen Details interessiert zu ihr.

„Du hast dein unproduktives Trauern bereits hinter dir?“

Statt einer Antwort erhält Emilie einen Hasen, der ihr den Mund schmal legt und ihre Anteilnahme so verstummen lässt wie die die gestrickten Ohren des Hasen schweigen. Ein nagendes Gefühl flößt ihr der Hase ein. Nach einer Weile ihn betastend, redet und nickt Emilie in die Runde.

„Er entspringt einer allzu bunten Phantasie! Mir wird kaum gelingen, mich daran oder geschweige zu der simplen Handarbeit aufzuschwingen. Die Talente in Nadelarbeit fehlen mir gänzlich. Ich widme ich mich lieber der Förderung von literarischen Höhen!“

„Dir und mir mag es unmöglich sein, geistige Gedanken einzufangen, indem wir etwas in ihrer Art zu nähen vorhaben“, stimmt ihr Eugenia zu, und trocken sich räuspernd. „Ich spiele auch sonst niemals mit irgendwelchen Kräften außerhalb meines Geistes, aber gebe zu, in die Herstellung von Spielzeug könnten mehr Impulse eingehen, als unserem ersten Blick erkennbar wäre. Täte aber ich das, würde ich Spott ernten.“

„Was du nicht sagst!“, ruft Hanna, verschluckt sich am Tee und japst ungeniert, sodass Tine, schräg gegenüber sitzend, ihr den Rücken klopft, damit sie die Kehle frei hüstele.

Nachdem Hanna sich gefasst hat, erneut ihrem Teller widmet, reicht Helena aus der Tiefe ihres Beutels den zurückgehaltenen Fuchs an Tine. Den in damit spielenden Händen betrachtend, hebt Tine spontan den Kopf, wobei ihr rotblonder Haarzopf vibriert wie die Rute des Fuchswelpen.

„Nichts taucht nur so auf, Eugenia“, rügt Tine verhalten. Nach einem Atemzug eröffnet sie Helena: „Meine liebende Seele federt hoch, werden mir geklöppelte Deckchen aus der Domäne der Frauen angeboten. Keine kam auf deine gewiefte Lösung solcher Materialien! Davon abgesehen“, Tine legt einen Daumen auf einen Bernstein, dann den Fuchs vor den Teller. Schon quillt Tiefe in ihre Stimme. „Stürzt du mitunter nicht ab? Lehren dich die Tiere etwa den festen Boden? Sag ehrlich, Helena.“

„Na! Der Sand rutscht unter allen manchmal weg. Ich genieße diese Arbeit, wie einen ersehnten ... mir erfüllten Traum.“

Eugenia duckt sich, zieht ihr Kinn herab, korrigiert sich jäh, und dreht sich zu Helena.

„Hoffentlich folgt kein böses Erwachen. Dein Traum ist auf Sand gebaut. Glaubst du etwa, du erhältst, wonach du greifst?“

Tine zerhackt heftigst ihr Plundergebäck am Teller. Die Krümel hemmen kaum ihren Redeschwall.

„Wage zu träumen, Eugenia! Du stampftest dereinst ob deines Wertes auf, deshalb wurdest du Witwe! Ich siege, indem ich mein sanftes Inneres nach außen gebe, meine Klärung, die, den Spieß umzudrehen.“ Innig zum Füchslein lächelnd, winkt Tine ab. „Nun, an anderen Einsamen leiste ich einen willkommenen Beitrag durch meinem Laden.“

Tine kaut ihr Gebäck selbstzufrieden. Aber Eugenia blinzelt sie voll Widerspruch an. Sie reckt sich, presst ihre Hände auf die Tischkante. Sichtbar wird ihre reservierte starre Haltung.

„Vernachlässigt Helena uns wegen der Zeitverschwendung für die Näherei, dann verpasst sie den Anschluss an die angenehmen Stunden mit uns. Sie sollte sich ohne das plumpe Gestricke als eine würdevolle Gläubige des Allmächtigen sehen, so, wie wir alle.“

Schon spreizt sie den kleinen Finger, hebt einen Bissen Streuselkuchen in ihren Mund.

„Mir wär es auch lästig, mich derart anzustrengen, wenn ich mir eine Idee zurechtnähe“, zischelt Hanna quer über den Tisch. „Deshalb werde du nicht ausfallend, Eugenia. Ja, Helena braucht gigantische Kräfte, will sie das leere Bett übersehen.“

Helena stöhnt auf, legt ihre Kuchengabel nieder. Trocken liegt ihr Mund. Von der Abweisung steigt ihr ein Schwindel in den Kopf. Die Welle geht aus von Emilie und Eugenia. Deutlich wie nie fühlt sie die Distanz zu ihnen, derer Gezeter um den eigenen Seelenfrieden, der sie nichts angeht. Klar im Gespür und sicher, vertreibt ein warmes Flattern in der Stirn den Schwindel. Saubere Begeisterung dringt machtvoll in ihr Herz. Derjenigen beim Ausstopfen gleichend, wenn sie das Heu fest einpresst, dann den Bauch des hübschen Zwergen zunäht. Gelassen lächelnd, wendet sie sich an Emilie.

„Meinen Optimismus stören eure Kommentare aber gründlich! Nun ja. Gerne agiere ich auch nach meinen Fähigkeiten bei anderem Tun. All das verbraucht viel Zeit, womit Eugenia schon Recht hat. Ich beehre dein nächstes Kränzchen nun wohl eher nicht.“

„Fehle bitte nicht sehr oft. Martha ist schließlich schon abwesend.“

Insgeheim stimmt Emilie erleichtert zu. Das Gespräch bislang trug kaum geistigem Austausch in sich. Plötzlich hakt sie nach, und dies keineswegs mit leichteren Gemütsbewegungen.

„Andere Aufgaben? Nähst du noch etwas?“

„Bernsteine bearbeite ich!“ Helena tippt an den Stein an ihrer Bluse, der unter dem Finger sein goldenes Licht erstrahlen lässt. „Der ist mein Kraftspender in Hingabe an Handarbeitskünste! Überlieferungen sagen, er reinige und lenke eine schöpferische Anlage, passe sie in die große Welt ein, schenke Eingebungen.“

Was sie offenbart, verpufft zu einem Nichts. Jedoch Emilie schnauft und öffnet empört den Mund.

„Humbug! Glaubst du, du bist eine besonders Mutige? Ständig gibt es Übergriffe auf Sammler!“

„Ja, ja, ja!“ Um innerlich nicht gar so zu brodeln wie ein überkochender Milchtopf, hält Helena ihren Bernsteinanhänger hoch und sich daran fest, nur nicht ihre Zunge. „Weise Dichter sagen, der größte Kampf ist, Talente freizusetzen. Ich bin offen für allen Lichtzauber an der Ostsee! Sie macht neugierig auf Schätze im Sand. Mein Schmuck sagt mir wahrhaftig, ich werde sehen, was er anregt!“

„Deine Wahrheit!“, erschrillt, stechend wie bei einem Ferkel, Eugenias Stimme. „Neugierde macht unglücklich. Du stürzt in Illusionen, und erfüllst nicht demütig die wertvollen Anforderungen eines normalen Frauenlebens!“

Schon reckt Hanna die Tasse, fuchtelt hoch und kreischt: „Normales hänge an das Kreuz! Spucke es nicht in unsere Tassen! Kritisiere ich dich, wie du an den Platz, an den du dich stelltest, Aufgaben bewältigst? Die antiquierte Sicht auf die Frauenrechte erschüttert mich zutiefst! Außerdem, der Bernsteinhandel gehört längst nicht nur Danziger Kaufleuten. Bedenke die Unsrigen, Eugenia!“

 

Ermattet vom Tumult ihrer Gedanken, lehnt Hanna im Stuhl, ihre Teetasse klirrt am Untersatz. Helena beißt die Zähne fest zusammen, legt kurzum und gewollt in ihre Stimme Irrelevanz.

„Hinter Klagemauern verkriechen sich Frauen ohne Courage und ohne Format, wenn ein Schnitt das Normale zerreißt. Genüge es mir, nur einem Haus vorzustehen, würde ich es erfüllen.“

Tine sieht mitfühlend zu Helena, faucht sodann Eugenia an.

„Helena erträgt ihre Lage, heiße ihr Tun gut! Tätige Hände schmücken das Leben couragierter, sehr talentierter Frauen. Was ist nur los! Hast du vor lauter Etepetete bei Bertholds den Glauben an dich verloren? Versuchst du, nüchtern den Schein zu wahren?“

„Na, na!“, wirft Emilie ein, und murmelt nach einer Sekunde gen Eugenia: „Auch mir erscheinst du ein wenig missgünstig. Gib dein Bestes, liebe Freundin! Ist es an dir, Streit auszulösen?“

Am Hals reibend, fixiert Eugenia das Wandgemälde. Angefacht von deren analytischem Betrachten, durchblickt sie, was sie bedrückt. Noch beleidigt klingt ihre Antwort.

„Generell nahm ich an, unter uns aussprechen zu dürfen, was ich zu allem an Wichtigem meine.“

Tine lächelt ironisch, von den Wangen bis zu den Ohren. Uns so spricht sie auch. „Brennen dir etwa respektvolle Worte auf der Zunge?“

„Oh nein! Keine soll Anerkennung in Frage stellen! So oder so ticken unsere Herzen gutwillig.“

Für diesen Hinweis Emilies verschließt sich Eugenia. Sie fühlt geradeso, wie sie es ihr auszureden versuchte, aber lenkt ein.

„Nun, sollte ich übers akzeptable Maß hinaus getreten sein, dann bitte ich sehr, vergesst ihr alle es!“

Hanna rückt am Stuhl, knirscht über die Dielen. Sie hüstelt ins Schweigen, tastet dezent an die Rolle ihrer braunen Haare, befingert dann am Ohr den in Silber gefassten Bernsteintropfen.

„Emilie, kann Bernstein denn mehr als nur schmücken?“

„Ein Thema, bei dem ich nichts zur Unterhaltung beitrage.“ Emilie drückt einen Zeigefinger vor die Brille an der Nase. „Johann plädiert dafür in lächerlicher Weise. Er findet bei mir keine verwandte Seele, erwartet er auch nicht mehr.“ Erröten steigt ihr ins Gesicht. Sie sinkt in nachdenkliches zum Fenster hinausschauen, lässt sich eine Minute, um Eugenias Blick einzufangen. „Bei Bertholds wirken sich Rangunterschiede aus. Selten nur ist sinnvoll, was die einreden: An dieser Klippe zu straucheln, zu stürzen, das wahre Sehnen zu verlieren. Jede Frau sollte dem Allerbesten folgen. Nichts wissen wir davon, was künftig Helena bestimmt ist. Sieh doch, die eigentliche Reiberei läuft im eigenen Inneren, wir sollten es miteinander unterlassen.“

Zufrieden, dem Gespräch ihren Stempel aufgedrückt zu haben, blickt Emilie in die Runde. Für sie ist das Spektakel am Ende. Leider bemerkt sie, wie interessiert Helena Eugenia bei einem Schluck Likör trinken beobachtet. Und schon lauscht sie Helenas Kommentar.

„Trinkst du andachtsvoll, dann kann dein Mund nicht beißen, Eugenia. Also ist auch dir nichts unmöglich. Nur deine Vernunft verhindert, dir etwas Abwegiges ans Herz zu legen.“

Tine entfährt helles Lachen und sie neigt den Kopf anerkennend.

„Über belanglose Kleckse zu schmunzeln, gäbe Fröhlichkeit!“

Vor ihrem breiten Grinsen duckt Hanna sich ein wenig im Rücken. Um so lockerer wird ihr Mund.

„Manchmal in diesem Winter wurde mir eigenartig zumute, von Ereignissen, die im Grunde mir den Humor gründlich verdarben.“

„Der Zahn der Wintermelancholie nagt an allen“, meldet Eugenia. „Eingesperrt in die vier Wände, ist mir Haus Berthold auch oft sehr eng von deren Ansichten. Hin und wieder verbleibt eine Minute für meinen Abstand. Die aber schmeckt bitter. Kein Gedicht gäbe die angemessene Ablenkung für mein Gemüt. Was mag ich groß anderes finden. Ach, ach.“

Eugenia seufzt schwer zu den Bergfelsen im grünen Almbild hinauf. Emilie lässt sich nicht täuschen, spricht eindringlich.

„Anhand der Güter der Freigeister tauschen wir übermächtige Gedanken aus gegen bereichernde. Entgegen aller Verbote, stelle die, die dich aufhalten wollen, Eugenia, in eine andere Ecke.“

Sich selber hört Emilie reden, so, als lege sie ein Gebot an den Teetisch, an dem die Teetassen ohne ein Klirren nacheinander gehoben und wieder abgesetzt werden. Rasch murmelt sie, damit sich die von ihr gepäppelte Harmonie nicht verflüchtigt:

„Martha nützen bereichernde Gedichte auch nichts. Weißt du, Eugenia, was Martha so alles schon zugestoßen ist?“

Hanna schnellt mit ihrer ganzen drallen Fülle vor, als ob sie den Braten schon rieche und eile für ein retten was zu retten übrig bleiben würde. Und sie reckt sich unbedacht, rempelt dabei Tine an, ruft gellend und wie besessen: „Passierte unserer geschätzten Martha etwas gar Grässliches?“

Von ihrem ungelenkten Rempler ausgelöst, prallt das Likörglas in Tines Hand hell klingend gegen die nahe ihrem Platz hingestellte zierliche Karaffe. Das Glas sirrt, zerbricht. Splitter regnen ans Tischtuch. Dunkelroter Brombeerlikör schwappt aus, färbt das Muster der Spitzen, läuft an die Tischkante, und zielt auf Tines grünen Samtrock. Tine wirft hektisch den gebrochenen Stiel auf die rote Verheerung und steht kerzengerade auf, wedelt mit der Hand über den Scherben, sucht schon am Rock nach Bruchstücken, schüttelt ihn dann aus.

„Von dir, Hanna, habe ich genug! Nichts als Scherben.“

Hanna verdreht die Augen, als ob der Himmel nun dran wäre. Doch Emilie ruft überlaut: „He, Rosa, schnell einen nassen Lappen!“

Mit Eimer und Besen in Händen stürmt Rosa herein, sie lauschte im Flur. Rosas Schwung verheddert den Besen vor Tine in die Bordüre, und beschert dem Schreck der Frauen mehr. Vor ihren Augen zwängt der Lappen unter die Spitzendecke, Teetassen wackeln. Unaufhaltsam in dem Desaster des Klirrens filigraner Gläser, der rutschenden Kuchenplatte, überfallen von Stofftieren, da zeigt Rosa Talent, und verscheut die Gäste. Irritiert wie alle, fasst sich Emilie kaum. Sie nimmt nach und nach die Stofftiere auf, drückt sie in Helenas Arme, drängt die Freundinnen hinüber zum Bücherregal.

„Gackert nicht wie alte Hühner, aufgescheucht im Picken! Derweil Rosa mit den Scherben klappert, erzähle ich euch von Martha.“ Im gleichen Atemzug deutet sie auffordernd auf die am Lesetisch stehende Spendenbüchse, ihr ein Rettungsanker für entgangenes Gleichmaß. „Kennt ihr ihre rothaarigen Kinder? Oh, unglaublich! Ängste erschüttern unsere Martha ...“

Die Freundinnen wühlen nach den Börsen und lauschen Emilie. Einzig Helena steht wie versteinert von der Gewissheit, Schweigen forderte Martha zu Recht, denn bei Emilies Version kann sie nur denken: Schürt sie Furcht vor Unglück? Unglaublich. Erzählt sie davon mit Gier? Na, dann stürmen Tratschtanten bald in Marthas Haus!

„Ist zum Davonrennen!“, murmelt am Ende des Berichtes Tine. „Kontrolleure geben wohl niemals auf. Mir verging der Spaß für heute, verabschieden wir uns.“

Hanna bewegt sich daraufhin bald in die Diele, jedoch tippt sie Eugenia auf den Arm, und fragt, laut hörbar allen, die sich in Mäntel kleiden: „War es ein Berliner Investor, den du gestern einließest? Wirst Grund gehabt haben, mich zu übersehen. Als ich durchs Mosaik der Butzenscheiben am Portal spähte, sah ich ihn ungeduldig den Schnäuzer zwirbeln. Grobschlächtig aber wirkte er trotzdem, wie ein Rübenbauer in elegantem Maßanzug.“

„Du meinst jenen Zuckerbaron vom Festland. Bemerkenswert an dem war nur, wie gutgelaunt Herr Berthold sich die Hände rieb, und sofort zu Villa Delbrück eilte, nachdem der gegangen war.“

„Also doch!“ Hannas Augen glühen. „Die brauen was zusammen! Wenn’s Licht angeht, wissen das alle. Immer mehr gewisse Herren drücken im Haus Kurth die Klinke. Manchmal stehen sie wegen des geplanten Casinos und anderer Geschäfte gar schon an, weil die Gemeinde mehr Geld hat, seit das Bernsteinhandelsmonopol fiel. Deren kostbare Präsente reißen mich zu Vermutungen hin.“