bernsteinhell

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Keuchende Stimmen nahen. Die Halbwüchsigen, zuvor lenkten sie die Häscher ab, steigen über die schneebedeckte Böschung. Im Lauf noch streifen sie ihre Beutel von den Jacken. Der Größere hockt sich nieder und rüttelt an den Schultern des Gestürzten.

„Du bist nicht zu uns gerannt“, raunt er vor den wirren Augen, aber ändert damit nichts.

Der Rotschopf stöhnt nur kurz noch. Bewusstlos sackt er ab, gibt alle Spannung frei, sein Kopf sinkt zur Seite. Eine Beule wächst im Haar hoch auf, knapp vor der Schläfe, dem Ohr.

Erschüttert sinkt der Kleinere, herangekommen, auf die Knie, kauert mit hängenden Armen daneben. Er schlüpft aus seiner Jacke, bedeckt die blutige Hose, lagert den Kopf in seinen Schoß und stülpt ihm seine Mütze über.

„Lieber Bruder“, murmelt er leise. „Vater kommt und holt uns auf der Postrunde hier ab.“

Sein Wispern hallt ringsum in die frostkalten Böen, und erzeugt in Helena ein grausiges Erkennen.

„Marthas Söhne seid ihr? War der andere auch ein Bruder?“

„Nee, der ist von Bansin. Wir wechseln ab, wer aufpasst.“

Auf und ab blickt er mit weiten Augen, vom Kopf im Schoß zu Helena, die eigentlich auf mehr wartet.

„Wohin habt ihr denn aufgepasst? Eure Warnung kam zu spät, Betrunkene waren das keine! Ich kann kaum glauben, wie naiv ihr seid! Nun wisst ihr, wie das Leben spielt! Euer Bruder wird sich obendrein unterkühlen.“

„Soll ich ihn wach machen?“ Er klatscht ihm sogleich seine kleine Hand auf die Wange.

„Lass! So merkt er nicht, wenn wir ihn verfrachten müssen“, erwidert der größere Bruder, der schon aufspringt, sich umschaut in beiden Richtungen. Er scharrt mit dem Fuß im Schotter und reckt das Kinn, gerade so als mache ihm der Vorfall nichts aus, doch zucken seine Lider.

„Wir wurden nie ausgeraubt. Der Bansiner bezieht Prügel zum ersten Mal. Pech, die zahlen keinem von uns ein paar Pfennige.“

„So kaltschnäuzig? Du warst doch auf ihn angewiesen! Hätte dich treffen können.“ Helena knotet ihr Kopftuch ab, reicht es ihm und lächelt aufmunternd. „Bevor das Warten kein Ende nimmt, und er noch mehr Blut verliert, lege ihm einen Pressverband an. Das lerne aus eurer Misere. Roll deinen Beutel als Kompresse fest zusammen.“

Er scharrt abwägend im Schotter. So oder so haben ihm die Freundinnen der Mutter nichts zu sagen. Doch ein Glück im Pech fühlt er, als seine gesammelten Bernsteine wie Hagel prasseln, hinein in den Beutel des Bruders. Er kniet sich gehorsam neben das blutige Hosenbein, und vermeidet es, genauer hinzusehen.

Nach einer halben Stunde des Bangens galoppieren die Pferde der Postkutsche endlich heran. Die zügelt der Fahrer im Nähern. Helena sieht er an, seine Söhne. Steifbeinig steigt er ab und nimmt den Verletzten in die Arme, hebt ihn in die Kutsche.

„Wärmt ihn mal“, keucht er, rau vor Zorn, durch die Zähne.

Helena mag sich nicht vorstellen, wie er auf der Fahrt heim wüte, der Morgen des Sammelns von aus der Ostsee ausgewaschenen Bernsteinen hätte seinem Sohn das Leben kosten können. Sie eilt heim, bei jedem Schritt bemüht, die Begegnung zu vergessen.

Während sie die Hintertür öffnet, drängt schon eine Gewissheit ihrer selbst in Helena auf. Und Mut für die Stiege in der Vorratskammer, um hinaufzusteigen unters Dach, selten benutzt im Winter.

Dumpf im Schulterschlag, stemmt Helena die Bohlentür auf in den Dämmer der Sparren, und hockt sich am Giebelfenster vor die Seemannstruhen, öffnet die ihre. Darin lagern in der Schatulle Urahnin Elis Segeltuchbeutel, von ihr an der Landverbindung der Halbinsel Hela mit Bernsteinen gefüllt.

Gedankenvoll schaut Helena auf den geheimen Schatz, zu dem ihre Mutter riet, er halte die Sorge um das nächste Stück Brot fern. Verbrauchen dürfe sie etliche Bernsteine, sollte neue sammeln, sobald sie könne. Den Schatullendeckel mit der Rosette streichelt Helena wissend, nach dem Sturm sei eine gute Zeit zu sammeln. Ein Finger zentriert sich am Mittelstein der Rosette, am Ritzmuster der Rune, und spürt, mehr als erkennbar im wenigen Licht vom Fenster, die Kerben des seltsamen Zeichens. Ungleich lange drei Linien, spitz über Eck stehen sie über Kopf, als würden sie den Urquell des Bernsteins anheben, und zum Sieg über die Not verhelfen.

So winzig fein ihre Macht, dankt nun Helena still dem Urgroßvater, auf seinen Handelsreisen nutzten ihm die Runen. Ihr eröffnet der Moment, was ihr Herz für nötig zu erkennen erachtet.

Helenas schmale kalte Hand streichelt vorne den Deckelrand. Ritzmuster an drei Steinen verlaufen in ungleichen Formen, und vermitteln der sinnlichen Weite ihres Herzens den Anblick unermesslicher Tragkraft. Rechts am Eckstein sind Kerben dem Mittelstrich jeweils unten und oben angefügt, weisen spitz nach außen wie bei einem Haken, der etwas aufhängen und erfolgreich tragen kann, etwas sehr leicht auswechselbares. Helena sieht spontan die immergrünen Zweige der Eibe, spitze Nadeln. Tief drückt das Bild in ihre Seele, und vor die Hindernisse vor dem Erfolg mit ihren Stofftieren. Doch wie das Immergrüne und deren Duft, atmet sie den Anblick der Rune ein. Sie schöpft Mut zum Erfolg aus ihrer Zukunft und aus fernen Orten, an denen Wunder geschehen.

In der Ecke unten links liegt ein Stein, dessen Linien ihr unheimlich sind. Mystisch kreuzen dort zwei Mittelbalken die lange Kerbe. Wie schon oft, kreiseln sie Helena vor Augen. Not steigt ihr auf, sperrt als Kloß den Hals. Zuerst. Den Kloß zerschlägt kraftvoll ihre Atemwärme. Notstand muss ausgeräumt werden, Schutz und Geborgenheit sollen innen leben. Wie das Licht eines klaren Eiskristalls kann ihr Unbeschwertheit dazu verhelfen. Bald betrachtet sie genauestens die Mitte der Deckelkante, darin den Bernstein mit kreuzenden Linien zwischen aufrechten Kerben, ähnlich einer Fahne, seitlich weist ein Dorn nach links. Helena richtet sich aus, wächst ein Stück in diese Bindung hinein, die sie vorhat. Und sie räumt aus, was in ihr noch von dem Unnötigen im Gemüt sie bremst und zwickt, als gäbe ihr gerade diese Rune die Resonanz auf kommenden Geldsegen.

Helena versteht es, klappt den Deckel zu und drückt daneben Joos’ Truhe auf, ertastet Dokumente und eine sperrige Socke. An der abgewetzten Ferse lugt Papier hervor. Sie legt den Strumpf auf ihren Schoß. Tiefer im Truheninneren tupft sie auf einen zweiten, nachgiebig voll. Sie löst den Knoten, und steckt die Hand hinein. Leichte Bernsteine rieseln, deren Leuchten sie ahnt.

Plötzlich sieht sie Joos an der Tür auf Socken, und hört ihn verdreht reden von seinem Notgroschen. Die Not haue ihn aus den Socken, und, wer ohne Schuhe gehe, stehe unter einem schlechten Omen, würde sich bald keine mehr leisten können. Doch das war oft gehört, und jetzt sowieso nur lästig und hinderlich. Sie verscheucht ihn mit abwehrender Hand, knallt den Deckel auf seine Truhe. Die beiden Wollsocken in ihren vor Kälte steifen Fingern, steigt sie die Stiege herunter.

Joos’ Gold der Armen kippt sie am Tisch aus, bedeckt die halbe Platte mit seinen Notgroschen, und entschließt sich vor diesem Reichtum, noch vor Beginn ihrer Arbeit im Lebensmittelladen fahre sie nach Stralsund. Die Stofftiere müssten doch in einem Kaufhaus unterzubringen sein, und nachfragen um Geschäfte mit Bernstein könnte sie auch gleich dort.

Ihren Mantel wirft Helena auf den Haken an der Küchentür. Er baumelt, indes sie im Kamin ein Feuer anzündet, den Wasserkessel füllt, die Teekanne vorwärmt. In die Kök hinein zieht allmählich Wärme, die ihre Unruhe kaum lindert. Vieles bringt sie aus dem Lot. So, wie in der anderen Socke die Zeitung, und das ausgewickelte Intarsienkästchen. Unter dem Datum des Ostseebeobachters prangt eine in Fett gedruckte Zeile: Dampfer sank nach Kesselexplosion. Ja, ja, Joos fischte nach Treibgut, geht ihr auf. Und sein Bangen, die alte Flause, empört sie obenauf wie seine lange ertragene Lebenslüge.

Kurzum öffnet Helena den Schließhaken. Der Kasten zeigt ein Pfeifenbesteck in Laschen, wellig vom Seewasser. Sie klappt den Einlegeboden herauf. Wo sonst Tabak aufbewahrt wird, da liegen trübe Reichsmarkmünzen. Gestockt sind sie, doch blinken blank wie ein Berg von reinem Gold für Helenas vollkommenes Dasein, feuern an gegen den Glauben an Mangel, und für einen nächsten Schritt.

Schauer rieseln warm über Helenas Kopf und Ohren, die sich ausrichten zum Kamin. Na gut, dessen rissiger Schlot bietet ein Versteck an. Sie reckt sich hinein in den rußigen Rauchfang.

In der Nacht wärmt eine Kanne Tee Helena. Dabei strickt sie so nachgiebig wie sie an Martha denkt, die um das Leben ihres verletzten Kindes bangt. Wie sie, vor der Gefahr. Aber könnten die Häscher überall gleichzeitig sein? Eine Witwe, von Fischweibern gemieden, geht hinaus vor die Tür und an den Strand.

Am nächsten Morgen folgt Helena der Chaussee ostwärts durch den Wald, wandert am Rückerweg zur Bucht vor Swinemünde hinab. Der Kiefern horizontal gewachsene Wipfeln stimmen sie durch den nachgiebigen Zauber daran auf ein Quäntchen mehr von Zuversicht ein. Und den wolkenlos hellblauen Himmel darüber bittet sie, er möge ein Einsehen haben, auch für ihren Mut.

6

Ein eisiger Ostwind bläst ihr entgegen am Ufer. Vor der Wasserlinie liegen Muscheln und alljährlich angeschwemmte kleine Bruchstücke von Bernsteinen. Helena beugt den Rücken, geht zur Linken voran. Die auslaufenden Wellen plätschern, säuseln den Kopf frei. Anderes blenden ihre Augen aus, hellwach im Acht geben auf den Sand.

An einer besonders ergiebigen Stelle klaubt Helena aus den Muscheln winzige Stücke in gleichstark gelber Farbe. Und einige Schritte weiter, als die Bucht heller in der Morgensonne daliegt, dreht sie tatsächlich einen handtellergroßen Brocken um.

 

„Groß, wundervoll! Nur wer sehen kann, entdeckt Schönes!“

Helena wischt die Sandkrümel mit kalten Fingern ab und hält den Fund ins Licht. Der winzige lichte Moment reicht ihr. Über alle Maßen begeistert hüpft sie wie ein Kalb auf der Weide, vor lauter Spaß am Finden satt, am Dasein, von Sorgen erleichtert. Hoch auf reckt sie die Arme, zerrt am Mantel vor Erregung. Ihre freudige Überraschung entlädt sie zwischen Händen und Füßen im Herumhampeln mit herzig sich anfühlenden Luftsprüngen, die ihre Existenz ehren, reich an Esprit im Kern.

Einen hüpfenden Sprung aber setzt Helena aus und es schlägt eine auslaufende Welle am Mantel hoch; sie springt nicht rasch genug fort. Eiskalt überflutet es schon ein weiteres Mal die Stiefel. Sie überhört den Reiter, hebt den Kopf erst, als der nasse Sand platscht, und ihr entgegen der weiße Fleck am vertrauten rehbraunen Gaul galoppiert. Oben auf sitzt Ansgar, für Joos ein recht vertrauter Freund aus Schuljahren, und er zügelt sein Pferd.

„Helena auf Beutezug!“, spottet sein Bariton.

Ihr Glück verschwindet in Ernsthaftigkeit, und ihr Fund jäh im Beutel am Arm, und sie höher auf den Strand. Wachsam erwartet Helena fast, was am Vortag geschah, wähnt ihn aber doch zu kennen.

„Weswegen bist du hier? Reitest du zum Vergnügen aus?“

„Flucht vor Friederikes Scheuerlumpen. Es kommen noch keine Sommerfrischler, deren Kutschen ich repariere und die mich von Rike fernhalten. Der Haussegen hängt schief!“

Er stöhnt kehlig. Erschreckt tänzelt das Pferd seitwärts, reagiert dann auf Ansgars Klopfen an seinen Hals, wirft aber schnaubend den Kopf mit der herzförmigen Stirnraute hoch. Als er dann ruhig steht, blinzelt Ansgar zu Helena.

„Steige ich auf Rikes Tiraden ein, schläft keiner nachts ruhig. Sie lamentiert vor Ungeduld, sitzt auf glühenden Kohlen, will endlich den Schankraum eröffnen. Bis dahin, bearbeite ich Bernsteine.“

„Ansgar, zu ähnlich seid ihr zwei euch! Aber flüchtest du nochmals, dann vor die marode Luke an meinem Käsekeller. Mein essbares Gold sollte bis zum Verkauf gesichert sein.“

Zwischen den Mützenklappen, die seine Wangen vor dem Frost schützen, blitzen tiefblaue Augen auf. Helena versteht, er würde es sofort. Doch sie blinzelt ins silbrige Licht über der Bucht, und weist mit einem Kinnruck gen Osten.

„Dahin reite, ich kehre um und sammle am Rückweg. Meine von Seewasser nassen Stiefel werden eisig kalt. Komm später, ja?“

Ihn hört Helena schnalzen, dann ostwärts fort galoppieren, um wohl an der Strecke zurück dann vom Pferd zu steigen. Eine Handvoll wie Perlen kleiner Bernsteine sammelt sie noch, bis im Blick voraus Ahlbecker Dächer liegen. Auch vermittelt ihr der Strand, nichts Außergewöhnliches wäre übrig, es klaubten schon Andere ihre Ausbeute nach den Sturmnächten heraus. Und inzwischen schmerzt ihr der Rücken vom Beugen, die Füße in den patschnassen Stiefeln sind gefühllos. Quer durch den Acker stelzt Helena, und strauchelt oft, nur noch in der Lage ihre Schritte langsam und maßvoll zu setzen. Aber es blinken im Gemüt die Hopser vom Morgen. Helena staunt über sich. Sie hatte schon leichte Beine! Vermehren sich ihre Glücksmomente doch noch?

Nachmittags prescht Ansgar heran. Sie winkt ihn zur Westseite. Nach genauem Betrachten sagt er zu, er hole die Kellerklappe im Pritschenwagen ab und zu sich. Er reibt seine verfrorenen Hände.

„Haste Tee zum Aufwärmen?“

Helena nickt. Ihr nach stiefelt er auf sandigen Sohlen, plumpst auf einen Schemel am Tisch, knöpft seine Jacke auf und räkelt sich. Metallischer Dunst entweicht seinem Wollpullover, registriert Helena fraglos, und füllt Tee in seinen Köppen.

Ansgar dreht den hölzernen schmalen Kugelstab im Honigtopf, ein bernsteinheller Faden rinnt dann in den dampfenden Köppen. Bei einem bedächtigen Schluck daraus, entschließt er sich, nicht auf Helenas desolate Situation einzugehen, nur auf diese Begegnung. Er reckt eine schwielige Pranke.

„Sieh, ich erlitt ein bedauerliches Missgeschick.“

Er denkt an seine Bottichwaschmaschine. Sie gleicht einem voluminösen Butterfass, an dem er seit Tagen Teile einpasst, schon Walzen daran sieht, die das Wasser aus der Wäsche pressen. Ja, nicht nur Amerikaner erfinden derlei und mehr andere Maschinen. Schon verklärt ein Lächeln seine Züge.

„Schiet passiert eben vorm Ende.“

„So? Haste etwas Geniales erfunden?“

Er krumpelt seinen Rollkragen, streift über seine Kehle.

„Ich schnack nicht vom Braten, bis die Sau hin ist. Gedulde dich, ich bearbeite Bernsteine. Dafür gibt es Bares - fahre ich im Sommer für Lohn zur Fähre - oder manches Eisen auf diese Art.“

Helena kennt seine Art von Geschäfte-machen aus dem Geplauder mit Friederike und kichert auf, auch, weil ihr Herz auf einmal laut und unruhig klopft. Rasch hebt sie ihre linke Hand mit den zwei während dem Nähen zerstochenen Fingerkuppen.

„Auch ich probiere Neues, mehr Kleinigkeiten schaden meinen Fingern kaum weniger! Es dauert ja noch lange bis zur Tag- und Nachtgleiche. Ich übernehme, bevor mich mein Land im Frühling zum Beackern hinausruft, auch von Joos das Bernsteinpolieren.“

Ansgar verschweigt, was er zu beidem meint. Eilends trinkt er vom Tee, räkelt sich dann in das schräg einfallende Licht.

„Wird lausig da draußen, ich will heim. Bleibe du nur in der Wärme hier sitzen.“

Helena hört ihn, und seine Zurückhaltung, fortreiten. Eine ganze Weile näht sie, bis in die windstille Nacht hinein, viele kleine Ohren den gestrickten Kälbchen an. Auch an ihrer Unruhe denkt sie herum, sinnt und rätselt, doch nichts vertreibt ihr das dröhnende Herzklopfen. Und so arbeitet sie hellwach bis weit nach Mitternacht. Es dringt kein Laut von außen ein und nichts ins Gewirr des Unbekannten, in dem goldene Bernsteine leuchten wie ein ewiger Sommer, und einen Reigen tanzen durch ihre wandernden Gedanken. Auch hinein in die Frage, ob sich etwa ein Wetterwechsel ankündige, der mehr Februarkälte bringt? Oder sollte sie das Feuer schüren und bis zum Morgen weiterarbeiten? Ach, das ewige Wasserschleppen. Was gäbe sie für einen Ofen, der das Waschwasser anwärmt. Ob Ansgar so etwas installieren könnte? Er dient seinem Genius, ihm würde sie gut zureden ... Je früher sie loskomme, um so eher treffe sie ihn.

So geht es zu in ihrem Gemüt, bis die Morgensonne durch die Konturen im Wäldchen aufsteigt. Ein blauer Schimmer liegt auf der Schneedecke, als Helena an knirschenden Sohlen westwärts eilt. Bald an der Ahlbecker Chaussee dringt Kälte unter ihre Röcke. Durchfroren biegt sie ins Dorf Bansin ein, dessen wenige Katen liegen in den Wiesen seeabgewandt hinter dem Anwesen des Wagners Ansgar.

Mit der Faust schlägt Helena mehrmals an die Pforte. Kurz darauf und hinter dem Stalltor ertönt eine Antwort. Sogleich scheppern die Torangeln. Ansgar öffnet spaltweit und zieht Helena herein, sichert das Tor mit dem Schieberiegel.

„Wunderte mich, kein Hufklappern gehört zu haben. Notfälle versauen bloß den Tag. Pressiert es dir mit der Luke?“

Helena haucht an die Kälte in den Händen. Sie mustert seine graue, schlampige Wolljacke, und riecht den von der klaren Luft getragenen metallischen Geruch, der ihr entgegenschlägt.

„Die nicht, Ansgar.“

Er reibt an seiner Kehle, geht aber voraus der leeren Boxen im Stall. In der letzten scheuert sich der Kaltblüter an einem starken Ast, bevor seine Hufe durch die Streu schleifen, er am Gatter schnauft. Flache Klopfer gönnt Ansgar ihm, streift sachte auch über die Nüstern, das weiße Herz an der Stirn.

„Mein Freund vermisst Kumpel, hört er uns Lüüt. Rike liest schon lange im Ostseebeobachter. Komm weiter zur Werkstatt.“

Er geht über die Lagertenne. Dort verstauben allerlei Blechstapel, auf die das Dämmerlicht genauso fällt wie auf geformte Gussfüße, die Tatzen ähneln, von Helena entdeckt. Ansgar folgt sie durch eine Tür. Rauchtrüb flirrt es vom Kamin darin und längs der Wände, angefüllt mit einer kreativen Ordnung von Speichenrädern und schmiedeeisernen Radbändern.

„Schau dich nur weiter um, Helena.“

Ansgar faltet, angelehnt an den alten Schleifstein, ergeben die Hände. Helena tritt hinzu der mit Zeug behäuften Werkbank, knöpft den Mantel auf, legt ihn ab. Während die wohlige Wärme allmählich die Kälte aus ihren Gliedern treibt, und ihr Blick mehr erfasst, entfährt ihr:

„Was ist denn das?“

Abwägend äugt Ansgar zu dem Monstrum, um das herum gebogene Bottichplanken am Boden liegen. Seit der Frühe prickeln fertige Ideen im Nacken. Helena stört seine Schaffensphase.

„Das wird eine Waschmaschine, aber deswegen kamst du nicht zu mir, sagt mir mein Genius.“

Ansgar wischt über die Kante, an der Helena lehnt, staubt gelbe, ölige Krümel an ein Hosenbein. Er tippt auf die winzige Kurbel eines Handbohrers, und winkt Helena. Er stellt sich vor ein aufgebocktes Fass mit Kurbel.

„Bernsteine vom gestrigen Fund liegen darin. Schau zu. Eine Handvoll Sand gebe ich hinein, kurbele sachte. Die Poliertrommel läuft rund wie ein Rad, arbeitet feiner als mein Schleifstein.“

Oder wie Joos von Hand hinbekam, ergänzt Helena still bei sich, und beobachtet Ansgar einen Hebel kippen, das Fass in ein Sieb auf einem Eimer entleeren, die Bernsteine auffangen.

„Ich wiederhole es manches Mal , bevor sie mir glatt genug sind. Einzelne Akkurate klemme ich in den Schraubstock und bohre an günstigen Stellen ein Loch für Ketten, um sie aufzufädeln. Es braucht auch eine Menge an Druck, soll die Welle schwingen und damit die Bohrspitze dann wie eine Nadel hindurch gleiten für ein sehr feines Durchzugsloch.“

Ansgar mustert das Schüttgut, füllt alles zurück. Er nimmt eine Zange vom Werktisch, spielt mit deren Hebeln, wiegt sie und will etwas nachdrücklich betonen. Flugs sieht er in den kalten Morgen hinter dem Hoffenster, schürzt sodann die Lippen.

„Unsre Bansiner haben ständig Ärger mit den Strandwächtern. Die sind eine Plage wie die Krätze, bedienen sich der Angst der Sammler, nehmen sie in die Zange und bereichern sich, verdienen sonst ja nix. Wer in deren Fänge und Bösartigkeit gerät, muss ein Leben lang Anholen.“

Helena sieht es bildhaft vor sich. Ansgars rauer Ton sticht ihr ins Herz, dennoch weicht sie nicht aus.

„Du begibst dich doch auch in Gefahr!“

Plötzlich schwillt Ansgars Hals. Sein Innerstes erkennt den Weg, ein Ventil. Ansgar schleudert die Zange auf die Werkbank. Es scheppert, Staub flirrt von den präzisen Bauteilen auf.

„Mir zuckt die Hand, denke ich an diese Kerle! Versteh doch, wie sie sein können! Trifft mich deren allgewaltige gegenwärtige Kontrolle, käme damit das Aus für meine Ideen.“

Zur Waschmaschine federt sein Blick, an der er weiter mache nach einer Zugabe im Ausreden, um Helena umzustimmen. Er reckt sich, krempelt die Jackenärmel hoch. Doch sacken ihm die Schultern schon ab. Sie wird seine Warnung nicht schätzen.

„Die Schieber bei der Fähre verraten nicht mich, brauchen mich anderweitig. Verkaufst du dort ein Mal nur, dann wirste ausspioniert, bevor sie dich berauben und verpflichten. Bernstein macht Arme noch ärmer.“ Er reckt eine Hand, wedelt ablehnend. „Solltest den glücklosen Jahren entkommen - die gehen unter die Haut!“

Helena dreht die Kurbel der sandigen Tonne, hört Bernsteine darin und in ihren Gedanken klackern, und hebt flehend die Hände.

„Ich schuftete für Zwei und werde das auch für Bernsteine genauso tun! Seit mir Joos fehlt, zerrt der große Lenker oben vorwärts. Gibt es etwas anderes, was mir etwas Besseres schenken könnte?“

Ansgars Stirn zuckt. Er zieht seine Schlüsse.

„Joos würde sagen, bist närrisch!“

„Den lass außen vor!“ Unbeirrt tippt Helena auf die Kurbel. „Magie liegt darin. Und mir eine große Arbeitserleichterung.“

„Für dich allenfalls, aber zu mir kommt gefährliches Volk.“

Ein Blitz gnadenvoller Zuversicht steigt in Helenas Sinne.

„Bau es in meiner Kate auf. Wirst du es erledigen?“

Seinen Nacken krault Ansgar und erfasst, welche Last von ihm abfällt, trotz des aus gut gemeintem Grund nicht Gesagten. Dann betrachtet er angelegentlich seine Fingerkuppen.

„Bist gewarnt! Beiß nicht nachher in meine Hand!“

„Aber nein, keinesfalls! Ich eile jetzt aber noch zu Rike.“

Mit dem Mantel auf dem Arm geht Helena zur Küche, wo am Tisch Friederike die Ellbogen auf die Zeitung stützt. Knisternde Wärme und der Duft nach frisch Gebackenem umfangen Helena. Ihre Augen richten sich auf den schmalen Kochherd, auf kompakte Eisenfüße.

„Solche Ofenklappen sah ich bisher nur in Lines Kök, in der Villa Achterkerke. Kannst stolz sein auf deinen taffen Bruder.“

 

Friederike nickt bedächtig. Sie zieht ihre Brauen hoch und Helenas Aufmerksamkeit auf den Stuhl neben sich, klopft daran.

„So früh kommst du? Euer Gemurmel hörte ich schon.“

Tief geht die Freundschaft, die sie seit Jahren verbindet, macht Helena sich klar, und setzt sich, krumpelt den Mantel im Schoß in ein handliches Bündel. Ihre Stimme gerät ins Flehen.

„Rike, sei so gut, steh mir bei. Ansgar stellt sich quer! Ich brauche Bernsteinwerkzeuge. Obwohl ich unsicher bin, ob ich Joos’ Geld in den Wind werfe, soll Ansgar meine Geräte bauen.“

Für einen Moment weitet Friederike ihren Mund, und drückt den Hals hinunter in den Stehkragen ihrer Wolljacke. Bald flackert fein ein Grinsen über ihre Wangen.

„Wirf das Geld ruhig zum Fenster heraus, ich sehe es schon zur Tür hereinkommen. Du willst also Bernsteine schleifen. Joos kann es dir nicht mehr verbieten. Dir ist das Sammelrisiko klar?“

Helena winkt ab, und legt in ihre Stimme tiefere Töne.

„Schlimmer wäre es, sonst nichts tun zu können, womit Groschen ins Haus kommen. Bald, und zukünftig.“ Sie dreht die Augen zur Decke der Kök. „Passiert etwas, ist Aufregen dann früh genug.“

„Stimmt ja. Ansgars Talent mit den Geräten ist auch genial, und schluckt doch viel Zeit. Er bleibt in Takt, ich passe auf.“

Friederike neigt sich neben den Tisch zu einer Flasche und blinzelt mit ihren Ansgar ähnelnden, tiefblauen Augen zu Helena hoch. Den Sanddornschnaps legt sie zum Mantel auf deren Schoß, als wäre damit schon alles erledigt.

Helena blickt zum Herd, und fasst noch einmal Mut.

„Ansgar kann mir so einen bauen und einen Badeofen dazu! Wo Joos nun fehlt, muss nichts in der Kate altbacken bleiben!“

„Auch das!“, prustet Friederike, „kriegt er hin. Herrlich ist es, bei Pladderwetter wegen Wasser nicht hinaus zu müssen! Komfortbäder sah er längst woanders. Er weiß, wie mich sein Dreck plagt.“

Unvermittelt reißt Ansgar die Küchentür auf.

„Mach die Luke dicht, wir haben zu schnacken!“, schleudert Friederike ihm entgegen.

Ansgar tritt dennoch ein, und würgt unterdessen an dem, was ihm in die Kehle steigt. Er saugt an seinem soeben gequetschten Daumen, reckt ihn dann demonstrativ, um mit schmerzverzerrtem Gesicht zu brummen: „Rike, hole den Lütten für Kleinkram.“

„Prokelst du herum, bis am Schluss was schief geht, liebster Bruder?“

„Will fertig werden“, zischt er, trottet wie ein Bär vor den Spülstein, speit in den Ausguss. Unter dem Hahn spült er seinen Daumen, senkt prompt sein Kinn vor seinen muskulösen Hals.

„Schiet up!“, röhrt er, kehlig tief vor Kälteschmerz.

Bis ins Mark hinein schießt das Friederike. Sie starrt auf Ansgars Hausjacke und seinen Hals, der im Nacken untergeht. Ändere er sein grobes Gebaren, wenn sie in seine Wunde steche? Gehässiges aus dem Schlund geschwisterlicher Verehrung mag sie abfeuern vor sein Würgen wie ein rückwärts frühstückender Kater. Säuerlich blickt sie Helena an, deren Wangen in verhaltenem Lachen flattern. Das genügt Friederike für einen Rückhalt. Sie greift neben sich ein Küchlein mit gebräuntem Zucker von der Platte, und schnuppert am Butterduft. Der erhellt ihr Gemüt. Schon kauend meint sie:

„Bediene dich, Helena!“ Sie schiebt ihr das leckere Gebäck vor, jedoch Ansgar nur eine Frage.

„Wozu brauchst du den Lütten?“

Ihr Verschnupftsein schwingt mit, Ansgar erwartete Mäkeln. Hellhörig, wickelt er ein feuchtes Tuch um seine malträtierte Hand, geht dann bedächtig in zwei Schritten zum Tisch.

„War massig Kraft inne Zange von vorher. Der Lütte soll eine zerbrochene Schaubenmutter unterm Rührflügel rausfummeln.“ Sturheit quillt in seine Kehle, schlägt durch zur Schwester. „Nu gah rut!“

Friederike steht am Stuhl auf. Ein meliertes Tuch legt sie sich über ihren grauen Haarzopf. Fusseln stieben in ihren Ruf:

„Deine Verbitterung schlucke selber! Quäle vor allem den Nachbarsohn nicht mit deinen Allüren!“

Sie trottet zur Hintertür, öffnet sie spaltweit der Kaltluft von draußen. Bevor Friederike hinaus geht, dreht sie sich zu Helena.

„Es wird ein halber Orkan! Im warmen Süden spazierte ich in der Nacht, unter sonnenbeglänzten Orangen und gelbfleischigen Aprikosen inmitten grüner Blätter. Irgendwann bin ich im Winter dort. Passt schon. Ja, mein geniales Träumen regen unsere Ahnen an. Un wat allens in’n Kopp spökt ...“

Die Tür fällt zu, zugleich mit dem Drücken der Klinke. Nach einer Weile des Wartens, kehrt Friederike zurück. Auf ihrem Gesicht zeigt ein erstauntes Flimmern, weshalb sie allein kommt.

„Vergiss den Lütten! Kranke Kinder betüddeln die sonst nie. Wegen der betretenen Mienen drüben meine ich, da geht eine arge Kinderkrankheit um!“

Helena schwant etwas, das Ansgars Wogen nicht steigen lassen sollte! Ihre Hand fährt hoch.

„Ansgar! Meine Finger sind nicht so drall wie deine.“

„Dann komm!“, tonlos klingt es. Seine umwickelte Hand ballt er, heraus fliegt keine Zange.

In die Werkstatt folgt ihm Helena. Friederike trottet nach, baut sich bei Helena auf, die schon halb im Bottich hängt, und vergisst dabei ihre Vermutung. Ihre Gedanken wandern zu dem am Morgen in der Zeitung Gelesenen, es muss laut heraus. Und damit um vieles mehr meinend, grinst sie Ansgar an.

„Im Süddeutschen laden sie zum unterhaltsamen Schauwaschen ein, und beschnacken dabei, wie viel Feuerholz es einspart, wenn in der zubereiteten Flotte mehr Füllungen gewaschen werden. Bald sind Glocke und Bleuel fort! Nie mehr Wäsche durch die kochende Lauge ziehen! Eine Revolution im Waschküchennebel. Aber, wie es aussieht, sollte der Winter noch dauern, oder?“

„Der Sommer kommt, damit ich ungestört bin, wenn du im Turm die Wirtin spielst! Mein Tüftlerhirn döst nicht, du vor allem hast etwas davon. Ich erfinde noch einen Kipphebel für ein Rohr, um alles Waschwasser zur Grube zu lenken!“

Helena hebt ihren rosig getönten Kopf aus der Maschine. Sie hält vor Ansgar die Bruchstücke der Schraube hin, und damit zugleich ein Schmunzeln.

„Tragt ihr einen Wettstreit im Sticheln aus? Verstehe ich es recht, hat dein Genius dunkle Seiten?“

„Weil es nicht vorangeht. Quakt Rike, stirbt meine Gutmütigkeit. Schätzt sie, was in mir steckt?“

Seine umwickelte Hand droht Friederike, die nur grunzt. Sie fühlt sich längst ebenso unverstanden.

„Doch, ich halte zu dir! Aber seit dich die Maschine quält, führst du dich wie ein Wetzstein auf, an dem ich mir die Zunge zu schärfen habe! Sogar Helenas Besuch vergällst du mir.“

Sie nimmt Helena beim Arm, dreht sie zur Tür.

„Komm zur Kök, erzähle mehr. Danach fährt dich Ansgar heim, damit er mir aus den Augen ist, bevor die Fetzen fliegen.“

Nach einer Stunde und ihrem Gespräch zuversichtlich, steigt Helena auf den Pritschenwagen und reckt ihre Beine zu Ansgars unter die Fellplane. Ihr Ende zupft sie um sich und setzt sich vorsorglich darauf. Der Wind frischt auf, peitscht bitterkalt. Helena lauscht den ebenso klapperkalten Huftritten des Pferdes. Der Kaltblüter genießt es, vom Stall heraus zu sein.

Unterwegs erzählt sie Ansgar ihre zusätzlichen Wünsche nach einem Herd und Badeofen, und atmet mühsam gegen seine Anspannung an, wegen ihrem Entschluss für eine so umfangreiche Anlage. Als sie ankommen, löst er mit gezielten Hammerschlägen seiner heilen Hand den von Rost zerfressenen Scharnierzapfen aus der Halterung, klemmt dann die Kellertür am Wagen fest. Voller Ahnung und Grübeln ob Friederikes zu erwartende Litanei fährt er nach Bansin. Für ihn folge fürderhin keine optische Täuschung, bedecke die halb fertige mechanische Bottichwaschmaschine bald der Staub.

Später, in deutlich kälterer Nacht sitzt Helena, in Fellweste und Schultertuch gehüllt, am lodernden Kaminfeuer. Es wärmt ihr die Freude im Herzen, erregt ihr Träumen mit offenen Augen. Nicht mehr lange, dann mache sie Schmuckstücke! Bildreich treten aus Bernstein gefertigte Kostbarkeiten vor sie, mit Schnitzereien wie an den Grabbeigaben für Römer, oder von Anbetern des Sonnengottes der Griechen. Doch dem allen gleitet nach die Rosette an Elis Schatulle vor ihr inneres Auge, und würdigt wegweisend winzige Bruchstücke. Dann kommen Besatzstücke an den bäuerlichen Trachtenjacken. Die Hochzeits- und doppelreihigen Gliederketten daran leuchten um die Wette. Halsnah liegen sie auf Festtagskleidung, über der blondes Haar sich kraust, gehalten von verzierten Haarspangen. Auch ziehen vorbei an Helenas wanderndem Blick feine Broschen an Samthalsbändern, und ein wenig fragil wippender Schmuck an ungezählten Ohren. Strahlend glückliche Augen heben sie hervor, und hauchen Gold an Gesichter, die in sinnlich reiner Schönheit Anklang finden. Danach lechzen die, um von dem Quell der Jugend zu trinken, um bereichert und genügend optimistisch im Leben wirken.