bernsteinhell

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2

Unterdessen bückt sich Vedders schlanke Gestalt im nahen Wald beim Acker unter einer blattlosen Buche. Vor einem verschneiten Beerengestrüpp zerrt er einem Kaninchen eine Schlinge vom Hals. Er richtet sich auf, drückt die Fellkappe aus seiner Stirn. Wie eines seiner Schafe, von dem er felsenfest glaubt, es sieht arg schlecht in die Ferne, späht er aus seinen kurzsichtigen und so hellblauen Augen wie die Ostsee im Sommer schimmert, zu Helenas Kate. Soeben rollt des Lehrers Kutsche vom Hof, und Helena geht schon an der Hintertreppe nach draußen.

Vedders Herzschlag hüpft ob ihrer zauberhaft eiligen kurzen Schritte! Sie treffen ihn mitten ins Herz. Dies täte auch die quietschende Tür, würde sie endgültig zufallen, allerdings mit einem wehen Stich, tief bohrend in seiner Brust.

Er luschert gebannt. Helena fingert eine blonde Strähne unter ihr dunkles Kopftuch, und schaut zur Schneekruste am reetgedeckten Dach, mustert den Qualm am Schlot. Sodann stapelt sie Scheite auf einen Arm, steigt damit hoch. Vedders Atem stockt. Sofort weiß er, sie kommt noch einmal. - Da! Schon geht sie wie ein Schemen herab, vom grauen Pulloverärmel unter der Fellweste wohl kleine Hackspäne zupfend. Diesmal umrundet sie die Holzlege bis zum Anmachholz, stampft davor laut auf.

„Rattenviecher, fort mit euch!“, fleht Helena, und trampelt auf den gefrorenen Schnee. In Angst vor den Nagern, rafft sie schleunigst Anmachholz an sich, eilt in die Küche, wirft es in den Kasten am Kamin. Das Feuer an den Scheiten prasselt inzwischen. Sie geht zum Fenster zum Hof, schaut hinaus auf den sich übergangslos aus der vom Winter grauen See sich kaum hebenden Horizont.

In ihre Erinnerung steigt, angespitzt vom Gespräch mit Lehrer Johann, was Urgroßmutter Eli gescheit und erbaulich in der Familienchronik schrieb: Wo es ging, gebrauchte ich meinen Willen, sah hinter den Horizont. Dort tummelte sich allerhand, weniges nur konnte ich erreichen mit reichlich Geschick.

Kaum ein Moment der Besinnung verstreicht, schon rumort in Helena ein winziges Bruchstück voller Tiefgang: Eli, was nützt deine Weisheit! All mein Wille ertrank mit Joos! Einsamkeit alarmiert mich, wie meine Kuh, fällt sie in Hitze.

Von der Fellweste löst sie ihre verschränkten Arme, umgreift das Fensterbrett, betrachtet nun doch das eigenartige Licht am Horizont. Eine schneeschwere Wolke teilt ein Strahl Abendsonne. Helenas Lider dämmen nichts des blendend hellen Lichtflirren, der golden phosphoreszierenden Farben, die ihr Augenlicht umkehrt in einen hellblauen Abdruck, und Frieden und Geborgenheit vor den Klumpen im Gemüt senden. Der stirbt, das Friedliche hat Bestand, verkrümelt sich nicht. Helena sieht herab an den Hof mit seinem Sinn, mit dem gepflastert - auch wenn darauf Schnee liegt - was sie wäre, könnte sie warten. Helena lugt aus schmalen Augen ins Abendlicht, darin flirrt ein Regenbogen. Der bunte Fingerzeig überträgt ihr eine Ahnung, die, wonach sie am Waldrand hätte forschen können.

Oft lockt der Kaminrauch um diese Stunde Vedder an, in ihre Fenster zu spähen. Riskiert er es heute erst im Dustern? Dann erwische sie ihn keinesfalls. Eher ein andermal, vielleicht. Mit dieser Ahnung daneben gelegen zu haben, spürt sie, und zeitgleich, wie wirkungslos sein Luschern wäre, ihr leeres Heim zu ertragen, sähe sie ihn in echt. Ein lästiger Gedanke. Dennoch prickelt ihre Stirn den Hauch unumstößlichen Vertrauens wach, eine Seelenantwort, die eine ganz und gar andere Wende meint.

Der Strahl des Abendlichts taucht ein in die Wolken. Helena wendet sich vom Fenster ab, legt mehr Brennholzscheite auf das Kaminfeuer, das ihre Kök und Schlafstube in dieser Nacht wärmt.

Vedder steht inzwischen an der Bretterwand der Scheune, wo ihn der Wind nicht gar so trifft. Er hört ein Muhen, riecht Heu und Gülle. Doch blinzelt er magisch angezogen in das Licht der Tischlampe im Katenfenster.

Helena verstrickt Wolle aus seiner Schur, im Herbst überaus förmlich vor seiner Kate erbeten. Sie sah seine steife Schulter an, die, im Sturz vor einen Holmen, seinem Tagwerk als Fischer das Ende gab. Helenas Blick war tiefgründig. Und, so glimmt in Vedder auf, über ihr wölbte sich im Mittagslicht ein violetter Bogen, eine gnadenreiche Faser. Kodderig wurde ihm, er rannte später um seine Kate am Schloonsee. Joos lebte damals noch. Er selber würde sie niemals verlassen, und immerzu beachten! Denn seither wurde sein Gemüt wieder froh.

Soeben trägt Helena Strickzeug und Öllampe fort. Die Stube dunkelt. Die Nachtkälte rückt näher um Vedder als ihm lieb ist. Durch das Tor schlüpft er, lässt den Jagdsack zu Boden fallen. Dunkel umfängt ihn, und das Schnauben der Milchkuh. Auf den Pfosten davor geht er zu, gräbt sich in sein Heulager. Inzwischen kennt ihn die Schwarzgefleckte, sie fällt auf die Streu nieder, keucht ins raschelnde Stroh, bevor sie einschläft. Ihre Rempler an den Holzstäben der Futterlege wecken Vedder. Es tagt. Die Kuh reagiert, bevor die Dämmerung das Helle auf die Scheune schickt. Vedder regt seine kühlen Glieder, stakst mit einem Arm voll Heu hinüber, wischt hernach Halme von der Hose. Das Tor öffnet er knapp zum Hinausschlüpfen. Vor Eile stößt er Atemwolken in den eisigen Morgen. Er muss die Schafe seines Stalls versorgen.

Den Holzriegel an der Hintertür öffnend, trifft ihn der vertraute herbe Geruch. Rasch legt Vedder den Jagdsack ans Gatter, greift über zu blökenden Köpfen mit hellem Fell zwischen hängenden Ohren, und geht vorbei.

Am Spiegel bei der Stubentür nimmt er die Fellmütze ab. Speckig klebt sein Haar am Kopf. Au weh! Er geht drei Schritte weiter in die Knie, legt Zunder in den Kamin, macht Feuer mit Zweigwerk. Nach und nach entweicht den Fingern der Frost, aber nicht im Geringsten ihm der Schock über sein Spiegelbild.

Erwägend hockt er am von Asche bedeckten Sims. Ja, Ella hätte ihm einen kalten Guss verpasst, mit festen Griffen den Kopf eingeseift! Sie schleuderte eher selber hin und her, statt ein hartes Wort zur Schluderei zu sagen. Umwerfend witzig war sie, ihr Geifern hörte er trotzdem heraus. Sie war mit sich unaufrichtig; starb daran. Ihm verblieb ihre Art als grüner Lichtblick. Und nun weiß er auch, mit Ella gab es keine so enorme Anziehung wie zu Helena. Mächtig, ja, und näher als die Wassergeister vom See, denen bloß am Schabernack und weniger daran liegt, einem armen Schäfer beizuspringen. Sind die einmal böse geworden und stur, dann schlägt man am besten Haken, die sie abschütteln.

Sein Schlenker zu Seegeistern setzt einen Widerhall in seine Beine, so, als steckten sie im Schloonsee, vom Rand hinein gewatet, von Sommerlicht umflort. Und schon werden seine vom Schnee bedeckten Stiefel schwer wie Blei, und das erreicht seine Knie, saugend wie der See. Vedder glaubt beinahe, es steige noch höher, rüttle und trete er sich nicht los aus dem dunklen Morast. Unbeweglich kauert er am Sims, ihn treibt etwas, größer und stärker als er selber, unaufhaltsam in den Sog. Er weiß weder, wie er hinein geriet, noch, wie er herauskommt. An den Beinen lecken Sommerwellen. Er schüttelt benommen den Kopf - was es noch schlimmer macht. Ihm schwappt eine plötzliche Welle vor, eine Vision reißt ihn mit.

Helena sieht er in ihre Scheune kommen, in deren dämmrigem Licht er hockt. Vedder sucht den Sog abzuwehren. Aber drückend fesseln Netze ihn in knotigen Maschen, durch die er einen Blick zwingt. Das Tor steht weit offen. Im selben Moment spürt er ein Gemisch aus frohem Frieden und banger Zurückweisung. Handelte er falsch? Verließen ihn alle guten Geister? Ein winziges Wissen erreicht ihn, weich wie eine in die Netzmaschen gewundene Alge: Helena lief ein Kind in den Buchenhain, um sich zu verkriechen als mutter- und vaterloses Tier. Helenas Schemen im Sommerlicht eilt dem Kind nach. Aber Vedder fesselt das Netz an seinen Platz. Doch jetzt und sofort kann er den Umstand, ein Kind würde Helena bestürzen, abschütteln.

Ah! Die Seegeister schicken wie eh und je an diesem Ort irritierende Gedanken, dem leichten Opfer ihrer Ränke! Oder, war es gut so? Mischt sich sogar Ella ein, sein grüner Lichtblick? Schon lacht ihr Witz in Vedders Gehör, erleichtert von Zauberhand seine Beine. Einher damit reißt ein unsagbarer Druck in den Augen ihm die Fäuste hoch. Der Schmerz vergeht halbwegs. Er weiß, Helena lebt ohne ein Kind. Die unsinnige Flut entspringe nur dem Wunsch nach Kinderhänden, denen er lehre wie die Funken im Leben fliegen. Voll Wärme brennen die, hinausgekehrt gehört nachher nur ein wenig von der Asche.

Höchst betroffen von dem, was ihn durch treibt, schichtet Vedder kreuzweise Scheite über die Glut. Bald knistert das Feuer. Er tunkt die Kelle in den Milchkübel, wärmt damit den Rest Grütze im Topf, kratzt mit dem Holzlöffel, fährt mit der Zunge nach.

Schließlich entlässt er am Gatter das Böckchen und öffnet den Verschlag der Herde. Die schubst vorbei, erregt mit den Schwänzen wackelnd, erreicht sie das schneebedeckte Gehege. Die Keckeren springen den Bock seitwärts an, hüpfen munter. Ein paar ihrer Bäuche sind trächtig. Vedder karrt den Dung zur Miste, sein Blick streift auf die hüfthohe Räucherstelle aus seegeschliffenen Kieseln. Sein Mund muss warten. Vorerst, einige Schritte ferner, schlägt Vedder in das Eis im Regenfass, schöpft mit den Händen Wasser und benetzt sein Haar. Kernseife reibt er an seine Kopfhaut, und hält beim nächsten Guss die Luft an.

Es tropft vom Kinn, als sein Haar am Kamin trocknet, in der inzwischen wärmeren Stube. Aus den Ecken steigt Modergeruch und muffelt krass. Zu nah am See liegt seine Kate, versinkt mit den Jahren im Grund. Vedder öffnet ein Fenster dem rauen Sturm, der die See aufschäumt, doch keineswegs seinen Entschluss mindert, die verwirrend klugen Ahnungen aus dem Gemüt zu treten, im Ziel eine Kiepe voller Fische vom Ostseefang.

 

Schon vor den Salzhütten blickt er voraus, und erkennt Helena mit einem Henkelkorb zu den Frauen gehen, die sich dort über Tröge bücken. Ein Blitz voll Magie zuckt durch Vedder, schlägt entzückend ein unter seiner Fellkappe, weit über die Ohren herab gezogen, und dann auch ein im Bauch. Lautlos japst er, tritt steifbeinig zum nächsten Fischer, vor dem er den Korb vom Rücken streift, und spröde den altgedienten Mann begrüßt: „Dag och. Allens en Maaten?“

„Sturmgebrus blev, dat kannst me glööven. Sust de Wind in Februar, reken up een godes Jahr.“ Bei seinen kundigen Worten füllt der alte Fischer den Korb mit silbrigen Heringen, patscht ein Dorsch obenauf, und seine Freude am reichhaltigen Fang.

„De Well’ hät allens geven. Hölpt för de Appetit. Helge is nu wech. De denkt, quasselt de Ohren up.“

Vedder hievt den randvollen Korb über seine Schulter, nickt ihm zu, und stiefelt schwer tragend im böigen Wind fort. Helena blinzelt er nach. Unter dem Sturm, der anrückt, würde er heute nicht mehr nach ihr sehen. Doch des Fischers Blick folgt Vedders, bläht seine Wangen. Bitter schluckt er an dem, was er spürt und denkt über das Unglück der jungen Frau. Er krümmt den Rücken, wendet sich ab.

3

Über Helena saust der steife Sturm hinweg, treibt sie voran am Pfad zu den Sanddornbüschen. Davor stellt sie den Fischkorb in den Schnee und bläst in ihre Hände, macht sie geschmeidig, denn die verhärtete nicht nur der Wind. Die sie musternden, sie mit Stolz verwünschenden Fischweiber.

„Ach, was soll es!“, ruft sie ins Sanddorngebüsch, „diese in dreister Unwissenheit Befangenen gehen mich nichts an!“

Achtsam für sich selbst, zupft sie schrumpelige Früchte von dornigen Zweigen. Danach hetzt sie mit sicheren Schritten ihren eigenen Fußstapfen folgend am Wiesenweg heim.

Später rieselt grober Zucker auf die Beeren. Goldener Sirup soll es werden, das Morgenmus süßen. Den Pott stellt Helena zum Köcheln neben die Glut. Sie rührt Graupen in ihre Fischsuppe im Topf am Haken, legt einen Kiefernzweig ins Feuer, setzt sich auf den Schemel davor und erschnuppert den aufsteigenden Duft. Untätig schiebt sie die Hände ins vorne überkreuz gebundene Schultertuch, nun fertig geworden aus der im Herbst fein gesponnenen Schafwolle. Sie betrachtet die Strickmaschen, das Licht und die winzigen Schatten darin. Unter dem Stricken saß am Tisch bei ihr ihre Einsamkeit. Die Hände regten sich, die Finger erschufen mit jeder Masche des wärmenden Stücks die Vollendung einer neuen Form. Und dabei prickelte ihre Stirn ihr zu, all die Maschen beseele ein Geheimnis, noch genau zu erfassen, es belichten im Traum. Nur soeben jetzt erhebt der harzige Duft des Kieferastes ihre Sinne zu Joos’ Vorvätern, die, waren keine Netze zu knoten, an Feuern saßen und strickten, vom Wetter gegerbte Kerle. Schließlich erfasst Helena nur noch, nie mehr Socken stopfen zu müssen, ihr hinterließ Joos löchrige Lumpen in ihrer Leere.

Mehr verdrängt die brodelnde Suppe. Helena deckt den Tisch am Fenster, entzündet den Docht im Petroleum. Im gelben Licht sitzend, zerdrückt sie Graupenkörnchen und Fisch auf der Zunge. Warm wird ihr. Noch eine Weile später, kocht sie einen Teil der gemolkenen Milch auf, setzt damit einen nächsten Käse an, rührt Sauermilch in den anderen Teil, lässt ihn über Nacht stehen.

Weit in der Nacht fliegt sie träumend in eine Dünenlandschaft, streift darüber und gleitet in eine Bucht mit wiegendem Schilf, das seinen modrigen Duft der Seeluft beimengt. An der sandigen Bucht jagt ein Fuchs einem Hasen nach. Ein Windstoß wendet wie von Flügeln aufgestellt den Kopf des Jägers. Der Träumenden wie eine stille Antwort, senden die Fuchsaugen einen intensiv von Bernstein beseelten Blick. Ins tiefste Innere hinein verankert sich dies, als die hetzenden Tiere zu winzigen Punkten im gelben Sand werden. Der Flug führt ostwärts. Auf einer goldenen Wolke erscheint ein von Gletschern geglätteter Findling. Darauf steht eine Frauengestalt, knochig und von einem Mantel umhüllt, deren in der Kapuze verborgener Kopf gen Strand weist. Das sphärische Gewahrsein der träumenden Helena lauscht nun magischen Worten.

Mein Kind, wachsam gehe, anstoßen wird dein Fuß. Wohin der zu heben ist, wie es mir misslang, das weißt du dann, bist du dir der Schatz, den du begehrst, mit dem du dich erlöst. Pendele dahin, wo du noch nicht stehst. Sei dir einen Schritt voraus.

Wie jedem Traum möglich, wandelt sich umgehend die Sphäre. Ein rosa Strahl des Lichtes bricht sich an der Frau, an Helenas Urgroßmutter Eli. An ihrem langen Mantel weht der Saum hoch von den Knöcheln, und befreit die Melancholie einer wunden Seele. Schon verblasst der Findling, liegt leer, milde salzige Seeluft streicht darüber in Böen, mehr und mehr daran rüttelnd.

In dunkler Kammer erwacht Helena erschreckt, das Dach ächzt im Sturm. Absolut mehr irritiert der Traum, und der Duft von Schilf in der Nase, klebrig wie für eine Anleitung, um den Lebensfaden frei von Fesseln zu erneuern. Und ihren Willen, der ihrem Erkennen folgt, wie weit es Elis Generation brachte. Helena zieht die Bettdecke über den Kopf, seufzt sich in den Schlaf.

4

Eine Stunde vor dem ersten Morgenlicht dieses Tages pocht vor die Hintertür der Swinemünder Hafenschänke mit beiden Fäusten Krischan. Es dröhnt in der Leere dahinter. Widerwärtiger noch, wähnt er den Dunst vom Abtritt im Hof hinter ihm zu wabern, doch der schiebt das Türöffnen auch nicht an. Oben fliegt ein Fenster auf. Der Knecht reckt sein Gesicht.

„Was willste? Hämmere nicht das ganze Viertel zusammen!“

Ruckartig gibt unter Krischans Fäusten die Tür nach. Einen Schürhaken schwingt die Magd heraus, und dahinter eine Laterne.

„Du also? Meinetwegen warte auf den Wirt. Komm herein.“

Wie ein lichtscheues Wesen flieht Krischan vorbei am Kamin zum hintersten Winkel, an die hölzerne Stiege zum Lager. Daran lehnt er, und riecht etwas feucht abgestandenes herabsickern.

Allzu vertrauter Brandweingeruch. Noch derselbe im Mix mit schalem Bier, dem Gammel gestockter Salzheringsfässer, und dem sauren Schweiß vom Wirt. Dessen schiere Gier roch er oft, bevor der Wirt ihn nur ansah, erfasst Krischan. Heute will er kein Dünnbier, koste nur ein Vermögen an Zeit. Blanke Münzen sollen tüchtig klimpern, am besten die von Eggebrecht!

Scharf sticht ihn der Dunst in seine Nase, in den Wulst am Ende. Krischan tastet hinauf. Noch kühl, keinerlei Regung. Lässt ihn sein Kompass im Stich? Den braucht er doch für die Swinemünder Vetternwirtschaft.

Wie zur Antwort - fast eigenständig, würden Krischans Knie nicht doch bange beben - klicken die drei Groschen in seiner Hosentasche leise aneinander. Umgehend endet das Klimpern, sie kriechen vor das Loch in der Naht, entgehen jedoch nicht Krischans rauen Krallen, die sie umkrampfen. Denn draußen vor den winzigen Fenstern beginnt es zu tagen. Wirt und Knecht kommen in die Schänke. Längst scheuert die Magd Holztische ab. Darüber streicht ein Stoßseufzer aus der Jacke des Wirts, und aus der Gegenwart heran, der Krischan sich zu stellen hierher kam.

„Wieder du?“, höhnt der Wirt, als wäre er ein Morgenmuffel nach einer langen Nacht vor nur dem Besäufnis anderer. Aber dann winkt er, recht aufgeweckt und herrisch wie stets, zuerst den Knecht zur Feuerung. „Fülle auf!“ Ohne jedes weitere Wort eilt er selber zur Stiege zum Lager, steigt hinan und voraus Krischan.

Der Knecht hechtet hinaus. Zurückgekehrt poltert er laut herum mit dem Holz, und spitzt die Ohren woandershin. Listig zur Stiege, heiß vor Neugier. Später, an der Straßenseite der Logierstuben, wo er oben wohnt, passt er Krischan ab.

„Ha! Das Schlitzohr treibt dich aufs Glatteis! Rede du mit Eggebrecht. Gegen zehn Uhr flaniert der am Hafen, wegen seinem Widersacher, dem Frachtmeister. Die Helena ist doch bloß eines von Eggebrechts Treiberkähnen.“ Er hält eine Hand offen vor Krischans Jacke. Krischan sieht auf die am Wasser steigenden Nebel. Also setzt der Knecht nach: „Was Eggebrecht entgeht, lagert die Schmiede am Stadtpark. Ich baue bald mit an der Marienkirche in Usedom, werbe fürs neue Dampfsägewerk schon Kameraden an, die sichere Münzen nicht vertrödeln.“ Mit schiefem Mund taxiert er die Groschen, die er einsteckt. Seine Tonlage verliert an Redefreude. „Wirst grade eben Bernsteine stemmen, warst inne Schule nur zum Kreideholen da. Schaff dem Schmied an, ich komm vorbei.“

Die Daumen hängt er in die Hosentaschen ein, schlenzt ab. Weder dem noch dem dreisten Tonfall des Knechts schenkt Krischan Beachtung. Er eilt um die Ecke, vorbei am Kurpark gen Schmiede. Bis zehn Uhr ist es noch lange hin, auch wenn noch Nebel vor dem Hafen lagern.

5

Solche Nebelschwaden lagern auch nahe Helenas Kate auf den Feuchtwiesen. Schummrig nur dringt Licht in die Küche, deren Wände ein Film dumpfer Feuchte bedeckt, während Helena standhaft den Tag beginnt und Kaminasche in einen Kübel kehrt. Sie erinnert das irre Gemenge in ihrem Traum, dessen Morgenröte, zart wie Malven am Obstgarten in strahlender Sommersonne. Doch saust ihr Blick vom Besen fort, und die Schultern rücken hart aufwärts. Denn da sind sie wieder, klar in der Asche sichtbar! Fuchs und Hase hängen im Lauf fixiert in der Luft des Traums, und vor dem Geruch vom Schilf, der deutlichen Melancholie vom Mantelsaum.

„Nein, halt, nicht weiter, ich will da nicht rein!“

Ihr Ruf rumpelt durch die Feuerstelle, hallt in den Schlot, zittert am Besen. Die Jagd der Tiere war in der Natur. Nun sind sie starr fixiert. Ein Rätsel, das sie löse, wärme sie ein Feuer.

Bald knistert es unter dem Wasserkessel, zum Wärmen daneben steht das Frühstücksmus mit Sauermilch. Jetzt hält Helena nichts mehr auf. Sie greift in die Truhe, zieht die Sagen von Karl Eduard Haase heraus, schlägt abgegriffene Seiten um, die mit den Mähren über Bäume, deren Wispern sie lauschen müsste, um zu verstehen. Sie legt es zurück auf die mystischen Sagen, die Joos ein Verdruss waren, aber ihr, in der Achtung ihrer Bestimmungen und Impulse durch lebendige Natur, immerzu Freude bereiten. Dafür ist nicht die Zeit, kühle Morgenfrische streift heran. Die Kaminglut glimmt schwach nur. Helena stapelt Scheite zu einem Stern, der lange abbrennt. Dann sortiert sie aus der Truhe rasch die löchrigen Socken in einen Weidenkorb hinein, bevor sie sich an ihr Frühstück setzt.

Dabei in einem Buch über Tiere in Wald und Wiese blätternd, stutzt sie bei einem mageren Tier mit struppigem Fell gezeichnet, ein Rotfuchs mit weißer Brust und buschigem Schwanz. Weiter hinten hockt in einer Mulde harter Dünengräser ein Hase, mit den Hinterläufen im Sand schaufelnd.

Helena stockt unvermittelt bei hübsch gezeichneten Rindern. Solche Flecken bedecken die Flanken ihrer Kuh, die auf ihr Melken wartet. Nur winzige Decken wären zu stricken aus dunklen Fäden, für Kälbchen, deren Ohren am Kopf abstehen. Könnte aus den Traumtieren Spielzeug für Kinder werden? Stricken könnte sie einen tapsigen Fuchs, und ihm Knopfaugen sticken. Ja, dafür taugen Joos’ Socken, und die Bilder in den Schulbüchern.

Sie steht auf, behaftet von ihrer planenden Fantasie. In der Scheune klaubt sie zum Ausstopfen der Stofftiere Heu vom Boden auf in einen Sack. Dabei den Aalreusen näher kommend, fixiert sie die, als stören sie ihre neu errungene Aussicht. Je nun, damals stieg Joos damit in die Mündung der Beek. Sollte sie auch das übernehmen?, fragt sie sich, und denkt weiter. Steige sie in die Beek, wird der Rock nass, auch wenn sie ihn schürze. Stört nur. Eine Hose von Joos ziehe sie an und im Stall. Seines wurde ihres. Ja! Sie grabe den Kopf nicht ins Heu hinein - bessert die Aussicht nicht.

Helena wedelt mit der Hand durch die Luft, die leidige Befangenheit verscheuchend. Nun schwappt ihr eine zurückliegende Zeit vor Augen, als Joos wegen ungeklärter Ursachen kompliziert wurde. Ein Gang an die alte Eibe half. Deren bernsteinhelle Sonnensprenkel im Grün flirrten ein Willkommen. Im Dämmerlicht tief darunter, raschelte magisch der Schemen des Wuschelhaares, rotgrau, schulterlang gewachsen dem hüfthohen Wesen vom anderen Volk. Völlig außer Atem sprang es, plötzlich wie wild vor ihre Beine. Zu Boden gestürzt, schlief sie ein im Eibenduft, träumte vom Werktisch der Kammer. Eine Kinderstimme plapperte nebenan. Nachschauen wollte sie, nur verging ihr der Impuls. Erwacht, wusste sie, weshalb der Zwerg atemlos war. Zu kurze Beine. Er bündelte all sein Feuer in dem einen Tritt, damit sie der gütigen Eibe lausche. Sie weist nicht nur den Weg ins Jenseits, auch den ins Recht im Diesseits, für ein Anerkennen des Mannes Joos, und sie sich, in der Erwartung seines Kindes.

 

Umsonst war es gewesen, wie die leere Kammer. Nun liegt die einst gesehene Vision neu in ihrem Atem und sagt, Joos' Tod ändere am Recht im Leben kein Fitzelchen, auch nicht die Erde unter der Eibe. Auch ihr Alleinsein verebbe, während sie sich dem widme, was mit der Hände Arbeit gedeiht.

Erfüllt von ihrer Erkenntnis, die ihre Hoffnungslosigkeit verdrängt, folgt sie diesem Vorsatz und greift aus dem Heu einen Ballen, trägt den zur Box, streichelt anschließend die warme Flanke der Kuh.

Beim Melken zupft die Kuh gemächlich Halme aus der Schütte, muht ab und an zufrieden. Helenas Gedanken fliegen derweil zum Schiet unter ihr, zur Miste draußen, zu dem Wetterpfeil auf eisernen Willen, schichte sie den Haufen um auf Kartoffel- und Gemüseacker. Einzig ihr Stolz, so erkennt sie bald, darf nicht auf die Miste! Er bewirke den Mut mit den Ahlbeeker Viechern im Stricken. Die Eibe blinke ihr doch wie das Leuchtfeuer am Turm seewärts zu, beseele sie. Indes fehlt irgendetwas doch noch, während die Milch in den Eimer rinnt, der Hals der Schwarzgefleckten einmal schaukelt.

„Fühlst du mit? Dir liegt die Käserei näher“, raunt Helena ihr zu, drückt ihre Stirn ins Fell der Flanke.

Unruhig stampft ein Hinterbein auf, das Helena tätschelt, dann aufsteht, den Melkschemel nahebei zwischen zwei der Streben im Ständerwerk der Pfosten klemmt. Weite Kuhaugen drehen sich ihr zu, und kehliges Muhen, dem sie sich nähert. Die Zunge der Kuh leckt durch ihr Gesicht. Kichernd wischt Helena den Seim am Ärmel ab, ergreift den Milcheimer und den Jutesack mit Heu.

So schnell wie möglich quert sie im Hof das böige Wehen; es trug die Nebelschwaden fort. Ihr Herz klopft deutlich rascher, als sie bald darauf vor den Socken am Tisch sitzt. Sie ribbelt und sortiert Wolle nach den natürlich grauen Farbtönen der Schafe und weiß nichts Wichtigeres zu tun, bis das abendliche Zwielicht sie zum Melken ruft. Helena versorgt flink die Schwarzbunte, prägt sich deren Formen ein, schon dabei überdenkend wie es weitergeht.

Der Bogen aller Körper wäre in gleicher Art wie im goldenen Schnitt zu entwerfen, auch die kräftigen Hälse, kurze Beine, Pfoten und Hufe. Das Verhältnis bestimmt, wie eines wirkt, ein Tier an den Beinen steht. Eine Passe aus Stoff würde es hübsch betonen. Kapuzenjacken mit Ärmeln sollten es werden, mit deutlichen Nähten an Kopf und Maul, in die Kinder später hinein beißen dürfen. Dafür würden Joos’ Küstenklamotten dran glauben müssen.

Bis weit in die Nachtstunden hinein heftet Helena. Sie gibt verstimmt ihre Entwürfe für tadellose Schnittmuster auf, als an die Fenster immer öfter Hagel knattert. Eindringlich pfeift der Luftzug über die Dielen, flirrt und kreiselt im Kamin in Glut und Asche. Die kehrt Helena zusammen, und geht schlafen. Traumlos verläuft die Nacht, in der sich ein Sturm absoluter Art ungebremst entlädt.

In den nächsten drei Wetter verhagelten Tagen hört Helena ihre Schwarzbunte in gereizten Tönen muhen und überdrüssig quengeln. Fast erwartet Helena, den massigen Kuhkörper im Dreieck in der Streu springen zu sehen. Sie selber täte es, würde es das Drama abstellen. Allein ihre Gewissheit lenkt sie ab, irgendwann ende es, nur einander im Anlehnen zu halten. Doch ihre triste Unruhe bleibt. Die kurzen Wege in der Scheune und zwischen den Wänden der Kate reichen nicht aus. Am nächsten Morgen stiefelt Helena, den Kopf umhüllt und in den Mantelkragen gezogen, in eiskalter Februarluft ans Ufer. Am Wasser driftet ein Boot mit erdbraunem Segel gen Horizont. Den Vorgang überträgt sie auf sich.

Fischer geben nie auf, schippern immer. Auch wenn sie auf Wellen der Armut um Seelenruhe ringen. Joos sprach genau das für sein Drücken vor der Feldarbeit. Auf ewig nun. So ewig muss ich bewahren, was mich erhält. Viel Feines schon entdeckte ich, strickte nach Eingebung. Die führe weiter, folgert auch Lehrer Johann aus den Wolken, an denen er sich besinnt. Und die Seeluft hilft mit, das Grobe von einst durch Feines im Jetzt zu ersetzen, alte Flausen zu vertreiben.

In solch gnadenvollen Gedanken, atmet Helena tief erlöst in die Brust unter ihre verschränkten Arme, geht am Ufer ostwärts. Sie gelangt an die Verwüstung des Sturms. Zur Flutgrenze hängen Kiefern mit verkeilten Kronen, teils entrindet von der sandigen Brandung. Helena hangelt sich hindurch und zum Pfad des flachen Findling, der Landmarke nach Swinemünde.

Sie springt auf den Stein. Zutiefst vom Toben der Elemente betroffen, ignoriert sie den wüsten Windbruch, blickt seitwärts hinab. Am Strand gehen ein paar Heranwachsende in Winterjacken. Ab und an beugen sie die bemützten Köpfe tiefer, wühlen mit den Händen im Sand, sammeln eindeutig Bernsteine. Kaum angedacht, stockt Helenas Atem, flirrt ihre Sicht als träfe sie Hagel, wiederum zur Erledigung restlicher Geschäfte umgeschwenkt. Im Gesprenkel gewahrt sie eine Bewegung aus dem borstigen Dünengras oberhalb hervorkommen.

Zwei torkelnde Männer mit Schirmkappen wanken heraus, heben die Füße nicht. Ihre Stiefel stieben Sandregen auf, als hätten sie Spaß. Sie schlingern zum Wasser, und laufen davor ungestüm seitwärts, entreißen die Beutel den Sammlern, zerren sie grob an den Armen mit sich.

Helena atmet stoßweise, es klärt ihre Sicht auf den Strand, aber schickt ihr erregende Stiche in ihr Gemüt. Ihr Blick wandert wie gefesselt unten umher. Das dort sieht sie nicht zum ersten Mal und spürt, im Grunde oft entkommen zu sein. Sicherlich, vor allem, denke sie an Joos’ Verbot, der mit den rangelnden Kerlen erstklassig umgegangen wäre. War es so gewesen?

Eine kleine Scham spürt sie Gestalt annehmen, er hätte mehr Kraft. Dieser Regung folgend, wird sie ihrer Kraft sicher. Nicht weniger vehement verfolgt sie das Geschehen, unter ihr erzittert der Stein, auf dem sie steht. Doch mehr irritiert sie ihr Nichtverstehen des unten nur sichtbaren Geschreis, vor dem der Wind an- und abebbt, und in den hinein sie murmelt: „Kinder, brutal erwischt ...“

Ein lausiger Moment vergeht. Dann sieht sie nahebei am Rand der Böschung zwei weitere hinunter spurten, sie rufen und fuchteln. Die Männer blicken rückwärts. Ungestüm reißt ein Kind sich von ihnen los, tritt eine Spur in den Sand und stolpert in ein von Gras bestandenes Areal, verliert seine Mütze vom roten Haar. Das andere Kind zerren die Männer fort. Helena seufzt, ob des Schauers, was dem Kind in den Fängen der Männer blühe. Sie springt vom Stein, um zu der Chaussee zu gelangen, die Richtung Swinemünde führt, und daran einfacher umzukehren.

In den Hagelwehen darauf fährt eine schwarze Kutsche an. Unter den Rädern spritzen knirschende Eisklumpen, als sie an Fahrt gewinnen. Der Kutscher peitscht die beiden Gäule, mehr als nötig wäre. Voraus auf Helenas Seite zwängt sich der Rotschopf durchs Randgestrüpp und setzt an, hinüber zu sprinten. Zu ihm lenkt scharf der Kutscher sein Gespann. Der Junge kippt beim Ausweichen und stürzt rücklings ab, hält jäh sein Knie, schreit scharf und laut heraus. Dann bricht seine Stimme.

Im Moment des Vorbeifahrens schaut ein alter Mann durch das Rückfenster. Sein kalter Blick trifft Helena, stoppt abrupt ihre Schritte. Ein befehlendes Klopfen im Wageninneren hört sie. Der Kutscher lenkt zur Mitte der Chaussee. Kleiner und kleiner wird der schwarze Punkt zwischen den winterlich kahlen Bäumen. So lautlos wie die Böen an den Ästen rütteln, so verhallt das Trappeln der Hufe .

Helena wirft die Arme hoch. Sie eilt zu dem ins Gebüsch Gestürzten. Eines seiner Hosenbeine tönt rot sein eigen Blut, tränkt einen größer werdenden Fleck. Angst und Entsetzen verzerren sein Gesicht. Hilflos zwinkert er. Seine Pupillen gleiten umher, nehmen Helena gar nicht wahr.