Nachspiel

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Roland Reitmair

Nachspiel

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Inhaltsverzeichnis

Titel

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

Impressum neobooks

I

Zweige eines nahen Baumes schlugen ratternd an das große Glasfenster des Krankenhauses. Der Wind peitschte heftige Regenschauer gegen die Fassade.

Unter dem kleinen Dach vor dem Haupteingang stellte ein Mann den Kragen seines Mantels hoch und drehte den Sturmböen den Rücken zu.

Schwere Tropfen prasselten auf die Straße.

Gottfried saß mit versteinerter Miene in einem großen, dunklen Lehnstuhl im Wartebereich der Intensivstation. Die Uhr zeigte halb neun, doch draußen herrschte bleigraues Dämmerlicht. Er war kurz eingeschlafen und gerade erst wieder mit tauben Händen und einem von der Lehne schmerzenden Schulterblatt erwacht. Schon die zweite Nacht hatte er jetzt in seinem unbequemen Sessel verbracht. Er schüttelte die kribbelnde Hand, ballte sie zu einer Faust und streckte sie wieder. Bewegte die blutleeren Finger.

Gottfried fühlte sich müde und fertig, ohnmächtig, irgendwie sogar mitschuldig. Der Adolf. Was war ihm da nur eingefallen? Geht mit der Waffe auf den Bürgermeister los. Er kannte ihn doch gar nicht. Adolf war kein schlechter Mensch ... – Woher kam dieser blinde Hass?

Das dumme Versprechen vom Bürgermeister Edtauer vor der Wohnungsübernahme, dass auf die angrenzenden Felder nur mehr kleine Einfamilienhäuser gebaut würden ... ein sogenannter „Bauabschluss“ ...

Und dann war eben alles wieder einmal anders. Eine alltägliche Geschichte: Ein Bürgermeister, der nicht Wort hielt. Ein ganz normales Politikum. Ein Wahlversprechen von vielen. Eines mehr, das gebrochen wurde. Sicher, schäbig hatte er sich schon benommen, der Bürgermeister. Ein echter Politiker eben, aber das ...

„Sehen Sie wie gut, dass der Friedhof erweitert wird, sonst wäre kein einziges Grab frei für den Herrn Reisinger“, hatte der Depp von Messdiener gesagt, als er ihm im Gemeindeamt zufällig über den Weg gelaufen war. Hoffentlich brauchte die Friedhofsverwaltung jetzt nicht auch noch eines für den Bürgermeister ...

Elendige Wohnungsgeschichte. Gottfried stemmte die Beine gegen einen der hässlichen weißen Plastiktische. Und der Adolf war ja nicht einmal betroffen davon. Woher also kam sein Hass?

Er schüttelte unwillkürlich den Kopf. Der Zustand des Bürgermeisters war unverändert kritisch. Die Ärzte gaben sich zuversichtlich, weil die Kugel ohne Komplikationen hatte entfernt werden können. Aber nach wie vor wurde er in künstlichem Tiefschlaf gehalten. Seit drei Tagen.

Wenn er es sich recht überlegte, wusste Gottfried gar nicht genau, worauf er hier wartete. Er wollte einfach nur nicht heimgehen. Es stimmte natürlich, was die Tochter des Bürgermeisters gesagt hatte: „Und wenn Sie hier bis zum Jüngsten Tag sitzen, davon wird mein Vater weder schneller gesund, noch Ihr Cousin wieder lebendig ...“

Ja. Der Gustl würde nicht mehr lebendig davon, der Gustl.

Noch während dieser verfluchten „Anhörung“ mit dem Bürgermeister vor einer Woche hatte Gustls Gesicht eine ungesunde Röte überzogen. Nur wenige Stunden später war er friedlich eingeschlafen. Herzinfarkt. Mit zweiundvierzig Jahren.

Erst am nächsten Tag wurde er gefunden. Da war natürlich alles längst zu spät. Da konnte der Arzt nur mehr den Tod feststellen.

Gleich mit dem nächsten Zug ist Gottfried zum Onkel Michael gefahren, um ihm persönlich zu sagen, dass sein Sohn nicht mehr lebt. Der Gustl war Michaels einziges Kind, und immerhin war der Onkel ja nicht mehr der Jüngste.

„Gottfried!“, hatte er noch erfreut gesagt, doch im nächsten Moment gemerkt, dass was nicht stimmte. „Ist ... ist was mit dem Gustl?“

Gottfrieds Hand ruhte schwer auf Michls Schulter. „Ja ... Michl“, nickte er, „Der Gustl ... er ist ... tot.“

Onkel Michael zitterte. Kniff die Augen zusammen. Suchte Halt am Türrahmen und schwieg eine endlose Minute lang. Dann holte er tief Atem. „Komm rein.“ Er setzte sich verloren an den Tisch in der Küche, ließ Gottfried berichten.

Tränen liefen über sein faltiges Gesicht. Mit unsicherer Stimme fragte er, wann die Beerdigung wäre und ob er denn die paar Tage bei ihm in der Wohnung bleiben könnte.

Später erzählte er stockend und mit gebrochener Stimme, dass der August von Geburt an einen Herzfehler gehabt hatte. Die Ärzte hätten schon viel früher mit seinem Tod gerechnet. Er selber habe halt immer gehofft, er würde vor dem Gustl „dran“ sein, so wie es der Natur entspreche. Aber man muss das Leben akzeptieren wie es ist ...

„Wie der Gustl ein Kind war, und einfach nicht zu bändigen, haben wir, die Martha und ich, uns immer solche Sorgen wegen seinem Herz gemacht ... Der Martha ist das jetzt wenigstens erspart geblieben. Weißt

du, Gottfried“, sagte der Onkel weiter, „es gibt vielleicht nichts Schlimmeres als sein eigenes Kind zu beerdigen. Besonders, wenn es das einzige Kind ist ...“

*

Onkel Michl hatte sich kaum verändert. Vor ungefähr zwanzig Jahren hatte Gottfried ihn zuletzt gesehen. Auch damals war der Anlass ein Todesfall. Aber der Großvater war wenigstens schon dreiundachtzig.

Onkel Michael war immer freundlich, erkundigte sich, wie der Gottfried über dies oder jenes denke. Er hatte nie gefragt: „Was machst du jetzt eigentlich?“ – Wer was „machte“, wer was arbeitete, das wusste die ganze Familie immer ziemlich genau.

Die Frage wurde ihm vor zwanzig Jahren deswegen so oft gestellt, weil Gottfried damals nach einigen Alkoholexzessen die Arbeit bei der Rotax in Gunskirchen verloren hatte. Weil er dann von der Sozialhilfe lebte und in der Notschlafstelle wohnte.

Onkel Michael war der einzige in der Familie, der sich nicht sonderlich daran stieß. Zumindest ließ er sich nie etwas anmerken. Wenn sich irgendwer in seiner Gegenwart über Gottfried „das Maul zerriss“, sagte der

Michl nur, dass jeder für sein Leben selbst verantwortlich sei. Andere sollten nicht kritisieren, sondern es selbst besser machen … Der Gottfried ist ein gescheiter Bursch, nur weil er jetzt gerade einmal Probleme hat ... der schafft das schon.“ Vielleicht war es gerade dieses Vertrauen des Onkels, das ihm half, wieder auf die Beine zu kommen und mit der Sauferei aufzuhören. Und natürlich hat ihm der Gustl viel geholfen ...

Gustl war nicht nur irgendein Cousin, er war Gottfried lange der einzige Freund. Er holte ihn aus der Versenkung. Gustl arbeitete damals noch als Betreuer in der Notschlafstelle. Als er Gottfried dort das erste Mal sah, war er einigermaßen überrascht. „Was machst denn du da?“, staunte er ihn ungläubig an. Er war wahrscheinlich der einzige der Verwandten, der noch nichts von der „Karriere des schwarzen Schafs“ gehört hatte. Mit Gustl hatte er sich früher, bei den obligaten Familienfeiern schon immer gut verstanden. Er war ja auch kein Kostverächter in Sachen Wein.

Im November dann ist der Großvater gestorben. Noch im selben Jahr, schaffte Gottfried den Entzug. Seit diesem 17. Dezember rührte er nie wieder Alkohol an.

Etwa ein halbes Jahr später vermittelte ihm Gustl den Job bei der Voest.

II

Der Pfarrer wenigstens hatte noch versucht zu vermitteln. Nahm sich Zeit für die Anhörung mit den Anrainern beim Bürgermeister.

„Immer wieder einmal mit einem Kompromiss guten Willen demonstrieren“, hatte er gefordert, „vielleicht gibt es ja auch noch andere Lösungen.“

Der Edtauer lachte daraufhin aber nur sein dämlich süffisantes Lächeln und bat, es sollten doch alle am Boden bleiben und der Realität ins Auge sehen.

Fakt sei, dass Thalheim neue Wohnungen brauche. Das sei – wie er betonte – im Bauausschuss der Gemeinde so diskutiert und beschlossen worden. Hier biete sich eine Möglichkeit, bei der alle betroffenen Parteien zufrieden wären. Und die Anrainer hätten seit Jahren Bescheid gewusst, dass ihre Wohnbauten keinen Bauabschluss darstellen – sprich: dass die Nachbarflächen noch verbaut werden würden.

 

Gustls Augen blitzten zornig. „Ich verstehe nicht, warum man das Bauamt ausgerechnet mit Ausschuss besetzt hat!“

Da hatte plötzlich der Bürgermeister einen ungesund roten Kopf.

„Fairerweise sollte man sagen, dass bei der entscheidenden Gemeinderatssitzung zur Umwidmung der Flächen alle Fraktionen dafür gestimmt haben. Und nicht nur für die Umwidmung, sondern auch für die Bebauung und für den geplanten Wohnkomplex, welcher durch die Firma Novum des Herrn Zellinger realisiert werden sollte…“

Ursprünglich hätte gleich neben dem Friedhof eine neue Siedlung entstehen sollen – ein vergleichbarer Wohnkomplex“, führte er weiter aus, „Doch damit konnten Sie, Herr Pfarrer, sich nicht so richtig anfreunden. Die Kirche überlegte bereits seit langem wegen einer Friedhofserweiterung den Ankauf dieser Grundstücke in die Wege zu leiten. Nun war ihr die Gemeinde mit der neuen Flächenwidmung zuvor gekommen.

Also versuchten Sie durch einen Grundstückstausch gegen gleichwertige Felder am Ortsrand die Interessen der Kirche zu wahren ...“

Der Pfarrer nickte zwar, aber irgendwie beschlich einen das Gefühl, dass er sich vom Bürgermeister ausgebootet vorkam.

Seitens der Gemeinde hatte es zu den Anfragen der Kirche natürlich keine Einwände gegeben, solange der geplante Wohnbau realisiert würde. Er hatte sich also mit dem Abt von Stift Kremsmünster, dem Besitzer

besagter Felder, in Verbindung gesetzt und den Grundtausch organisiert – und nicht nur das: Weil die Zeiten nicht rosig waren und das Stift rote Zahlen schrieb, wurden auch gleich noch für weitere angrenzende Flächen, die zum Besitz des Stifts gehörten, Verkaufsoptionen herausgehandelt.

Die Herren waren sich einig. Der Rest war Formsache.

Dass dabei die Anrainer weder informiert noch befragt worden waren, davon hatte der Pfarrer allerdings nichts gewusst.

*

Gustl hatte als erster herausgefunden, was lief. „Da ist was faul“, ließ er Gottfried wissen, „angeblich wollen die da weitere Wohnblöcke hin bauen, anstatt Einfamilienhäuser ...“

Aus der Gemeinde hieß es auf seine Anfrage lapidar: Jeder Anrainer hätte ein entsprechendes Informationsschreiben erhalten. Und nachdem kein Anrainer protestiert und sich dagegen ausgesprochen hatte, würde nun eben gebaut.

Gustl fragte herum. Kein einziger Anrainer konnte sich an irgendein Gemeindeschreiben erinnern. „Hat wahrscheinlich die Post schlecht gearbeitet“, vermutete die Sekretärin in der Gemeinde.

Doch Rückscheinbriefe gehen nicht verloren. Diese Briefe waren erst gar nicht ausgeschickt worden.

Der Bürgermeister war bekannt dafür, dass er sich oft „großzügig“ über Amtswege hinwegsetzte, um unnötige Probleme zu vermeiden. Und er war vor allem aber auch dafür bekannt, dass er in Vorwahlzeiten allen möglichen Leuten alle möglichen Versprechungen machte – und mit seinem „Wort und Handschlag“ besiegelte.

Drei Jahre zuvor, gleich nach Fertigstellung des ersten Wohnkomplexes – eine Bezeichnung, die Gottfried besonders passend fand – hatte ihnen der Bürgermeister sein Wort gegeben, auf dem angrenzenden Grundstück würden höchstens noch sechs Einfamilienhäuser gebaut: „Sie können sich hier getrost eine Wohnung kaufen – ich verspreche Ihnen, dass die schöne Aussicht erhalten bleibt. Diese sechs Einfamilienhäuser werden der Bauabschluss – das heißt: keine weitere Verbauung der angrenzenden Felder.“

Da haben die meisten Wohnungsinteressenten, genau wie Gustl und Gottfried, beruhigt den Kaufvertrag unterschrieben.

Jetzt sah die Geschichte plötzlich ganz anders aus. Genaues wusste man anfangs ja nicht, fix allerdings war, dass Novum schon den Zuschlag für vier oder fünf Wohnblöcke habe – zu debattieren gäbe es da nichts mehr. Die Einfamilienhäuser-Siedlung war damit vom Tisch.

Einige Anrainer machten sich auf zum Bürgermeister. Der Herr war natürlich vielbeschäftigt und nicht gleich immer für jedermann zu sprechen. Völlig gestresst und mit den Vorwürfen konfrontiert, fiel er aus allen Wolken: „So etwas hab ich nie versprochen, könnte ich ja gar nicht ...“

„Doch“, sagte Gustl, „hast du!“

„Ich habe nie, ich betone, nie gesagt, dass dort Einfamilienhäuser gebaut würden. Im Flächenwidmungsplan waren zu der Zeit Einfamilienhäuser vorgesehen, davon werde ich wahrscheinlich gesprochen haben ...“

Er blickte auf die Uhr, „Und ich muss mich entschuldigen, leider hab ich noch einen wichtigen Termin beim Herrn Landeshauptmann.“

Gustl aber ließ nicht locker und folgte ihm in Richtung Auto.

„Du bist mir so ein Bürgermeister! Nicht vorbereitet bist, Ausred’ fällt dir auch keine ein und jetzt scheißt dich an und musst plötzlich zum Landeshauptmann.“

„Sparen Sie sich Ihre Unflätigkeiten, auf dem Niveau rede ich sowieso nicht mit Ihnen. Und ich wollte Sie nicht vertrösten. Im Gegenteil, ich hab mir extra die wenigen Minuten zwischen der Bauausschusssitzung und dem Termin beim Landeshauptmann für Sie freigenommen, um einen ersten Eindruck von Ihrem Anliegen zu bekommen.“

Jetzt sagte er plötzlich wieder „Sie“, damals im Bierzelt, vor der Wahl, hatte er ihm freundschaftlich das „Du“ angetragen.

„Ja dann sag uns eben noch schnell, dass das passt mit deinem Versprechen damals – dass du uns diese Wolkenkratzer nicht vors Küchenfenster hinstellen lässt“, sagte Gustl, „dann sind wir schon zufrieden, gehen und lassen dich in Ruh‘.“

„Das war erstens kein Versprechen und zweitens meinte ich damals nicht...“

„Du hast noch nie auch nur irgendwas so gemeint, wie du es gesagt hast, du hast nur ein Glück: nämlich kein Unternehmer zu sein, sondern Politiker. Als Unternehmer würdest du längst vor Gericht stehen. Leider sind zu viele Leute egoistische Ichmenschen. Die kaufst du mit deinen zweifelhaften Zusagen. Damit du nicht abgewählt wirst.“

Aber das war das letzte Mal, dass Gustl wegen irgendwas auf die Barrikaden stieg. Mit der Hand hielt er sich die Brust, während er mit einem bleichen, verkrampften Gesicht dahinwetterte.

Die Umstehenden lachten über seine theatralische Art und der Bürgermeister hatte plötzlich Oberwasser.

„Schau‘n Sie August, die Wohnungen sollten immerhin an sozial Bedürftige vergeben werden. Da konnte die Gemeinde nicht dagegen entscheiden. Es gibt so viele Menschen, die – wie ihr Cousin vor drei Jahren – unbedingt eine Wohnung brauchen. Sie wissen ja, ohne Wohnung keine Arbeit und umgekehrt. Hier sollen nun vom Land geförderte Wohnungen entstehen, die sich speziell eben auch Kleinverdiener leisten können. Wir von der Gemeinde werden die meisten Zuteilungen durchführen, damit sichergestellt wird, dass auch wirklich nur die Bedürftigen zum Zug kommen...“

Gustl ärgerte sich: “Weißt du was Bürgermeister, du lügst sobald du den Mund aufmachst. Und wennst es noch so schön daherredest, mich wirst du nicht einwickeln. Ich kenn‘ dich, da geht‘s um viel Geld, um das von deinem sauberen Freund Zellinger, aber auch um dein Geld. – Ich hab einen guten Tipp für dich“, spottete er, „Du solltest nach Italien gehen, Palermo, dort hast mit deiner Art sicher die besten Voraussetzungen für die Finanzverwaltung.“

„Jetzt beruhigen Sie sich doch August, ich hab doch damals lediglich gesagt, dass derzeit im Flächenwidmungsplan eine Einfamilienhausverbauung vorgesehen ist und zu der Zeit war das so. Jeder Mensch weiß doch, dass sich so ein Flächenwidmungsplan jederzeit per Gemeindebeschluss ändern kann.“

„Falscher Hund, falscher – aber wir hören uns noch! Pfiat di Bürgermeister“

„Ja pfiat di“

Ärgerlich stieg der Edtauer in seinen Mercedes und fuhr los. Gustl stand noch kurz unschlüssig vor dem Gemeindeamt, fluchte lautstark und schlurfte dann davon.

III

Die Marktgemeinde Thalheim bestand grob gesehen aus zwei Teilen – nördlich der ältere und historisch gewachsene Ortsteil an der Traun bis hinauf zum Schloss und der Kirche am höchsten Punkt, sowie der südliche Ortsteil dahinter am Kirchplateau und den angrenzenden Parzellen, wo sich erst seit kurzem die reichen Bürger der nahen Stadt Wels zwischen einzelnen alten Bauernhöfen ihre Villen bauen ließen.

Das Gemeindeamt befand sich im nördlichen und älteren Teil. Doch auch dieser gewachsene Ortsteil hatte eigentlich keinen Charakter. Erhaltenswerte „alte Bausubstanz“, Bürgerhäuser oder dergleichen gab es nicht. Der ganze Ort war ein bebautes Durcheinander ohne wirkliches Zentrum. Wo früher ausgedehnte Auen und Felder gewesen waren, wurde nun rigoros „umgewidmet“. Dort ein Einkaufszentrum, drüben das Dienstleistungszentrum, hier eine „Uferarkade“ zur Firmenansiedlung, und das Industriegebiet am Thalbach.

Nicht nur die Namen der Bauprojekte, sondern die ganze dahinterstehende Bebauungspolitik trieb seltsame Blüten. Wucherte wie bösartige Krebszellen. Gustl nahm den Gehweg durch den kleinen Wald oberhalb der Gemeindestraße hinauf zum Plateau. Über einige Steinstufen, die zur Umfriedung führten, erreichte man unweit der Kirche das wie eine Kapelle gestaltete Kriegerdenkmal. Meistens lagen dort Kränze. Kerzen brannten. Die Heimkehrer kümmerten sich rührend um die Gedenkstätten für ihre gefallenen Helden.

Gustl dachte an seinen Vater. Der war ein kommunistischer Widerstandskämpfer in diesem unseligen Krieg gewesen – außerdem hatte er überlebt. So gesehen schien er also sicher kein Held zu sein.

Der Vater. Mit seinen grauen, strähnigen Haaren. Als Mensch mochten ihn eigentlich alle, obwohl er mit seiner Einstellung überall aneckte.

Die eigenen Parteifreunde hatten es ihm verübelt, dass er bei einer Versammlung einmal sagte, Kommunismus und Christentum wäre nicht so verschieden, vor allem kein Gegensatz. Jeder wahre Christ wäre ihm lieber als die sogenannten Linken, die erst wieder nur den eigenen Vorteil im Auge hätten.

„Apparatschiks, die nichts Besseres im Sinn haben, als die neue Gesellschaft tot zu rüsten, um die andere Seite zu beeindrucken ...“

Die vom Vater in Schutz genommenen Christen hielten ihm dafür vor, dass er, wenn er auf Nächstenliebe vertrauen würde, ja wohl keine Revolution dazu brauche und keine Diktatur seines Proletariats. Dann könnte er doch auf die Kraft seines Glaubens bauen ... Aber den Glauben an einen lenkenden, denkend Gott hatte Gustls Vater spätestens in diesem Krieg verloren.

Ein paar Unverbesserliche wiederum – ewig Gestrige, mit denen er gelegentlich Karten spielte – schätzten ihn zwar, weil er nicht nachtragend war und darauf verzichtete „die alten Sachen wieder aufzuwärmen“, die sagten aber, dass er eben nur das andere Extrem gewählt hätte.

„Die Russen haben genauso viele Schweinereien gemacht, genau so viel Dreck am Stecken“, hielten sie ihm einmal vor. Da war der Gustl vielleicht sieben oder acht, saß neben seinem Vater auf der Wirtshausbank und kaute an einer Leberkäsesemmel herum.

„Naja, ich jedenfalls nicht“, sagte Vater. „Ja, wir auch nicht.“ Roland, einer der Kartenspieler, wurde immer leicht gereizt, wenn es um Politik ging. „– lassen wir das. Vierzig“, sagte er und spielte aus.

Das war beim Metzger, hinten im Stüberl, wo sich die Einheimischen am Samstag immer zum Kartenspielen trafen. Gespannt verfolgte der Gustl, was die Erwachsenen da plötzlich mit schneidender Stimme zu besprechen hatten. Er merkte, dem Adolf war nicht so ganz wohl in seiner Haut, „Trinkst auch noch einen?“, fragte dieser den Vater. Gustl verhielt sich still.

Erst daheim wollte er dann wissen, was mit dem Adolf in dem Moment los war, warum der so seltsam geschaut hatte.

„Ach weißt, Gustl“, sagte sein Vater, „der Adolf hat nicht nur den gleichen Namen wie der Schickelgruber, der hat sich damals viel von den angekündigten Neuerungen versprochen. Und er hat halt vieles nicht sehen wollen, was so passiert ist. Das tut ihm jetzt leid ...“

Was er denn getan hätte, wollte Gustl wissen, aber der Vater sagte nicht viel. Nur, dass Adolf im Grunde bestimmt nichts Böses wollte. Dass er halt wie so viele andere damals einfach mit den falschen Mitteln versucht hatte, die schlechte Zeit zu meistern ...

Den Adolf konnte der Gustl eigentlich immer gut leiden. Der kam früher auch oft zu ihnen nach Hause, mit seiner Frau, der Eva. Dann wurde Karten gespielt. Bauernschnapsen. Frauen gegen die Männer. Gustl saß daneben und „kiebitzte“. Während aber der Adolf noch lachen konnte, selbst wenn Gustl gar einmal seine Karten verriet, schimpften Eva und die Mutter schnell einmal.

 

Adolf erklärte ihm dann jedes Mal, dass die „Damen“ ohnehin schon so einen schweren Stand hätten. Und wenn die Frauen dann lautstark protestierten, lachte er noch mehr und drohte ihnen einen „Schneider“ an.

Und bevor Adolf mit der Eva heimging, steckte er Gustl meistens noch einen Fünfziger oder einen Hunderter zu. „Für die neue Angelrute“, sagte er und sagte es auch noch, als der Gustl schon längst eine neue gekauft hatte.

Das letzte was Gustl vom Adolf gehört hatte war, dass sein Sohn bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Viele aus dem Ort meinten damals, er hätte das Tunnelportal extra anvisiert, aus Liebeskummer.

„Der Adolf hat sich seither nicht mehr erfangen. Pausenlos redet er vom Umbringen, weil er in seinem Leben noch „nie nichts“ richtig gemacht hätte. Nicht einmal den Sohn hätt’ er vor seinem Schicksal bewahren können ... Die Eva ist schon ganz verzweifelt, dass er sich auch noch was antut“, hatte der Vater erzählt.

Gustl tat der Adolf leid, was er auch falsch gemacht hatte in seinem Leben, er war ein netter Kerl und vor allem war er immer nett zu ihm.

Dem Adolf sollte er wieder einmal schreiben ...

Gleich hinter dem Kriegerdenkmal lag Richtung Südost der Friedhof. Gustl musste kurz stehen bleiben und verschnaufen. Das Atmen ging immer schwerer.

Über die Friedhofsmauer lugten die Flachdächer der Siebzigerjahre-Siedlung herüber, daneben kam eine Reihenhaussiedlung aus der zehn Jahre späteren „Epoche“, dann die größeren Mehrfamilienhäuser, Baustil „Neue Heimat“. Dahinter standen schon die Häuser, in denen auch Gottfried und er ihre Wohnungen hatten.

Von Gustls Balkon aus konnte man in dieser Richtung die Kalkberge östlich vom Traunstein sehen. Priel, Warscheneck und Pyhrgas zum Beispiel, oder etwas weiter östlich das Sengsen-Gebirge. Dazwischen schien es nur Felder zu geben, Wälder und Wiesen. Die Sicht auf die Berge war wichtig für ihn, er war inmitten von Bergen aufgewachsen. Jetzt in der Ebene fühlte er sich immer ein bisschen unwohl, „da zerfließt irgendwie alles, da kommt man nirgends her und geht nirgends hin, ein Hügel um den anderen ...“

Es war für ihn einer der triftigen Gründe, sich diese Wohnung hier zu mieten: die Sicht auf die Berge. Obwohl sie viel mehr kostete als die Wohnung in der Stadt drüben. Freilich, gleich in der Senke hinter den Buchen am Hügel drüben, befand sich das Industriezentrum, aber das konnte man weder sehen noch riechen. Und wenn die entfernten Kalkfelsen in der Früh im ersten Licht der Sonne ganz rot leuchteten, fing der Tag schon anders an…

„Seit dieser Bürgermeister im Amt ist, entstehen nur mehr Zentren“, dachte er, „der ist schon ein besonderer Fall, zuerst geht er auf Stimmenfang und wenn er dann die Versprechen nicht halten kann, gibt er sich als wohltätiger Märtyrer aus, das muss man auch erst einmal können. Der Bürgermeister“, schüttelte er den Kopf.

Zu Hause entkorkte der Gustl eine Flasche Zweigelt, vom Weingut Hannes Igl, Niederösterreich. Biobauer stand auf dem Etikett. Er rief den Gottfried an. „Weiß eh, dass du nichts trinkst, aber ... kommst kurz rüber?“

Gottfried wusste, dass Gustl in solchen Momenten nur ein offenes Ohr brauchte, jemanden der seinen Gedanken und Ausführungen zuhört. Meistens sprach er in einem Monolog über Gott und die Welt. Manchmal hatte der Gottfried das Gefühl, die Vorzeichen hätten sich umgekehrt. Nun trank oft der Gustl viel zu viel Wein und Gottfried versuchte ihn zu stabilisieren.

„Er ist so ein oberwichtiger Wichtling, der Herr Ortsvorsteher, der Schrebergartendiktator, mit seinem Zahnpasta-Lachen ... Glaubt, der Ort ist seine Privatangelegenheit. Lebensqualität hört offenbar bei seinem Gartenzaun auf. Alles, was außerhalb liegt, ist ihm völlig egal. Er wäre dem Gemeindewohl verpflichtet? Das wird er anders gemeint haben ... uns hat er gemeint, die wir ihm beipflichten sollten ... Ja! Das hätte er gern. Brave Bürger, die ihn wählen und dann schalten und walten lassen, ohne auch nur nachzufragen. So sind diese Leute eben ... und die Welt wird sich wohl so schnell nicht ändern.“

Und noch ein Glas Wein vom Hannes Igl, Biobauer ... um des Genusses Willen – auch um betrunken zu sein, um zu vergessen. Vor allem aber wegen der Schmerzen.

Das letzte EKG war nicht unbedingt zur Zufriedenheit der Ärzte ausgefallen. Schonen sollte er sich, aber schonen, das hieß schon wieder so ein bisschen Mund zu und akzeptieren, damit dann so Leute wie der Bürgermeister ihre gesegnete Ruhe haben.

„In Wels drüben stehen Wohnungen frei. Ich hab beim Bauausschuss der Landesregierung angerufen, die sagen, dass im Bereich Wels ein gehöriger ,Wohnungsüberschuss‘ besteht. Für Thalheim ist angeblich überhaupt nur ein einziger Wohnungssuchender vorgemerkt – der in der Stadt drüben auf Anhieb fünf Wohnungen beziehen könnte ...

Und trotzdem soll da vor unseren Fenstern ein geförderter Wohnbau mit so um die vierzig Wohnungen entstehen ... für sozial Bedürftige, so ein Wahnsinn! Ich sag’s dir, der Bürgermeister und sein feiner Freund Fellinger von der Novum, die kassieren da mit. Die verdienen sich mit solchen Vergaben eine goldene Nase – die sind korrupt. Korrupte Hunde. So ist die Welt ...“

„He – mach mal einen Punkt!“, versuchte ihn Gottfried zu beruhigen, „wir werden tun, was wir tun können, dieses Projekt zu verhindern, aber wirklich wehren, dazu fehlen uns die Mittel – das letzte Wort hat der Bürgermeister ...“

„Ja, aber so ein Bürgermeister kann einem das Dasein verleiden. Vielleicht ist es ohnehin besser, wenn es dann einmal vorbei sein wird. Leben heißt leiden, sagen die Buddhisten. Sterben ist Erlösung, meinen die Katholiken ...“

Mit Gustl war nicht gut reden, wenn er in so einer Stimmung war. Dann kam er vom Hundertsten ins Tausendste. Er schenkte sich nach.

„Weißt du Gottfried, so ein klein wenig sind wir sicher alle wie dieser Bürgermeister ... suchen den geringsten Widerstand, sind auf den eigenen Vorteil bedacht. Aber Gelegenheit macht Diebe – und dieser Edtauer sucht jede Gelegenheit. Die einfachen Leute, die Masse, die arbeiten acht bis zehn Stunden am Tag, die haben dazu keine Gelegenheit. Die arbeiten hie und da einmal schwarz und verdienen sich einen Hunderter zusätzlich, das ist alles. Und sogar den Hunderter geben sie sozusagen im Sinn der seltsamen Volkswirtschaft aus – kaufen sich einen Fernseher oder sonst einen Blödsinn, weil sie für aktive Freizeitbeschäftigung zu müde sind. Da ist es schon leichter, sich berieseln zu lassen.

Und diese Berieselung zerstört die Menschen. Nimm das Fernsehen. Du brauchst nur bei einem der dämlichen Werbespots den Ton abdrehen und die Leute blöd grinsend durch die Gegend hampeln sehen, oder bei irgend so einer Seifenoper die Augen schließen und den wirklich schwachen, ewig gleichen Dialogen zuhören ...

Nach einer Schicht in der Fabrik, wo du acht oder zehn Stunden lang die produzierten Stücke gezählt hast. Das ist wie ein Leben lang auf einer Autobahnbrücke stehen und die Autos zählen, die vorbei fahren ... irgendwann springt man.

Handwerk ist nichts mehr wert. Rationell muss alles sein. Die Vereinfachung erhöht den Lebensstandard. Sagt man. Dabei zerstört sie das Denken. Der Bauer muss nicht hart am Feld schuften, sondern sitzt am Traktor. Der Maschinenschlosser fräst und dreht nicht mehr, er überwacht die Arbeiten eines Computers. Die Hausfrau putzt und schrubbt nicht mehr, sie saugt, die Wäsche erledigt auf Knopfdruck eine Maschine, vollautomatisch.

Trotz dieser Erleichterungen arbeiten alle wie die Blöden und vielleicht noch zusätzlich in der Freizeit schwarz, damit sie sich den Fernseher auch leisten können, mit dem sie dann ihren letzten Rest Freizeit verbringen. Oder das Fitnessstudio, weil sie sonst zu wenig Bewegung haben.

Zweifellos, die organisierte Welt bietet unendliche Vorteile und Möglichkeiten. Nutzen können diese Vorteile allerdings nur wenige. Nutzen können sie nur jene, die an den Schalthebeln sitzen – und wenn es die einer Gemeinde sind.

Aber der Edtauer ist schon so ein Kerl, der müsste doch eigentlich für seine Gemeindebürger da sein, stattdessen vertritt er nur das Interesse des reichsten Bauherren im Ort und so einer schimpft sich Sozialdemokrat ...“

Gottfried wurde es irgendwann zu viel. Er kannte den Text. Auch Gustl wiederholte sich mit seinen Ausführungen wie ein Schichtarbeiter am Fließband. „Ich geh jetzt rüber“, sagte er, „muss morgen wieder früh raus ...“

Gustl nickte nur, „Ok. Mach das. Gute Nacht – wir geben nicht auf, Gottfried! Wir geben nicht auf! Den werden wir biegen, den Vorgartentyrannen ...“

„Ja machen wir!“, lachte sein Cousin, dann fiel die Tür ins Schloss.

Gustl fühlte sich krank. Da war wieder dieses fiebrig-elektrische Kribbeln in der Magengegend, dieses Ziehen in der Schulter, den Arm entlang bis in die Fingerspitzen und das Druckgefühl oberhalb des linken Oberschenkels.

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