Gefangen im Gezeitenstrom

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„Na gut, Oliver, und du behauptest immer noch, niemanden von der Bande erkannt zu haben?“

„So ist es …“

„Okay, würdest du allenfalls die Kerle anhand von Fahndungsfotos wiedererkennen?“

„Eher nein! Wissen Sie, diese Typen sehen doch alle gleich aus: kurze schwarze Haare, Visage wie ein Pflasterstein – meist unter einer Kapuze versteckt –, kanakisch sprechend und was die Älteren betrifft: das Arbeitslosengeld für den Sixpack im Kraftraum abschwitzend!“

„Ja, du hast recht, das macht die Suche nicht gerade einfach“, sagte der Jüngere. „Übrigens, wusstest du, dass muslimische Extremisten gezielt Jagd auf diese schwarz gekleideten Jugendlichen machen, auf diese … diese Typen mit den Pony-Frisuren und den Piercings im Gesicht? Wie nennt man sie schon …?“

„Emo-Kids oder einfach Emos“, erklärte ich. „Nein, wusste ich nicht. Nie etwas davon gehört“, log ich.

„Ach ja“, der Ältere steckte mir eine Visitenkarte zu. „Falls dir doch noch etwas einfallen sollte …“

Er stand auf und reichte mir die Hand. Für sie war die Vernehmung beendet. Ich erhob mich ebenfalls.

„Ja, da ist noch etwas, das Sie wissen sollten: Die Typen, die Sie suchen, sind nicht von hier. Die sind überall und doch nirgendwo zu Hause. An unserer Schule haben über achtzig Prozent aller Schüler einen Migrationshintergrund. Die meisten dieser Kids leben vorwiegend auf der Straße, weil beide Elternteile jobben müssen. Erwarten Sie von uns also bitte nicht den gleichen IQ-Klassenschnitt wie zum Beispiel von solchen der International School!“

„Oh, ich denke, das kann man so nicht sagen …“

„Doch, doch. Für unsereiner sind das fast schon elitäre Verhältnisse!“

„Schon gut, mein Junge. Ich versteh dich. Aber das bringt uns nicht weiter. Für heute sind wir fertig. Du kannst gehen!“, sagte der Ältere.

Unter der Tür blieb ich stehen und drehte mich nochmals um. „Ich weiß nicht, ob es Ihnen weiterhilft: Sie nennen ihren Anführer Häuptling!“

Ich glaube, ich war nie so schnell wieder in der Klasse.

Als der Unterricht endlich vorbei war, standen viele Schüler gruppenweise zusammen und diskutierten eifrig, wer was der Polizei erzählt hatte – diese Blödmänner! Ich packte meine Sachen und machte, dass ich nach Hause kam.

5

Eine Woche später hatte ich das Geschehene so weit psychisch verarbeitet, dass ich mich stark genug fühlte, Dennis im Kantonsspital zu besuchen. Immerhin war er mein Klassenkamerad und er hätte vom Typ her eigentlich sehr gut in unsere Clique gepasst, die sich damals so allmählich herauszubilden begann.

Noch am Telefon hatte mir die Dame vom Empfang gesagt, dass Dennis so weit wieder okay sei, dass man ihn von der Intensivstation in die chirurgische Abteilung habe verlegen können. Das beruhigte mich zunächst enorm.

Der Fahrstuhl brachte mich auf die entsprechende Etage. Ich begab mich zum Stationsbüro und fragte nach Dennis’ Zimmernummer. Eine überaus freundliche Krankenschwester erklärte mir, dass er soeben zurechtgemacht werde, um erstmals wieder das Bett zu verlassen. Er sei aber noch sehr geschwächt und wegen der vielen Schmerzmittel befinde er sich oft in einem Dämmerzustand, weshalb größere Kommunikationen vorerst nicht zu erwarten seien. Über einen Besuch aber werde er sich bestimmt freuen.

Sie wies mich an, in einer Besucherecke Platz zu nehmen und zu warten, man werde Dennis im Rollstuhl dorthin bringen. Die bequemen Polstersessel entschädigten für die längere Wartezeit. Ich warf ein paar Münzen in einen Getränkeautomaten und ließ eine Flasche Cola heraus.

Dann endlich wurde weit hinten im Flur eine Tür geöffnet und ein junger Pfleger rollte einen Patienten heraus, der mit dem bekannten Dennis, dem Emo-Boy, kaum noch Ähnlichkeiten hatte. Okay, ich bin schon ziemlich erschrocken und schluckte zuerst einmal leer, versuchte jedoch mir weiter nichts anmerken zu lassen.

„So, da wären wir!“, sagte der Pfleger, stellte den Rollstuhl vor mich hin und fixierte das Bremspedal. „Ich lass euch jetzt allein. Wenn ihr was braucht … ich bin im Stationsbüro.“ Damit verschwand er mit federnden Schritten.

Um Dennis’ ohnehin schmächtigen Körper, der jetzt noch dünner und zerbrechlicher geworden schien, schlotterte ein nun viel zu groß wirkender Pyjama, der aber immerhin etwas Farbe ins Bild brachte. Da, wo früher eine wunderbare schwarze Mähne den Kopf zierte, war alles kahl geschoren. Stattdessen trug er einen dicken, einem Turban ähnlichen Verband, die Nase verschwand ebenfalls unter einer dicken Lage Mull und ein dunkelblau verfärbtes Auge war gänzlich zugeschwollen. Seine Unterarme ruhten kraftlos auf den seitlichen Armlehnen. Im rechten steckte die Nadel mit zwei Infusionsschläuchen dran, denn ich begriff, dass er mit seinem malträtierten Gesicht kaum in der Lage war, feste Nahrung zu sich zu nehmen.

„Hi, Dennis, wie geht’s?“, fragte ich ziemlich doof, aber es half wenigstens, die erdrückende Stille im Raum zu beenden.

Er sah mich eine Weile lang mit seinem heilen Auge an, dann bewegten sich zaghaft seine Lippen und er hauchte ein mattes „Beschissen!“ hervor.

In dem Moment hätte ich vor Freude aufspringen und ihn umarmen können. Denn er hatte mich verstanden und den Umständen entsprechend korrekt geantwortet.

„Hast du Schmerzen?“, fragte ich weiter.

Ein tiefer Atemzug ließ seine schmale Brust erbeben, dann versuchte er mit einer sachten Kopfbewegung ein „Nein“ anzudeuten.

„Du bist ein Schwindler!“, sagte ich, denn man sah ihm an, dass er sehr wohl noch starke Schmerzen hatte. Tatsächlich dauerte es noch sehr lange, bis sie gänzlich verschwunden waren und er seine Feinmotorik wieder einigermaßen in den Griff bekam.

Aus reiner Verlegenheit versuchte ich Dennis mit albernen Sprüchen aufzuheitern, wobei ich mir nicht ganz sicher war, ob sie bei ihm auf dem richtigen Ohr gelandet waren. Jedenfalls gelang es ihm kaum, so etwas wie ein Lächeln zustande zu bringen. Dennoch war ich froh, auf diese Weise wenigstens ein paar langatmige Minuten totgeschlagen zu haben, und ich setzte meinen Monolog fort, indem ich Dennis die aktuellsten News aus unserer Schule erzählte. Dann wagte ich einen neuen Versuch und fragte einfach so, um die Situation auszuloten: „Kennst du die Typen, die dich so zugerichtet haben?“

Dennis schien nachzudenken. Jedoch gelang es ihm nicht, sich auf Namen zu konzentrieren. Wieder versuchte er es vorsichtig mit Kopfschütteln. Plötzlich perlten aus seinem gesunden Auge dicke Tränen.

Ich weiß: Es ist verdammt uncool, aber in diesem Augenblick rollten auch mir einige Tränen die Wangen runter. Ich konnte einfach nicht anders. Ich beugte mich vor und umarmte Dennis so sanft wie nur möglich.

„Es tut mir so leid, dass ich dir nicht helfen konnte“, sagte ich mit tränenerstickter Stimme. „Weißt du, du fehlst mir. Ich vermisse dich. Du warst immer so ein cooler und dennoch aufgestellter Typ. Du fehlst uns in der Klasse. Irgendwie ist es einfach nicht mehr so wie früher – so ohne dich.“ Wir schwiegen uns eine Weile lang an, dann versuchte ich mit zittriger Stimme zu erklären: „Weißt du, damals auf dem Schulhof, irgendetwas ist auch in mir kaputtgegangen.“ Und nach einer längeren Pause ergänzte ich, baren Optimismus versprühend: „Ich verspreche dir: Ich werde dafür sorgen, dass die Kerle ihre gerechte Strafe bekommen!“ Obwohl ich natürlich keine Ahnung hatte, wie ich dieses Versprechen einlösen könnte.

Ich erhob mich und bereitete mich für den Abgang vor. Beim Hinausgehen drehte ich mich nochmals um und erklärte Dennis den Tarif: „Nächstes Mal, wenn ich wiederkomme, bist du diese verdammten Schläuche los! Dann bring ich dir einen schönen großen Cheeseburger mit viel Bratspeck und einen als Mineralwasser getarnten Wodka-Redbull. Hast du kapiert?“

Tatsächlich brachte er es fertig, seinen Mund zu einem schiefen Grinsen zu verziehen, und nickte einmal vorsichtig mit dem Kopf.

Noch auf dem Heimweg dämmerte es mir: Um aus diesem Schlamassel auszubrechen, musste ich etwas ändern, ohne genau zu wissen was. Aber eines war mir klar: Ich musste es sofort tun, und zwar allein. Ich beschloss, meinen Alten nichts zu sagen. Die sind sowieso mit ihren eigenen Dingen beschäftigt. Jedoch, da gibt es diesen Karl Bollinger, der im Allgemeinen Charly genannt wird, und dessen Vater, Ruedi, in der Altstadt in einem heruntergekommenen Gewerbehaus eine Muckibude betreibt.

Charly und ich sind seit dem ersten Schuljahr befreundet. Er zeigte bald einmal so etwas wie Erbarmen mit mir und nahm mich eines Abends nach Schulschluss mit in den Kraftraum und sein Vater willigte ein – nicht gerade mit Begeisterung –, mich in Begleitung seines Sohnes gratis trainieren zu lassen. Den Kosten für ein weiteres Fitnessabo hätten meine Alten sowieso nicht noch einmal zugesprochen.

Von nun an begab ich mich mehrmals wöchentlich ins Krafttraining und stellte bewusst auf eine kalorienreiche Ernährung um, mit vielen Pastagerichten, Käse, Milch und Eiern. Ich schuftete und rackerte mich bis zum Umfallen ab, stemmte Gewichte, trainierte Liegestütze und Sit-ups. Und tatsächlich, nach ein paar Monaten zeichnete sich die Umwandlung schon deutlich ab. Aus der spindeldürren Bohnenstange begann so etwas wie ein gestählter Jüngling heranzuwachsen, jedenfalls entsprach das der Ansicht meiner Alten – deshalb glaube ich nicht, dass ich mir das nur eingebildet habe, und ich schwöre: Ich habe nicht mit chemischen Aufbaupräparaten nachgeholfen!

Mit den zunehmenden Muskelmassen wuchs – wenn auch in geringerem Maße – mein lädiertes Selbstvertrauen. Trotzdem blieben die in der Kindheit erlittenen Demütigungen in meiner Seele eingeätzt. Auch wenn die Narben mit der Zeit etwas weichere Konturen erhielten, so blieben immer noch Kratzer zurück, vergleichbar mit jenen auf alten Vinyl-Platten. Vergeblich versuchte ich diese Dämonen der Vergangenheit zu verdrängen, es gelang mir nie vollständig. Immer wieder stießen sie aus dem Hinterhalt vor und piesackten mich und ich konnte nicht anders, als mit Zorn zu reagieren.

 

Und dann kam dieser beschissene Tag X. Der erste, der mit einem Albtraum begann: Ich stehe am Flussufer. Irgendwo, mit viel Wald herum. Keine Menschen. Ich bin allein; und halbnackt, nur mit meiner Badehose bekleidet. Die Luft ist warm und ich weiß, dass ich mich zum Schwimmen vorbereitet habe. Aber ich stehe nur zögernd da und beobachte das andere Ufer. Unter meinen Füßen fühle ich feuchten Kies. Ganz deutlich sticht mir der Geruch faulender Algen in die Nase. Ich zögere immer noch, schaue über die gemächlich dahintreibende Wasserfläche. Dann raffe ich mich auf und wage die nächsten Schritte. Ich fühle, wie kühles Wasser an meinen Beinen leckt.

Ich lasse mich hineingleiten und werde sogleich von der Strömung weggetragen. Das Schwimmen ist angenehm. An nichts denken müssen. Sich treiben lassen. Die Freiheit spüren. Ich betrachte weiterhin die von Wäldern gesäumten Ufer, denn etwas anderes gibt es nicht, das die Aufmerksamkeit auf sich hätte lenken können. Nur endloses Grün, das beinahe lautlos vorüberzieht. Und doch, da ist etwas Fremdes, etwas Außergewöhnliches. Ich brauche eine Weile, bis mir klar wird, was es ist. Ein herrlicher Tag, mitten im Hochsommer, und ich bin ganz allein! Wo sind all die Boote, die Schwimmer, die Ausflügler an den Grillplätzen?

Und nun nehme ich auch die Veränderungen wahr, die ich bis anhin verdrängt habe. Fast unmerklich hat sich die Strömung beschleunigt. Die Bäume am Ufer ziehen immer schneller vorbei, das Wasser jedoch bleibt zu meiner Überraschung ruhig, ja es wirkt fast träge. Kaum Wellen. Und noch eine Veränderung stellt sich allmählich ein: Das helle Sonnenlicht wird plötzlich weniger. Wie im Kino, wenn das Licht langsam heruntergedimmt wird. Aber ganz dunkel wird es nicht. Eher wie bei Vollmond, obwohl nirgends einer zu sehen ist. Die schwarzen Silhouetten der Bäume und die Konturen der Hügel ringsum sind sehr gut zu erkennen und für einen Augenblick glaube ich zu wissen, wo ich mich gerade befinde.

Für weitere Gedanken reicht meine Zeit jedoch nicht, denn plötzlich höre ich gurgelnde oder eher saugende Geräusche, vielleicht einhundert Meter vor mir; und die Strömung wird immer schneller. Dann sehe ich in diesem merkwürdigen Licht- und Schattenspiel das sich leicht kräuselnde Wasser und im nächsten Augenblick den riesigen Wirbel, der beinahe die ganze Flussbreite einzunehmen scheint.

Helle Panik ergreift mich, als mir schlagartig bewusst wird, dass ich nicht mehr ans rettende Ufer schwimmen kann. Mein Herz rast und ich versuche mit wilden Schwimmbewegungen meinem Schicksal zu entrinnen. Alles zu spät. Ich werde vom Wirbel erfasst. In schneller werdender Rotation zieht es mich hin zum Zentrum, wo die ganze Wassermasse in einem abgrundtiefen Trichter verschwindet. Grauenhaft widerliche Saug- und Schmatzgeräusche begleiten meinen Untergang, bevor ich gänzlich in den Sog gerissen werde …

Ich weiß nicht, ob ich geschrien habe. Ich erwachte tropfnass geschwitzt mit rasendem Puls und völlig außer Atem. Finsternis umhüllte mich. Ich richtete mich auf und tastete nach dem Lichtschalter. Ich knipste die Nachttischlampe an, zog mein feuchtes T-Shirt aus und rieb damit Brust und Gesicht trocken. Dabei ließ ich meinen Blick mit müden, zusammengekniffenen Augen im Zimmer umherschweifen und augenblicklich begann sich alles zu drehen. Dabei hatte ich am Vorabend gar keinen Alkohol getrunken. Ich sank ins Kissen zurück, ließ jedoch das Licht an. Ich hatte Angst. Angst davor, nochmals einzuschlafen. Ich fühlte mich matt. Trotzdem war ich nicht nur hellwach, nein, ich fühlte mich regelrecht aufgekratzt. Ich wollte nicht mehr einschlafen. Denn ich wusste, meine übelsten Albträume können eine brillante Fortsetzung entwickeln. Darin bin ich ein wahrer Profi.

Eine Weile lang zermarterte ich meinen Kopf mit dem Versuch, etwas über die Bedeutung des Traumes herauszufinden. Jedoch – da war nichts, das einen Sinn ergeben hätte. Lediglich ein riesengroßes Scheiße quälte sich durch meine Hirnwindungen, aber mein Mund fühlte sich an wie trockenes Leder und war viel zu faul, um irgendetwas, das für meine Psyche von Nutzen gewesen wäre, von sich zu geben.

Mürrisch stand ich auf, schlich lautlos die Treppe nach unten in die Küche und trank ein großes Glas Wasser.

Irgendwann war ich dann doch wieder eingeschlafen, denn mein Wecker schreckte mich frühmorgens unerbittlich und mit brutaler Allmacht aus süßestem Schlummer. Diesmal war mein Mund schneller und stieß ein deutlich hörbares „Scheiße!“ hervor. Ich begab mich ins Bad. Im Spiegel betrachtete ich mit müden Augen dieses zerknautschte Etwas, das abends zuvor einmal mein Gesicht gewesen sein musste, aber gegenwärtig eher an eine Symbiose zwischen einer Figur aus der Muppetshow und einer misslungenen Karikatur von Honoré Daumier erinnerte. Und ich hätte darauf wetten können: In meinem tiefsten Unterbewusstsein habe ich geahnt, dass der Tag genauso beschissen enden würde.

6

Ich habe mich mit ein paar Beuteln Snacks eingedeckt. Irgendetwas mit Käsearoma und Paprika. Ein weiterer Schultag am Zentrum für Berufsbildung neigt sich dem Ende zu. Mittwochabend. Zirka dreizehn Stunden später werde ich schon wieder auf dem Bau sein. Eigentumswohnungen – gehobener Standard. Plattenbau für diejenigen, die es geschafft haben. Schattenlage, aber Aussicht über die Stadt und Balkone so groß, dass man darauf zu viert Tischtennis spielen kann. Am Kiosk schreite ich zielstrebig zum Kühlregal und schnappe mir eine Dose Energydrink als Stärkung für unterwegs. Damit gehe ich langsam zur Kasse, wo weitere Kunden auf Bedienung warten. Ungeduldig trete ich von einem Bein auf das andere. Dann endlich bin ich an der Reihe. Ein unsicheres „Hi!“ kommt über meine Lippen, als ich das Mädchen sehe.

Ein gleichgültiges, abgehacktes „Hi!“ wirft sie mir entgegen, aber mit einer anmutigen Bewegung nimmt sie die Dose und zieht sie über den Scanner. „Ein Franken“, sagt sie im gleichen Tonfall.

Mir schießt das Blut heiß bis in die Ohren. Mein Kopf scheint zu glühen, als sie kurz zu mir hochschaut. Ich stehe wie versteinert da. Sie muss etwa in meinem Alter sein. Vermutlich ist sie eine Schulabgängerin und hat hier kürzlich eine Ausbildung angetreten. Vielleicht auch zehntes Schuljahr, Berufswahlklasse. Schnupperlehre. Jedenfalls etwas, das doch nicht so ganz ihren Erwartungen zu entsprechen scheint.

„Was ist? Hast du kein Geld dabei?“, fragt sie nun etwas ungeduldig.

„Äh, ja … doch … natürlich!“, stottere ich und klaube umständlich ein Frankenstück aus meinem Geldbeutel, das ich ihr mit zitternden Fingern über die Theke reiche.

„Danke“, sagt sie und wirft das Geldstück mit einer gleichgültigen Geste in die Kassenschublade.

Sie sieht wirklich verdammt gut aus. Ihre schulterlangen schwarzen Haare geben den Rahmen für ein wunderschönes, makelloses Gesicht. Auf ihren dunkelbraunen, vollen Lippen hat sie lediglich etwas metallisch glänzendes Lipgloss aufgetragen und an der rechten Augenbraue trägt sie ein Piercing. Dann entdecke ich das Tattoo, das die Innenseite ihres rechten Unterarmes ziert. In der Eile kann ich das Motiv nur flüchtig erkennen. Aber es durchzuckt mich wie ein Blitz. Etwas in der Art eines chinesischen Drachens. Ein anerkennendes „Wow!“ zischt durch meine Gedanken, aber für mehr reicht es nicht. Hinter mir wartet bereits wieder eine ungeduldige Menge Kundschaft. Ein flüchtiges „Tschüss“ gebe ich von mir und schlendere dem Ausgang zu.

Unschlüssig bummle ich über den Platz und biege in die Vorstadt ein. Der Abend ist noch jung und ich habe genügend Zeit, in meinem Plattenladen vorbeizuschauen. Meine linke Hand steckt in der Gesäßtasche, mit der rechten wühle ich mich durch die alphabetisch geordneten CDs. Ich suche keine besondere Scheibe. Ich will auch keine kaufen. Ich brauche nur etwas Zerstreuung. Mit meinen Gedanken schweife ich immer wieder woanders hin – zu dem Mädchen vom Kiosk. Diese Lippen. Das Tattoo. Die anmutige Bewegung mit diesen feinen Händen! Alles an ihr fasziniert mich. In meinem Bauch beginnt es zu kribbeln und ich kann an nichts anderes mehr denken. Nur eines weiß ich: Ich muss sie unbedingt wiedersehen. Ich verlasse den CD-Shop und peile die Bahnhofstraße an, wo ich den Trolleybus nehme, der mich nach Hause bringt.

„Hallo zusammen!“, rufe ich in den Hausflur hinein, als ich die Eingangstür aufstoße und eintrete. Anstelle eines Grußes dringt das Gequassel des viel zu laut aufgedrehten Fernsehers an meine Ohren. Irgendeine Doku-Soap mit Haustieren flimmert über den Bildschirm. Mein Opa hat sich auf dem Sofa hingelümmelt und starrt wie gebannt auf den TV, als irgendein Tierarzt in irgendeiner durchgestylten Klinik für die Viecher der Schicki-Micki-Elite einem potthässlichen Designerköter ohne Fell, dafür mit spitzen Ohren, aus denen graue Haarbüschel hervorsprießen, eine Spritze mit einem Antirheumatikum verpasst. In China hätte man einem solchen Ding längst eins über die Rübe gezogen und es in die Pfanne gehauen. Soll angeblich vorzüglich schmecken, so an einer braunen Soße, mit Bratkartoffeln, Karotten und Zwiebelringen. Aber das ist nur so eine Vermutung.

„Auf der A4 im Weinland hat es schon wieder gekracht“, lässt nun der Opa als Gruß vernehmen. „So ein Volltrottel hat es doch geschafft, die falsche Auffahrt zu nehmen. Dann gab’s einen Frontalen! – Hast du gehört?“

„Jaah“, sage ich ziemlich gleichgültig.

Offenbar sind das die einzigen Themen, die meinen Großvater interessieren. Menschen und Tiere im TV. Dann kann er sich wenigstens noch einbilden, irgendwie mit der Außenwelt in Verbindung zu stehen. Egal, es soll ja auch Leute geben, die sich wochenlang Big Brother reinziehen. Das ist doch echt krank.

„Mutter kommt später nach Hause. Sie ist noch für die Büroreinigung weg. In der Pfanne auf dem Herd liegt ein Stück Fleischkäse. Du sollst es dir warm machen, mit einem Spiegelei zusammen, hat sie gesagt.“

Ich bin echt begeistert.

Kürzlich hat sich Mum für einen Job als Putzfrau am Hauptsitz der Regionalbank beworben. Angeblich, um ihr Taschengeld aufzubessern. Sie hat ihn tatsächlich bekommen. Nun ist sie fast täglich, meist in den Abendstunden, mit Papierkörbeleeren, Bodenschrubben und Schreibtischeabwischen beschäftigt. In der Anzeige hieß es: Fachkraft für Büroreinigung gesucht. Neulich, nach der Berufsschule, ich war mit ein paar Kollegen noch kurz was trinken, da habe ich Mums Gärtner mit seinem Pickup vor der Bank vorfahren sehen. Er ist ausgestiegen und drückte einen Knopf in einer Nische neben dem Haupteingang. Nach einer Weile kam Mum zur Tür, hat ihm aufgemacht und ihn hereingelassen. Klar doch, war längst Feierabend und kein Banker mehr dort. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie die beiden eine tolle Zeit miteinander verbracht haben. Möglicherweise eine schnelle Nummer auf dem Schreibtisch im Direktionszimmer. Warum auch nicht? Dann soll Mum sich meinetwegen doch gleich als Vaginal-Fachverkaufskraft anbieten. Bestimmt hätte sie ein anständiges Einkommen, bei wesentlich geringerem Arbeitsaufwand versteht sich.

Ich hasse es, wenn mein Opa immer Mutter sagt, egal ob er seine Frau, seine Tochter oder seine wirkliche Mutter meint. Er sieht da keinen relevanten Unterschied. Er gehört eben zu jener Sorte Paschas, die sich bis ins hohe Alter bemuttern lassen wollen. Egal von wem.

„Ach ja, wenn es dir nichts ausmacht: Kannst du mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank bringen?“

„Meinetwegen. Aber trink nicht zu viel. Denk an deine Medikamente!“

„Ja, ja! Alkohol wirkt auch blutverdünnend. Hast du gehört?“

„Hab ich. Du solltest aufpassen, dass deine restlichen Hirnzellen vom Alk nicht verdünnt werden!“

Opa knurrt wie eine in den Arsch getretene Bulldogge und sieht mich abgrundtief verachtend an. Wenn Blicke töten könnten, hätte ich wohl kaum die nächsten Minuten überlebt.

Ich stelle die Dose auf das hölzerne Salontischchen mit den eingelassenen beigefarbenen Fliesen, mit irgendwelchen japanischen Schriftzeichen im Zentrum der Tischplatte. Frühe Siebzigerjahre, wie fast alles in unserem Wohnzimmer. Dunkelbrauner Spannteppich mit mintgrünen Streifchen, unter der Tür abgewetzt und Wellen werfend. Unter dem Tischchen ein kleiner bunter Teppich, billiges Perserimitat aus Otto’s, an den Wänden eine kleine Kommode mit verstaubten Nippes, eine unförmige Vitrine, die vermutlich schon seit sieben Generationen weitervererbt wurde, weil sich bis anhin keiner getraut hat, das hässliche Ding endlich einmal dem Sperrmüll mitzugeben. Aber bestimmt war das Teil schon zugegen, als meine Vorfahren noch Bauern waren, und beinhaltet nun die Glotze – einen Philips-Röhrenbildschirm – und Mamas Hausbar, nichts Besonderes, nur billigen Fusel aus dem Aldi, aber von drüben, weil auf der anderen Seite der Sprit noch ne Runde billiger zu haben ist als in den gleichnamigen Läden hierzulande. Neben dem Fenster ist ein schmales Regal aus schwarzen Stahlrohren und höhenverstellbaren Holztablaren, darauf ein paar ausgeblichene Familienfotos und jede Menge verstaubte Bücher, so etwas wie Intellekt suggerierend, jedoch bei näherer Beschau nur Bildbände, über die Schweiz, über den Heimatkanton, über unsere Stadt, wie sie vor hundert Jahren aussah, ein Kochbuch für die gutbürgerliche Küche, die wir nie hatten, ein Riesenwälzer mit deutschen Volksmärchen und einige Jahrgänge mit Sammelbänden aus dem Hause Das Beste. Alles harmloses Zeug eben. Das Proletariat unterhält sich mit Musikantenstadel und Dschungelcamp. Werke von Ernest Hemingway, Leo Tolstoi oder Marcel Proust sind für sie unerreichbare Welten. Namen mit derselben Bedeutung wie etwa spanische Bahnhöfe.

 

„Hast du noch ein Bierglas für mich?“

„Wozu denn das?“

„Einfach so.“

„Machst du neuerdings auf Culture?“

„Blödsinn, ich habe einfach Lust auf ein Bier aus dem Glas.“

Ich zucke die Schultern, aber besorge ihm das Glas und stelle es neben die Dose. Wortlos dreh ich mich weg und begebe mich nach oben auf mein Zimmer. Ich werfe die Sweatshirt-Jacke über die Stuhllehne, streife die Pumas von den Füßen, ohne die Schnürsenkel zu öffnen, und lege mich aufs Bett, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Ich denke nach.

Das Mädchen vom Kiosk. Wie mag es wohl heißen? Ich schließe die Augen. Eigentlich bin ich müde, aber ich kann keine Ruhe finden. Da ist es wieder. Das Kribbeln im Bauch. Nervös setze ich mich auf die Bettkante, nehme mein Handy und öffne die Seite Anrufe in Abwesenheit. Sie ist leer. Ich habe auch nichts anderes erwartet. Dennoch bin ich ein wenig enttäuscht. Ich öffne den Speicher und wähle Charlys Nummer. Ich muss es etliche Male summen lassen, bis mein Freund endlich rangeht.

„Hallo!“, krächzt es aus dem Handy.

„Hi, Kumpel! Ich bin’s, Oliver. Hast du Lust auf nen Drink?“

„Hi, Olli! Ja, schon, warum nicht? Aber ich habe noch in der Bude zu tun. Bei mir wird es später werden“, meldet sich Charly. Er ist der Einzige, der mich mit einem Kürzel ansprechen darf. Ansonsten hasse ich diese meist doofen Verkleinerungsformen.

„Kein Problem!“, sage ich. „Bei der Gelegenheit schaue ich noch schnell bei euch rein. Dann können wir noch wo hingehen, wenn du den Laden dichtmachst.“

„Okay, dann bis nachher!“, antwortet er. Ich drücke die rote Hörertaste und stecke das Handy weg.

Ich hole meine Sporttasche aus dem Schrank, schmeiße die Indoorschuhe und ein paar gebrauchte Sportklamotten sowie Duschzeug hinein, ziehe meine Sachen wieder an und hänge die Tasche mit dem Tragriemen über die Schulter. Dann verlasse ich das Haus und mache mich auf zur Bushaltestelle.

Das Studio RUEDIS POWER befindet sich am Rande der Altstadt in einer baufälligen Gewerbeliegenschaft, die den Anschein macht, als würden demnächst die Bagger auffahren, um Platz zu schaffen für eine zeitgemäße Überbauung mit Büros und Dienstleistungsunternehmen.

Als ich in die Gasse gelange, in der das Studio liegt, setzt leichter Nieselregen ein. Ich schlage angeekelt die Kapuze meiner Jacke über den Kopf. „Scheißwetter!“, gebe ich resigniert von mir. Ich eile an einer Zeile mit heruntergekommenen Fassaden und blinden Fenstern vorbei, wo irgend so ein Realo God was never on your side hingesprayt hat. Wenig später erreiche ich den Haupteingang zum Gewerbehaus.

Im Erdgeschoss befindet sich eine Reparaturwerkstätte für Mofas und Fahrräder, mit dem vielsagenden Firmennamen A – Z. Der Inhaber, Herr Albert Zipsin, ein kleiner kauziger Typ mit Vollglatze, der schon bald eine Sechzig auf dem Rücken tragen wird, betreibt hier ein Ein-Mann-Unternehmen. Hauptsächlich der Kohle wegen, da er sich einen vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand nicht leisten könne, gibt er unumwunden zu, wohl aber auch, um seiner Lebenspartnerin, einer gewissen Ingrid Wullimann, nicht allzu sehr auf den Keks zu gehen.

Die beiden haben sich auf irgend so einer Tanzveranstaltung des evangelischen Frauenbundes kennengelernt. Ingrid ist eine resolute Frau und alles andere als ein sensibles Hausmütterchen. Sie macht einen intelligenten und gebildeten Eindruck, und – so hat es mir Albert freudestrahlend einmal erklärt – sie nutzt ihren Tag für Besseres als nur Fernsehen und Kuchenbacken.

Obwohl sie gut einen Kopf größer als Albert und bestimmt zweimal so breit ist, scheinen sie wie füreinander geschaffen. Nach Möglichkeit bestreiten sie ihre Unternehmungen wie Urlaub, Kino, Theater und dergleichen zusammen. Ihre gemeinsame Wohnung liegt direkt über seinem Arbeitsplatz, allerdings im zweiten Stock. Da kann es durchaus von Vorteil sein, nicht nur ein eigenes Zimmer als Rückzugsmöglichkeit zu haben, sondern auch eine zwar veraltete, aber immer noch brauchbare Werkstatt, ein privates Refugium, einen heiligen Ort der Zuflucht und der Inspiration.

Denn eines weiß Albert Zipsin mit Sicherheit: Auf keinen Fall will er so enden wie die meisten seiner Kneipenkollegen, verstockt, mürrisch und stets unzufrieden mit sich und der Umwelt, und am Stammtisch nur ein Thema kennen, das vor allen anderen Themen punkto Wichtigkeit stets die Bestsellerliste anführt. Nämlich die eigenen kleineren und größeren Gebresten, die Unfähigkeit der Therapeuten und die der Ärzte sowieso.

Nein, er will sich, so lange es seine Gesundheit zulässt, nützlich in die Gesellschaft einbringen, und sein privates Biotop der Mechanik hilft ihm dabei, mit der schmuddelig-schummrigen Atmosphäre, dem chaotisch-kreativen Durcheinander von angerosteten Auspufftöpfen, Schutzblechen, fettstarren Fahrradketten, penetrant nach Kautschuk riechenden Luftschläuchen, verstaubten Pneus und mit dem allgegenwärtigen Geruch von Schmieröl und Zweitaktbenzin.

Ich kenne die urtümliche Werkstätte und ihren ebensolchen Besitzer von Kindsbeinen an. Ich liebe diesen Mikrokosmos am Rande der Altstadt. Dieses bisschen Leben, das in Form von metallischem Hämmern oder Motorengeknatter auf die Gasse dringt, wenn Albert Zipsin wieder einmal einen uralten Puch Velux zum Laufen bringen will, und das sich doch so sehr von dem Leben unterscheidet, das sich in den angesagten Lokalen, in den Clubs und Bars oder in den trendigen Modeboutiquen in der Fußgängerzone abspielt. Ich liebe diese Biosphäre, die ohne großen Aufwand so viel Abenteuer ausstrahlt und die Fantasie über alle Maßen anregt. Und ich liebe Albert Zipsin, diesen Mann, der auf mich schon damals alt, gütig und weise wirkte, der stets einen dunkelblauen, schmutzig-öligen Overall trägt und mir, dem fremden Jungen aus dem Außenquartier, schon früh das Du anbot, ohne nach dessen Name und Herkunft zu fragen.

Ich bin glücklich an diesem Ort. Albert strahlt etwas Spitzbubenhaftes, zugleich etwas Väterliches aus und ist auf eine besondere Art verschroben. Eigenschaften, die ich sowohl an meinem Erzeuger wie auch an Opa stets vermisst habe. Schon als Kind fühlte ich mich zu Albert hingezogen, besuchte ihn nach der Schule in seiner Werkstatt, wo ich mich auf einen abgewetzten Schemel setzte und dem Meister eine Stunde lang mehr oder weniger stumm bei der Arbeit zuschaute. Dann plötzlich schoss ich vom Stuhl hoch und verließ mit einem knappen Gruß die Bude, um eventuell schon am nächsten Tag wieder vor Alberts Tür zu stehen. Er ließ mich gewähren, bot mir Einlass und begann seinem sonst scheuen und wortkargen Gast Geschichten aus seinem Leben zu erzählen. Und er begann mich, diesen kleinen und spindeldürren Sonderling, zu mögen.