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Er wusste, dass er in den Händen professioneller Killer war, und die würden nicht zögern, ihn abzuservieren, wenn er zu fliehen versuchte. Allerdings erst, wenn sie das Geld hatten, oder nicht? Der Ex-Direktor begann fieberhaft nachzudenken. Vielleicht konnte er auf dem langen Flug über den Atlantik das Bordpersonal bitten, die Polizei von George Town zu benachrichtigen und sich nach der Landung dann von dieser in Schutzhaft nehmen lassen. Einfach Lärm schlagen und beten, dass die Geheimdienstler das Licht der Öffentlichkeit zu sehr scheuten, um sich an ihm zu vergreifen, solange andere Menschen in der Nähe waren. Man würde sehen, die Chancen standen schlecht, aber nicht mehr so schlecht wie vor kurzer Zeit noch in seiner kalten Zelle.



Sie begaben sich zum Flugsteig und Kuljamin, der vor Müdigkeit fröstelte und Angst vor dem Fliegen hatte, machte gute Miene zum bösen Spiel und lächelte, was das Zeug hielt.





*







Dubna, Region Moskau





Ein Telefonat zwischen dem Absender der heiklen Mail und dem beabsichtigten Empfänger brachte schnell ans Licht, dass die bewusste Nachricht irregeleitet worden war.



„Wahrscheinlich wieder ein Tippfehler, wir werden gleich herausfinden, wo dieses Ding gelandet ist. Wir hatten schon in der Vergangenheit ein paar Kandidaten, die dafür in Frage kommen.“



„Beeilt euch, diese Meldung darf auf keinen Fall die Runde machen, man reißt uns sonst die Rübe ab.“



Sie fanden nach einem Einbruch in seinen Rechner schnell heraus, dass der alte Weksler nicht nur die Nachricht empfangen und geöffnet hatte, sondern auch, dass sie auf irgendein Speichermedium kopiert worden war. Der Regionsvorsteher des FSB bekam einen Wutanfall und schickte sofort drei seiner Schläger zum unweit gelegenen Büro des Alten.



Der hatte in der Zwischenzeit derlei Verdruss kommen sehen und die Mail samt Anhang von seinem Computer gelöscht. Aber seine Vorsicht kam zu spät, was er realisierte, als seine Bürotür sich öffnete, ohne dass sich jemand die Mühe gemacht hätte anzuklopfen. Die drei Männer, die eintraten, kannte er zwar nicht persönlich, aber die Art ihres Auftretens sprach für sich. Sein Herz begann schneller zu schlagen.



„Sie haben nur zwei Möglichkeiten, Iossif Wladimirowitsch, und ich rate Ihnen dringend zur ersten. Die lautet: Reden Sie.“



Weksler wusste es nicht, aber sie hatten den Auftrag, ihn mit Rücksicht auf sein Alter und den berühmten Namen, den er trug, zuvorkommend zu behandeln. Sollte er sich aber weigern, mit ihnen zu kooperieren, so hatten sie freie Hand, in eigenem Ermessen Druck auszuüben, bis er ausspuckte, was er mit der fraglichen Mail gemacht hatte. Der Vorsteher meinte damit vielleicht ein paar Maulschellen, eine Kopfnuss oder eine kleine Daumenschraube, aber seine Männer dachten in völlig anderen Maßstäben.



Was Weksler ebenfalls nicht wusste, weil er sich nur wenig mit solchen Ungeheuerlichkeiten wie Folter befasst hatte: Er würde reden, so wie bisher noch jeder geredet hatte.



Und so kam es zunächst, dass er ihnen trotzig in die Augen blickte und fürs Erste stumm blieb wie ein Fisch. Es blieb einige Sekunden still, dann flüsterte der Älteste der Männer ein einziges Wort.



„Mitkommen.“



Einer der drei Agenten riss ihn hoch und bugsierte ihn in Richtung Tür. Er sollte sein Büro niemals wieder betreten.



Der Weg zu dem Kellerverlies war kurz, einen im Halbdunklen liegenden Gang entlang, dann zwei Treppen hinunter und noch ein paar Schritte nach rechts in einen neuen, noch dunkleren Gang, in dem es nach Moder und Urin roch.



Der Wortführer des Trios zog einen Schlüsselbund aus der Manteltasche und schloss eine Tür auf. Der kleine Raum dahinter sah wenig einladend aus. Als erstes fiel Weksler auf, dass es kein Kellerfenster gab und der Raum auch im Winter nicht geheizt wurde. Es war feucht und bitterkalt.



„Ausziehen, aber dalli!“



Allmählich wurde dem Alten klar, in welcher Lage er sich befand. Er begann zu zittern. „Aber…“



Er bekam eine Ohrfeige, worauf ihm ein wenig schwarz vor Augen wurde und sein linkes Ohr zu pfeifen begann. Aber er kam der Aufforderung nach und fing an, sich umständlich auszuziehen. Als er bis auf Unterhose und Unterhemd nackt war, schaute er die Männer an.

Genug?

 fragte er mit den Augen.



„Weitermachen! Alles runter!“



Es gab einen Tisch mit mehreren Stühlen sowie einen gusseisernen Lehnstuhl, der frei in der Mitte des Raums stand. Auf diesem schnallten sie ihn fest.



Kurios, dachte Weksler, diese Kerle bringen mich um wegen einer E-Mail.

Lasst mich in

Ruhe,

ich habe nichts Verwerfliches getan!



Und als ob er diesen Gedanken gelesen hätte, fragte der Älteste seiner Häscher: „An wen haben Sie die Mail weitergegeben, Väterchen? Sie werden sich besser fühlen, wenn Sie es uns sagen. Viel besser, ich verspreche es Ihnen.“



Weksler starrte ihn an und biss sich einstweilen nur auf die Unterlippe.



„Gut.“ Der Boss des Trios gab dem Mann, der hinter ihm stand, ein Zeichen. Dieser befestigte eine Metallklammer, die am Ende eines dünnen Kabels hing, am Hodensack des alten Mannes. Dann reichte er seinem Boss ein kleines Gerät, das an die alten Trafos erinnerte, mit denen früher Modelleisenbahnen gesteuert wurden.



Weksler quollen die Augen über, als er erkannte, was nun folgen würde. Der Mann dreht einen Knopf leicht im Uhrzeigersinn. Weksler schrie.



„Das waren weniger als zehn Prozent, Väterchen.“ Er drehte erneut, und der Gefolterte rutschte in seinen Fesseln hin und her wie ein ekstatischer Rock’n‘Roll-Tänzer auf Speed. Als es vorbei war, begann er zu wimmern.



„Fünfzehn Prozent. Sollen wir unterbrechen?“



„Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich habe diese Mail gelöscht, weil sie nicht für mich bestimmt war.“



„Falsche Antwort, mein Freund. Wir haben Ihren Computer gecheckt. Die fragliche Nachricht, die Sie bekommen haben, wurde kopiert. So etwas kann man herausfinden, Väterchen. Ach ja, und so fühlen sich zwanzig Prozent an.“



Wekslers Schreie hallten von den nackten Wänden wider, Ader- und Sehnenstränge traten an seinem dürren Hals hervor, dann begann er leise zu weinen.



„Wir können dafür sorgen, dass Sie in Würde abtreten, Weksler, ohne den großen Namen Ihres Vaters öffentlich zu beschmutzen.“ Der Alte verstand nicht gleich, was sein Peiniger meinte. Er starrte ihn nur verständnislos und mit Tränen in den Augen an.



„Sie geben uns den oder die Namen und sterben dafür ohne weitere Schmerzen. Leben lassen können wir Sie jedenfalls nicht angesichts dessen, was sie angerichtet haben, das verstehen Sie doch sicher.



Sie hinterlassen ein Schreiben, das wir auf ihrem Computer aufsetzen. Darin teilen Sie der Nachwelt mit, dass Sie an einer unheilbaren und mit Sicherheit tödlich verlaufenden Krankheit leiden und Schluss machen, um den zu erwartenden Qualen zu entgehen. In gewisser Weise ist Letzteres ja nicht einmal gelogen.“



Igors Großvater gerann das Blut in den Adern, als ihm schließlich dämmerte, dass er diesen Raum nicht mehr lebend verlassen würde.



Aber er wollte sie nicht auf Igors Fährte bringen, wenn die Schmerzen bis zum Schluss auch nur irgendwie erträglich wären. „Gehen Sie zum Teufel, Sie Ungeheuer!“



Sein Gegenüber lächelte freundlich. „Das werde ich gewiss eines Tages tun, aber zuerst sind Sie dran. Ich glaube, wir überspringen die fünfundzwanzig Prozent. Sergej, stopf ihm ein Tuch ins Maul, damit er uns nicht die Ohren vollplärrt. Wenn er uns ein Signal gibt, dass er reden will, kannst du es wieder entfernen.“



Der Gehilfe des Monsters trat zu dem Folterstuhl und steckte dem Alten einen zusammengeballten Stofflappen in den Mund, der nach Benzin oder Putzmitteln roch. Dann trat er einige Schritte zurück, um das nun folgende Schauspiel zu genießen.



Der nächste Schlag war mörderisch, die Schmerzen unbeschreiblich. Er verlor beinahe das Bewusstsein, ein tiefer Friede wollte ihn überkommen und er hatte das Gefühl, loslassen zu können. Aber dann erhielt er zwei kräftige Ohrfeigen und wurde wieder ins Leben zurückgerissen.



„Das waren vierzig Prozent. Wollen wir jetzt ernsthaft miteinander reden?“



Weksler nickte oder glaubte wenigstens, es zu tun. Er konnte nicht mehr.



„Mein Enkel Igor. Er ist Physiker und lebt in Frankfurt. Ich wollte ihn warnen, damit er von dort verschwinden kann.“



„Name und Adresse, dann können wir Sie erlösen. Oder gibt es noch andere, die etwas wissen?“



Der Alte schüttelte den Kopf. Dann sagte er seinen Peinigern, was sie wissen wollten. Die Existenz seiner Enkelin Katja verriet er ihnen nicht.



„Sehen Sie, das war doch gar nicht so schwer.“ Der Chef dieser Verbrecher griff in seine Tasche und beförderte eine kleine Dose ans Licht, die er öffnete, um ihr eine längliche Kapsel zu entnehmen.



„Sergej, geh auf den Flur und hol unserem Gast ein Glas Wasser.“



Sechs Minuten und dreißig Sekunden später war Iossif Wladimirowitsch Weksler, Sohn eines hochdekorierten Physikers aus der Zeit des Kalten Krieges und Großvater zweier Enkel, die er in Deutschland in großer Gefahr wusste, nicht mehr am Leben.





*







Krasnodar, Südwest-Russland





Der Vermittler hatte sie darauf vorbereitet, ihnen Geduld gepredigt; aber den beiden Fahrern fiel das Warten dennoch schwer.



Obwohl sie einen Umweg von mehr als fünfhundert Kilometern gemacht hatten, waren sie bereits vor ein paar Tagen in Krasnodar angekommen, waren von dort auf das letzte Teilstück der Strecke nach Noworossijsk gegangen und wurden sechzig Kilometer vor der Hafenstadt am Schwarzen Meer, wo ihre drei Röhren auf ein Schiff verfrachtet werden sollten, durch einen Anruf ausgebremst.

 



Ihre Route war von ihrem Auftraggeber erdacht worden, der annahm, dass die direkte Strecke von Tscheljabinsk nach Noworossijsk ebenso wie alle anderen Fernverbindungen unter besonderer Beobachtung von Miliz, Militär und Geheimdienst stünde, sobald der Diebstahl aufgeflogen war. Und er

war

 aufgeflogen, daran gab es keinen Zweifel mehr.



Es hieß nun zu warten, bis sich die Lage beruhigt hatte, alle offiziellen Grenzübergänge des riesigen russischen Reiches waren für den Warenverkehr dicht, und das betraf eben auch solche Fracht, die auf dem Schiffsweg das Land verlassen sollte. Die Weiterfahrt musste verschoben werden, bis Entwarnung kam, es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu fassen. Dafür wurden sie gut bezahlt, worauf ihr Auftraggeber sie ausdrücklich hingewiesen hatte.



Sie mussten ihre Neugierde gewaltig zügeln, denn der Vermittler hatte ihnen nicht verraten, was sich in den Röhren befand; dass es sich um etwas Gefährliches handelte, war ihnen aber ebenso klar wie die Tatsache, dass sie etwas Verbotenes taten. Die Wärmeentwicklung in den Zylindern war ihnen nicht entgangen, auch wenn sie sie nicht plausibel erklären konnten. Naja, und der exorbitante Lohn für diese vergleichsweise bescheidene Aufgabe sprach seine eigene Sprache.





*







Frankfurt am Main





Igor weinte haltlos am Telefon. Am anderen Ende der Leitung konnte auch Katja ihre Tränen kaum unterdrücken.



Ihr geliebter Großvater, der ihnen über viele Jahre die Eltern ersetzt hatte, war tot. Gestorben von eigener Hand, wenn man der Verwaltung in Dubna glauben wollte – und das tat Igor, der am Vortag eine alarmierende Nachricht des Verstorbenen erhalten hatte, keine Sekunde lang.



Angeblich hatte es einen Abschiedsbrief gegeben, den er an seinem Computer verfasst hatte. Deshalb gab es keine Unterschrift, anhand derer man die Echtheit des Schreibens hätte nachprüfen können.



Das Traurigste für sie war, dass sie nicht einmal zu seiner Beerdigung nach Dubna fliegen konnten, denn – wie man ihnen in bester Amtssprache mitteilte – der Leichnam des alten Mannes war bereits am Vortag nach einer gründlichen Untersuchung eingeäschert und die Urne auf einem Friedhof beigesetzt worden, dessen Namen sie nicht einmal erfuhren.





*







Riad, Saudi-Arabien





Yassir Hossein, der Vermittler, unterdrückte den Wunsch nach einer Zigarette. Er saß im Wohnzimmer seines Auftraggebers, wobei der Ausdruck

Zimmer

 eigentlich eine Beleidigung für den einem Kirchenschiff ähnlichen Raum war, in dem eine Fußballmannschaft hätte trainieren können. Der Alte duldete keinen Zigarettenrauch in seinen Gemächern.



„Es sind geringfügige Schwierigkeiten aufgetreten, Prinz. Aber es ist nichts, was nicht absehbar gewesen wäre. Die Russen haben natürlich panikartig ihre Grenzen geschlossen; aber das halten sie nicht länger als zwei Wochen durch. Danach werden die Übergänge wieder durchlässig. Außerdem ist unser erster Transporter bereits seit einer Woche in Kasachstan und bewegt sich jetzt auf Nebenstraßen auf die usbekische Grenze zu. Es ging bisher nur langsam voran, aber auch das wussten wir. Die Jahreszeit lässt keine höhere Geschwindigkeit zu.“



„Welche Auswirkungen wird es haben, wenn wir einen oder zwei dieser Transporte verlieren?“



Hossein lächelte sein stets auf Hochglanz poliertes Lächeln.



„Eigentlich nichts, wir haben großzügig geplant. Schon wenn drei dieser neun Röhren tatsächlich ankommen, zuzüglich des Poloniums, dann wird es in Frankfurt Chaos und Verderben geben.“



„Wie hoch schätzen Sie den ökonomischen Schaden, den unsere Aktion anrichten wird?“



Der Saudi konnte seine Zweifel am Erfolg dieser Aktion nicht unterdrücken. Er war sterbenskrank und seine Ärzte hatten durchblicken lassen, dass es in weniger als vier Monaten zu Ende sein konnte - nein,

würde

. Der Anschlag, der den feigen Kindesmördern von Kunduz galt, war sein Vermächtnis an die Muslime dieser Erde.



„Denken Sie an eine hohe Ziffer mit zehn Nullen, versehen mit einem Dollarzeichen. Vielleicht sogar ein wenig mehr.“



„Beim Barte des Propheten!“





*







George Town, Grand Cayman





Nachdem sie ihre Bankgeschäfte erledigt hatten, blieben den Mitarbeitern des Geheimdienstes und dem von ihnen entführten Kuljamin noch drei Tage Zeit, die es totzuschlagen galt, bevor sie die Heimreise antreten durften (oder mussten, je nach persönlichem Gusto), denn es gab für ihre Buchung keine frühere Verbindung nach Moskau.



Am ersten Tag sprachen sie – mit Kuljamin als Frontmann – bei der Barclays Bank in George Town vor und der ehemalige Direktor veranlasste eine Überweisung in Höhe von etwas über elfeinhalb Millionen Dollar auf das Konto einer russischen Spedition bei einer Genfer Bank. Diese Spedition war eine uralte, noch aus KGB-Zeiten stammende Tarneinrichtung, der sie sich jetzt bedienten, um sich Kuljamins Geld anzueignen.



Weil nach dieser Transaktion auf dem Konto in George Town noch immer einiges an Geld übrig war, hoben sie fünfzigtausend Dollar in bar ab und verprassten in diesen drei Tagen so viel davon wie möglich.



Zu ihren Ausgaben gehörten die Anmietung einer Stretch-Limousine mit Chauffeur und einer gutsortierten Bar an Bord; eine Nacht mit vier einheimischen Prostituierten für den gehobenen Geschmack in der Senior Suite eines Luxushotels; kostbar aussehender Schmuck als Entschädigung für ihre daheim gebliebenen Ehefrauen stand ebenfalls auf der Einkaufsliste. Und am letzten Tag vor ihrem Rückflug mieteten sie eine hochseetaugliche Jacht, mit der sie zum Angeln hinaus zum Riff fuhren, vor dem die großen Fische warteten.



Kuljamin war erleichtert, er hatte an all den teuren Vergnügungen teilnehmen dürfen und dabei beinahe das Gefühl gewonnen, wirklich dazu zu gehören. Seinen Vorsatz, auf dem Flug hierher Alarm zu schlagen und die Aufmerksamkeit anderer Passagiere oder des Kabinenpersonals auf sich zu ziehen, hatten seine neuen Freunde schon vor dem Abheben der Maschine zunichte gemacht. Kaum hatten sie sich angeschnallt, zückte einer der Agenten eine Einwegspritze und rammte sie Kuljamin in den Unterarm. Der war binnen kürzester Zeit völlig weggetreten und erst wieder zum Sprechen fähig, als sie ihn kurz vor der Landung auf der Karibikinsel kräftig schüttelten.



Wie dem auch sei, er fühlte sich gut und seinem tödlichen Schicksal schon beinahe entronnen, bis es am letzten Tag hinaus aufs Meer ging und sich seine Angst wieder meldete, ohne dass er hätte sagen können, warum.



Champagner und Wodka floss in Strömen und ab und zu fingen sie wirklich einen Fisch, wobei es sich meist um Goldmakrelen handelte, die sie - begleitet von lautem Grölen - wieder ins Meer warfen, weil sie nichts mit ihnen anzufangen wussten.



Allmählich fragte sich Kuljamin, was sie mit den drei Eimern blutiger Köder vorhatten, die bestialisch stinkend in der prallen Sonne standen, aber er wagte nicht danach zu fragen.



Die Antwort dämmerte ihm, als er sich über die niedrige Reling beugte und knapp unterhalb der Wasseroberfläche die mächtigen Schatten sah, die das Schiff umkreisten. Sein Herz machte ein paar stolpernde Zwischenschläge und ihm wurde mit einem Male schlecht.



„Na, Sie Auswanderer, genießen Sie unseren kleinen Ausflug?“ Der Chef seiner Entführer kam mit einem Drink in der Hand und einem seiner Schlägertypen im Schlepptau zu ihm hinüber. Er schaute ebenfalls ins Wasser und der zitternde Kuljamin wusste, was der andere sah.



„Sind das Haie?“ Die Stimme des Ex-Direktors klang, als hätte er reines Helium eingeatmet.



„Oh ja, die gibt es hier in rauen Mengen, wir haben uns schlau gemacht; Zitronenhaie, harmlose graue Riff-Haie, aber auch Blau- und Tigerhaie, die sich für unser kleines Spielchen besser eignen.“



Er gab seinem Handlanger ein Zeichen, und dieser kam mit einem der Eimer an die Reling und schüttete die blutigen Fischreste über Bord. Sofort kam Bewegung in das Wasser unter ihnen, mehrere Haie stürzten sich auf die Köder, als hätten sie seit Wochen nichts mehr zu Fressen bekommen. Kuljamin schrie vor Entsetzen auf, er glaubte, sich übergeben zu müssen, und seine Knie wollten nachgeben.



„Sie haben nicht ernsthaft erwartet, dass wir Sie zurück nach Hause mitnehmen würden? Was erwartet Sie dort schon außer einem Genickschuss oder lebenslanger Lagerhaft? Auf unsere Art hatten Sie immerhin noch ein paar schöne Tage, nicht wahr? Nehmen Sie es sportlich, Mann!“



Der muskulöse Schläger kam auf Kuljamin zu und drückte ihn gegen die alles andere als stabile Reling. Der Alte wollte um Gnade winseln, aber sein Hals war wie zugeschnürt und er brachte keinen Ton mehr heraus. Die Augen quollen ihm beinahe aus den Höhlen und er hob die Hände zu einer schwachen Gegenwehr, die ihm freilich nichts nutzte. Das Gesicht seines Mörders war jetzt nur noch Zentimeter von ihm entfernt und er konnte eine widerliche Mischung aus Schweiß, Knoblauch und Wodka riechen. Dann packte ihn der Mann an den Hüften, hob ihn scheinbar mühelos hoch und warf ihn ins Wasser.



So hartgesotten diese Killer auch waren, das Schauspiel, das sich ihnen jetzt bot, wollten sie lieber doch nicht mit ansehen und deshalb drehte die Yacht bei und fuhr zurück in Richtung Hafen, noch bevor die Haie mit dem alten Mann fertig waren.












Drittes Kapitel












Russland, Moskauer Kreml





Im Büro des Präsidenten hinter den Mauern des Moskauer Kreml war es für einen Moment totenstill, nicht einmal von draußen drang irgendein Geräusch in das riesige Zimmer, in dem sechs Männer saßen, die eine Krise eingrenzen wollten, wie es sie lange nicht gegeben hatte.



„Können wir leugnen?“ fragte der (faktische) Regierungschef in das unbehagliche Schweigen hinein.



„Im Moment geht das noch. Aber wir müssen uns den Jungen in Deutschland vornehmen. Er hat das Dossier, in dem unmissverständlich steht, was geschehen ist. Mitsamt unserer Schlussfolgerungen, Weg, Zielort und Verwendungszweck betreffend. Ich kann sofort eine Operation in Gang setzen...“ Der SWR-Mann war der Einzige im Raum mit einem Anflug von Tatendrang.



„…also ist die einzige Gefahr für uns ein russischer Student, der in Deutschland lebt, richtig?“ Der Präsident unterbrach den Chefstrategen für europäische Angelegenheiten, der ihm direkt unterstellt war und der zu langen Vorträgen neigte, wenn man ihn nicht bremste.



„Bisher ist das wahrscheinlich so, Wladimir Semjonowitsch.“



Der Analytiker war der einzige Mann im Raum, der den nahezu allmächtigen Herrscher aller Reußen mit Vor- und Vatersnamen ansprechen durfte. „Es sei denn, er hat sein Wissen bereits verbreitet.“



„Dann kommt es also nur auf Tempo und schieres Glück an?“



„Richtig, Herr Präsident.“ Der Außenminister, der bisher geschwiegen hatte, meldete sich zu Wort.



Allen Anwesenden war bewusst, was auf dem Spiel stand. Würde die restliche Welt erfahren, dass die russische Regierung nicht in der Lage dazu war, auf ihren nuklearen Brennstoff aufzupassen, dann wären nicht nur alle bilateralen Abrüstungsgespräche mit den Amerikanern sowie sämtliche Nichtverbreitungsabkommen infrage gestellt. Der Präsident und seine Leute wären das Ziel von weltweitem Hohn und Spott, was auch zu innenpolitischen Problemen führen konnte; denn das russische Militär war nicht für seinen Humor bekannt und wurde traditionell schnell unruhig, wenn es sich von der Politik bloßgestellt oder schlecht vertreten fühlte.



Würden tatsächlich in Mitteleuropa unglaubliche einhundertzwanzig Kilogramm radioaktiver Substanzen in die Luft gejagt werden, dann könnte das für Russland den teilweisen Verlust seiner bisherigen Rolle auf der weltpolitischen Bühne bedeuten (ganz abschreiben konnte man es natürlich nicht, dafür besaß es zu viele Rohstoffe und eine viel zu große militärische Stärke). Aber die Stellung auf Augenhöhe mit Amerikanern, Europäern und Chinesen, für die die jetzige Regierung über viele Jahre gekämpft hatten, wäre auf längere Sicht dahin.



Russland stünde wieder am Anfang. Als unberechenbarer Bösewicht, als der gefürchtete Russische Bär, der die Kontrolle über sich selbst verloren hatte und der deshalb die Welt und den Weltfrieden bedrohte.



Der Präsident war blass und hatte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Wer ihn kannte, wusste, dass dies kein gutes Zeichen war. Er wandte sich wieder an den Geheimdienstchef.

 



„Wie sicher sind Sie, dass der Transport über Kasachstan und Usbekistan erfolgt?“



„So sicher man nur sein kann, Herr Präsident. Der festgenommene Direktor des Lagers, der unselige Kuljamin, hatte Todesangst, als wir ihn verhörten. Er hatte nicht den Mut, uns zu belügen.“



„Wo ist der Mann im Moment? Oder haben Sie ihn etwa schon hingerichtet?“



Der SWR-Chef druckste ein wenig herum. „Er ist momentan im Ausland, mit drei zuverlässigen Bewachern. Wir wollen das Geld, das er für seinen Diebstahl bekommen hat, für unser Land sichern. Sie verstehen, elfeinhalb Millionen US-Dollar sind für uns keine Kleinigkeit, aber um an das Geld zu kommen, muss der Kontoinhaber persönlich bei dieser Bank vorsprechen. Und die residiert bedauerlicherweise auf den Cayman Islands.“ Der Mann wand sich vor Verlegenheit.



Der Präsident sah aus, als wolle er vor Wut in tausend Stücke zerspringen. Während im winterlichen Moskau wegen dieser Katastrophe die Welt unterzugehen drohte, machte sein Geheimdienst Urlaub in der Karibik! Hässliche rote Flecken verunzierten sein Gesicht und ließen ihn aussehen wie einen bösartigen Clown.



„Gut, ich werde mit Astana und Taschkent telefonieren. Ich denke, dort können sie uns helfen, den Transport vor der afghanischen Grenze zu stoppen, denn danach wären wir – Sie wissen das selbst - beinahe hilflos.“ Er hatte sich gesammelt und war wieder ganz Autorität.



„Erstens, ab sofort gilt folgende Sprachregelung: Falls an dem Gerücht vom Verlust spaltbaren Materials überhaupt etwas dran ist, dann bedeutet es höchstens, dass beim ersten Durchgang einer turnusmäßig erfolgten Inventur geringfügige Diskrepanzen zwischen den erwarteten und ermittelten Mengen aufgetaucht sind. Dies ist aber völlig normal in diesem Stadium und bedeutet nicht, dass etwas fehlt.“



Der Präsident schaute in die Runde, um die Wirkung seiner Worte in den Gesichtern seiner Untergebenen abzuschätzen.



„Zweitens, was werden Sie mit dem Jungen in Deutschland anstellen, wenn Sie ihn erwischt haben?“



„Das wollen Sie nicht wissen, Herr Präsident.“





*







Fort Meade, Maryland, NSA-Zentrale





„Ich habe da etwas auf dem Schirm“, sagte Bernie Noakes zu seinem Nachbarn, der im Augenblick Pause hatte und die Zeit mit einem Computerspiel totschlug.



Bill hatte diesen Job nach 9/11 ergattern können, weil er fließend Hocharabisch, Persisch (Farsi und Dari, das war neben dem Iran essentiell für Afghanistan, wo US-Streitkräfte engagiert waren) nicht nur sprach, sondern auch lesen konnte, sowie eine rudimentäre Kenntnis einiger weiterer mittelasiatischer Dialekte besaß.



Man hatte aus den Terroranschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon gelernt - Anschläge, die möglicherweise nicht hätten stattfinden können, wenn NSA, CIA und FBI damals die Sprache der Terroristen beherrscht und besser zusammengearbeitet hätten.



Heute hatte man zwar immer noch zu wenige Mitarbeiter mit mittelöstlichen Sprachkenntnissen, aber man hatte aufgeholt, was die Überwachung von Telefonaten, E-Mails und Bankkonten verdächtiger Personen anging.



„Dieser Danilow, von dem ich dir erzählt habe“, sagte Noakes, „der mit den knapp zwölf Millionen in der Karibik. Der ist vor drei Tagen von St. Petersburg – nein, nicht das in Florida – über London auf Cayman Islands geflogen. Er hatte drei Mann vom SWR im Schlepptau, es gab jedenfalls eine gemeinsame Buchung für vier Personen. Wir kennen diese Brüder, die sind ziemlich unappetitlich. Wir wissen von mindestens sechs Hinrichtungen, die sie im europäischen Ausland durchgeführt haben, die spektakulärste vor drei Jahren in Paris, wo…“



„Komm zur Sache, Brüderchen.“ Bernie konnte einem auf die Nerven gehen, weil er immer endlos weit ausholte.



„Tja, drei von den vier Typen sind heute Nachmittag zurückgeflogen. Nur Danilow ist dort geblieben.“



„Na, und? Vielleicht macht er noch ein bisschen länger Urlaub. Leisten kann er sich’s ja jetzt, nicht wahr?“



„Eben nicht.“ Noakes sah ihn triumphierend an. „Der Junge ist so gut wie pleite. Er hat vor drei Tagen fast den kompletten Betrag an eine uns seit langem bekannte Scheinfirma in Genf überwiesen. Den Rest hat er in bar abgehoben, aber das waren nur noch etwas über fünfzigtausend. Davon lässt es sich im Ausland nicht allzu lange leben.“



„Die Frage ist doch eher, warum die drei