Magistrale

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Aber wenn er sich Noakes anschaute, dann musste er zugeben, dass der den noch schlechteren Part erwischt hatte, denn Bill suchte wenigstens nach echten Terroristen aus Fleisch und Blut, nach Gestalten, die Anschläge planten, die sich dazu verschworen, unschuldige Menschen zu ermorden.

Bernie dagegen hatte den ganzen Tag und so manche Nacht nichts anderes zu tun, als sich die Bewegungen auf Tausenden internationaler Bankkonten von mehr oder weniger Verdächtigen anzuschauen und sich einen Reim darauf zu machen, wohin und zu welchem Zweck das Geld von diesen Konten abfloss und wohin seine Reise ging. So etwas jahrein, jahraus acht Stunden täglich zu tun, musste jeden normalen Menschen in den Wahnsinn treiben. Aber Noakes schien ein beinahe krankhaftes Vergnügen darin gefunden zu haben. Er sagte, was er mache, sei staatlich geförderter Voyeurismus, und damit hatte er natürlich Recht.

„Ich bin dann eine halbe Stunde weg, Bernie.“

Schmittner stand auf und wollte den Raum verlassen, in dem noch dreißig weitere heimliche Lauscher und Informationsdiebe saßen, um ihr Land und den Rest der Welt vor terroristischen Aktivitäten zu warnen. Aber Bernie Noakes pfiff ihn zurück. Er hatte gerade etwas entdeckt, das seine Aufmerksamkeit erregt haben musste.

„Sagt dir der Name Yassir Hossein noch etwas?“

„Kommt mir bekannt vor. Schieß los, was ist mit dem?“

„Unter anderem kanadischer Staatsbürger, und hat darüber hinaus mindestens einen nahöstlichen Pass, ich glaube, jordanisch oder irgendein Golfstaat. Bekommt dreißig Millionen US-Dollar von einem saudischen Prinzen auf ein Verrechnungskonto und überweist davon sofort zwölf an einen Russen, den wir nicht kennen. Soundso Danilow, nie gehört, den Namen. Barclays Bank, George Town, Grand Cayman. Wenn da nichts faul ist, fresse ich einen Besen samt Putzfrau.“

„Okay, lass uns das im Auge behalten; soweit ich weiß, haben wir schon öfters versucht, diesem Knilch etwas anzuhängen - es hat aber nie geklappt. Entweder liegen wir schief oder der Kerl ist wirklich clever. Ich gehe aber jetzt trotzdem erst einmal essen, wenn du nichts dagegen hast.“

„Du bist und bleibst ein Vielfraß.“

„Du mich auch, Amigo mío.“

*

Moskau, Hotel Ismailowo

Die Fähigkeit, in Zügen oder Flugzeugen zu schlafen, war Gennadij Wassiljewitsch Kuljamin nicht gegeben, und so kam es, dass er sich bei seiner Ankunft in Moskau am frühen Abend vor Erschöpfung mehr tot als lebendig fühlte. Er schaffte es mit Mühe, am Weißrussischen Bahnhof, wo er aus Smolensk kommend eingetroffen war, ein Taxi zu ergattern, und wäre dann auf der halbstündigen Fahrt zu seinem Hotel im Nordosten der Stadt beinahe eingeschlafen, weil der Fahrer die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht hatte.

Als er beim Einchecken an der Reihe war und der junge Mann an der Rezeption wie üblich seinen Pass verlangte, öffnete er seine Brieftasche, schob ein paar Geldscheine über den Tresen und bat darum, seinen Ausweis behalten zu dürfen, da er diesen für Geschäfte in der Stadt benötige. Es schien keine außergewöhnliche Bitte zu sein, denn der junge Mann steckte das Geld routiniert in die Tasche seiner Uniformjacke und fragte ihn lediglich nach seinem Namen.

Kuljamin nannte ihm den, der in seinem neuen Pass stehen würde; der Hotelangestellte trug ihn anstandslos ein und gab ihm die Schlüsselkarte für sein Zimmer im dreizehnten Stock. So erprobte der Ex-Direktor erstmals und ganz vorsichtig seine neue Identität, und er fühlte sich dabei ein wenig verrucht und bärenstark.

Oben angekommen packte er seinen Reisekoffer aus, hängte die Kleider ordentlich auf Bügel und dann in den Schrank, der kleinere Koffer mit dem Geld – noch fast zweihunderttausend US-Dollar und trotzdem nur ein Bruchteil seines neuen Vermögens – wanderte in den Zimmersafe.

Euphorie überkam ihn trotz aller Müdigkeit und er spielte mit dem Gedanken, sich eine Flasche Champagner und eines der blutjungen Mädchen, die er vor dem Hoteleingang und in der Lobby hatte herumlungern sehen, aufs Zimmer zu bestellen. Warum nicht? Er war ein freier Mann, der niemandem mehr Rechenschaft schuldete.

Aber ehe er noch zu Ende überlegt hatte, ob er dieses Vorhaben ausführen sollte, war er in den Kleidern, in denen er angekommen war, bereits eingeschlafen.

Am nächsten Abend war Kuljamin, der künftig nur noch auf den Namen Alexander Michailowitsch Danilow hören würde, mit sich zufrieden. Er hatte den Mut aufgebracht, die Höhle des tschetschenischen Löwen zu betreten und das beabsichtigte Geschäft abzuschließen. Ganz geheuer war ihm nicht gewesen, als er sich dem Kellerlokal näherte, das man ihm genannt hatte. Schon zwanzig Meter vor dem Gebäude wurde er von zwei grobschlächtigen Kerlen, wahrscheinlich Kaukasiern, gründlich gefilzt und nach seinem Anliegen befragt. Dann wollten sie sein Geld sehen, nahmen ihm dieses zu seiner Überraschung aber nicht weg, sondern ließen es ihn wieder einstecken.

Man hatte ihm weitere vierhundert Dollar abgenommen, weil er es offensichtlich eilig hatte (und wahrscheinlich auch, weil man ihm seine Angst ansehen konnte), aber das kümmerte ihn nicht. Morgen um die Mittagszeit konnte er den neuen Pass abholen, noch in derselben Nacht würde er im „Roten Pfeil“ sitzen, einem Expresszug, der ohne Zwischenhalt die gut siebenhundert Kilometer zwischen Moskau und St. Petersburg in etwa fünf Stunden zurücklegte.

Dort angekommen, vom „Moskauer Bahnhof“ aus, hatte er vier Stunden Zeit, um zum südlich von St. Petersburg gelegenen Flughafen Pulkowo II zu gelangen und seinen Flug nach London zu bekommen. Von England aus konnte er – wenn er wollte - direkt in die Karibik weiterfliegen, wo seine üppige Rente schon auf ihn wartete.

Aber er fühlte sich momentan in seiner neuen Haut so überlegen und so unangreifbar, dass er mit dem Gedanken spielte, noch ein paar Tage in London zu verbringen, wo er nie zuvor gewesen war. Piccadilly Circus, Trafalgar Square, der Buckingham Palace, die Tower Bridge – Sehenswürdigkeiten, die er nur von Bildern her kannte, und von denen er in der trostlosen Einöde seiner zunehmend unglücklichen Ehe immer vergebens geträumt hatte, weil seine Frau das wenige Geld, das er nach Hause brachte, anstatt für Reisen auszugeben lieber in neue Garderobe oder teure Restaurantbesuche investierte, um es „den Nachbarn wenigstens ab und zu mal so richtig zu zeigen“.

Nun aber konnte sich ein von Grund auf erneuerter Kuljamin jedes Fünf-Sterne-Hotel der teuren Stadt an der Themse leisten, und dieser Gedanke erregte ihn ebenso sehr wie der Gedanke an die käuflichen Mädchen vor dem Hotel. Heute würde er nicht einschlafen, das Leben war zu kurz, um jemals wieder eine Gelegenheit zu verpassen. Er griff zum Telefon und bestellte georgischen Champagner und ein paar russische Vorspeisen.

*

Moskau, Zentrale des Inlandsgeheimdienstes FSB

Das Telefon klingelte nicht, sondern signalisierte den eingehenden Anruf nur durch das Blinken eines kleinen Lämpchens.

„Ja.“

„Wir haben ein Problem, das wir mit normalen Mitteln nicht in den Griff bekommen.“

„Moment…so, Sie können sprechen. Die Leitung ist steril. Worum handelt es sich, Adler?“

„Das Lager in Majak ist beklaut worden. Vom eigenen Direktor, wie es vorläufig aussieht. Es geht um große Mengen an kritischem Material. Das Zeug soll das Land verlassen, vermutliches Ziel Westeuropa. Nicht auszudenken, was passiert, wenn das gelingt.“

„Weiß Aljechin schon Bescheid?“

„Ja, er steht hinter uns und verschafft uns oben Deckung, solange wir uns nicht in der Öffentlichkeit erwischen lassen.“

„Bleiben Sie in der Leitung, Adler.“

Ein leises Summen ertönte, während der Koordinator mit seinem Vorgesetzten sprach, einem Oberst und früheren Teilnehmer am erfolglosen Afghanistanfeldzug.

Nach einer Minute war er zurück.

„Code Schwarz, Adler. Ich wiederhole, Code Schwarz. Sie haben alle Vollmachten. Die Softballspieler im Team werden zurückgehalten, solange es geht. Sollte Aljechin seine Meinung ändern, dann wird sofort abgebrochen, verstanden? Der Präsident weiß wie immer von nichts.“

Das Gespräch wurde beendet.

*

Heidelberg, Gelände eines Rangierbahnhofs

Schweiß brannte in seinen Augen, während er versuchte, vor sich etwas zu erkennen. Die Nacht war mondlos und es war fast vollständig dunkel, nur in einiger Entfernung sah man hier und dort Beleuchtung in den Fenstern von Wohnhäusern.

Es waren drei, ihr Alter war schwer zu schätzen, wahrscheinlich Mitte zwanzig bis Ende dreißig. Sie waren mit halbautomatischen Pistolen bewaffnet, mit denen sie auch umgehen konnten, wie er vor ein paar Minuten erfahren musste, als eine Kugel ihn am linken Ärmel gestreift hatte.

Die drei gehörten einer extremen muslimischen Bruderschaft an, hinter der die CIA auf deutschem Boden schon seit langer Zeit her war, weil sie wahrscheinlich Anschläge auf amerikanische Bürger und Einrichtungen plante. Man hatte ihn auf sie losgelassen, weil man den deutschen Behörden seit 2001 nur noch sehr bedingt traute, was die Identifizierung islamistischer Gewalttäter und der Hassprediger hinter ihnen anging. Und dass diese Leute tatsächlich gefährlich waren, hatte die NSA in Fort Meade anhand abgefangener E-Mails und mitgeschnittener Telefonate dokumentieren können.

Mike Benson war ausgebildeter CIA-Außenagent mit etlichen Jahren Einsatzerfahrung auf nahezu allen Kontinenten, momentan aber an die SECURE „ausgeliehen“, die vorwiegend mit der Terrorbekämpfung in Europa betraut war. Die derzeitige amerikanische Regierung hatte Lehren aus dem chronischen Versagen ihrer Geheimdienste gezogen und war deshalb bestrebt, diese Organisationen zur vermehrten Zusammenarbeit zu bewegen. Bensons einjährige Tätigkeit für die in Stuttgart ansässige SECURE war Teil dieses Programmes. Ob es etwas taugte oder nicht, konnte man erst bei der nächsten konkreten Bedrohungslage beurteilen. Benson stand diesem Experiment im Grunde wohlwollend gegenüber, weil er ganze Bücher darüber schreiben konnte, wie Operationen an mangelnder Bereitschaft zur Kooperation und den ständigen Eifersüchteleien zwischen den einzelnen Diensten gescheitert waren.

 

Er hatte mit einem marokkanischen Informanten aus der gewaltbereiten Szene in einem äthiopischen Restaurant namens Adabar zu Abend gegessen, sie hatten sich ausgetauscht und nach dem Essen getrennt das Lokal verlassen.

Da er selbst äußerst vorsichtig zu Werke gegangen war und sicher sein konnte, dass man ihm nicht zu diesem Treffen gefolgt war, blieb als einzige Erklärung, dass sein Kontaktmann aufgeflogen war und jetzt in höchster Gefahr schwebte.

Vor ihm regte sich ein Schatten, er feuerte zweimal und wurde mit einem erstickten Aufschrei und einem nachfolgenden Fluch belohnt.

Etwa zehn Meter entfernt von dem offenbar Getroffenen sah er Mündungsfeuer und zugleich zischte eine Kugel nur wenige Zentimeter an seinem rechten Ohr vorbei. Er musste seine Position aufgeben und sich einen anderen Unterschlupf suchen, bevor ihn die beiden verbliebenen Männer ins Kreuzfeuer nehmen konnten.

Er musste ohnehin schleunigst weg von hier, die Schüsse hatten wahrscheinlich längst Anwohner aufgeschreckt und es war eine Frage der Zeit, bis die Polizei eintreffen würde. Benson hatte nicht das leiseste Bedürfnis, deutschen Behörden Rede und Antwort zu stehen, denn das würde nur zu Verwicklungen führen, die weder er noch seine Dienststelle gebrauchen konnten.

Er kroch auf allen Vieren zur Seite und richtete sich erst auf, als er sich zwanzig Meter von seinem Versteck entfernt hatte. Wieder fiel ein Schuss, der ihm aber lediglich bewies, dass seine Gegner dieses Manöver noch nicht bemerkt hatten. Er lief tief gebückt weiter, ein Güterwaggon bot ihm provisorischen Schutz. Als er wieder zurück spähte, glaubte er zu erkennen, dass sich die zwei Männer auf das Versteck zubewegten, das er gerade aufgegeben hatte. Er war versucht, auf die Schatten zu schießen, aber aus dreißig Metern Entfernung und bei diesen Lichtverhältnissen war die Aussicht auf Erfolg gering.

Sein Informant musste so schnell wie möglich diese Stadt verlassen, sonst war sein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Er hatte die Amerikaner fast vier Jahre lang mit erstklassigen Informationen versorgt, mehr als gut genug, um sich von ihnen jede Hilfestellung verdient zu haben.

Er sorgte dafür, dass zwischen ihm und seinen Verfolgern stets der schützende Waggon war. Dann machte er so rasch und so leise wie möglich, dass er weg kam. In der Ferne vernahm er Polizeisirenen, die schnell näher kamen.

Mike Benson wusste, wann er zu rennen hatte.

*

St. Petersburg, Flughafen Pulkowo II

Sie holten ihn aus Reihe 26 des Airbus 319, als die Flugbegleiterin die Passagiere bereits mit den Sicherheitsvorkehrungen an Bord vertraut machte. Lufthansa-Flug LH 2567 von St. Petersburg über München nach London wurde Sekunden vor dem Start zurückgepfiffen und der Flieger in eine Parkposition gelenkt, aufgrund eines geringfügigen technischen Problems, wie der Co-Pilot lapidar mitteilte.

Sie kamen zu zweit, und der Ältere von beiden bat Kuljamin mit gesenkter Stimme, mitzukommen und den Flieger zu verlassen, ohne Aufsehen zu erregen. Dem brach der Schweiß aus, und um ein Haar hätte er angefangen zu weinen.

Er hatte eigentlich schon an der Sicherheitsschleuse festgehalten werden sollen, aber der Beamte, dem das an alle Flughäfen und Grenzübergänge gefaxte Fahndungsfoto vorlag, hatte eine tageszeitbedingte lange Leitung gehabt (es war noch nicht einmal halb sechs morgens), und der Groschen war bei ihm erst gefallen, als der Gesuchte schon im Flugzeug saß und sich beinahe in Sicherheit wähnte.

Kuljamin alias Danilow war im Grunde seines Herzens ein zutiefst feiger Mensch, und deshalb war es für die Männer vom Föderalen Sicherheitsdienst, der aus der Inlandsabteilung des legendären KGB hervorgegangen war, nicht nötig, ihn psychisch unter Druck zu setzen oder ihn gar zu foltern, denn er gestand schneller als sie ihn befragen konnten. Und als die Ermittler die ganze Geschichte kannten, fingen sie ihrerseits an zu schwitzen.

Wie Kuljamin erfuhr, waren sie ihm schon seit Dienstag auf den Fersen gewesen; genauer, seit der Stunde, in der seine Frau nach einem Streit mit ihrer Schwester früher heimgekehrt war als geplant. Sie vermisste ihn, rief zuerst im Werk an, wo sie ihn zu Unrecht vermutete, und direkt danach bei der Miliz, um ihn als vermisst zu melden. In ihrer überdrehten Vorstellung konnte eine solch eminent wichtige Persönlichkeit wie ihr Göttergatte nur entführt worden sein; dagegen sprach allerdings schon bei oberflächlicher Betrachtung, dass es bis zum späten Dienstagvormittag keine Lösegeldforderung gab. Auch ein etwaiges Bekennerschreiben lag nicht vor.

Aber, und das war wichtiger: Die heulende Gattin musste den Ermittlern des FSB (die den Fall schnell an sich gerissen hatten, weil es sich ganz offensichtlich um ein Problem der Inneren Sicherheit handelte) gestehen, dass der einzige Lederkoffer, den das Ehepaar besaß, verschwunden war, ebenso wie ein Anzug, drei Oberhemden, etwas Unterwäsche, ein Paar Schuhe und unzählige Paar Socken. „Er hat schlimme Schweißfüße“, sagte sie beschämt.

Auch sein Reisepass fehlte, wie sie nach einigem Herumwühlen in den Schubladen seines Schreibtisches feststellte und den Männern voller Angst und mit aufkeimendem Verdacht mitteilte. Das sah nun mehr danach aus, als hätte ihr Mann die Kurve gekratzt und sie einfach sitzen gelassen, eine Interpretation der Geheimpolizisten, der sie energisch widersprechen wollte, es aber nicht konnte, weil ihre Tränen alles erstickten, was sie zu sagen versuchte.

Der folgerichtig nächste Schritt der Agenten war, am Arbeitsplatz des Flüchtigen weiter zu forschen. Zunächst prallten sie dabei auf eine Wand des Schweigens. Niemand wusste etwas, keiner hatte etwas bemerkt oder gar bei etwas Verbotenem mitgemacht. Lediglich die Wache, die in der Nacht von Freitag auf Samstag Dienst gehabt hatte, konnte ihnen sagen, dass der Direktor das Gelände gegen halb vier morgens verlassen hatte, eine höchst ungewöhnliche Zeit für jemandem, der in jahrelanger Routine am Freitagmittag gegen vierzehn Uhr ins Wochenende ging.

Derselbe Wächter erkannte die Zeichen der Zeit und informierte die Männer geflissentlich darüber, dass kurz nach Mitternacht ein Lastwagen das Gelände verlassen hatte, der mit sauberen Papieren Altöl zu einer Recycling-Anlage nach Tscheljabinsk bringen sollte. Er habe das Fahrzeug routinemäßig kontrolliert und es hatten sich wie angegeben neun Fässer darauf befunden, mit entsprechender Etikettierung.

„Altöl-Entsorgung an einem Freitag um Mitternacht, bist du denn völlig bescheuert?“ schrie einer der Vernehmer den konsternierten Wachposten an.

„Aber der Transportschein trug Unterschrift und Stempel des Direktors“, war die kleinlaute Antwort.

„Idiot!“

So wurde am Dienstagnachmittag eine außerplanmäßige Inventur des Lagers durchgeführt. Um ein Haar wäre dabei das Fehlen des Poloniums nicht entdeckt worden, denn der Oberingenieur – der mit fünfzigtausend Dollar geschmierte Alexander Borissowitsch Kunklin – hatte an dessen Stelle eine harmlose, äußerlich aber sehr ähnliche Substanz an die entsprechende Lagerstelle schaffen lassen.

Aber einer der subalternen Ingenieure hatte eine ganze Reihe verdächtiger Lagerbewegungen bemerkt, und zunächst dazu geschwiegen, um es sich nicht mit seinen Vorgesetzten zu verderben. Und das meldete er nun zerknirscht den staatlichen Kontrolleuren. Die waren entsetzt. Es fehlte nicht nur das Polonium, sondern auch unterschiedliche Mengen an Plutonium 239, Strontium, Barium Beryllium, Iridium sowie an den harten Gammastrahlern Cäsium 137 und Kobalt-60, alles in allem ein mehr als einhundertzwanzig Kilogramm schwerer Eintopf mit unterschiedlichen Graden an Radioaktivität und Zerfallszeiten und so vermischt, dass diese Suppe bis zu ihrer weiteren Verwendung maximal mögliche Stabilität behielt.

Das war – so bemerkte einer sarkastisch – mindestens so viel spaltbarer Stoff, wie ihn dieser durchgeknallte Diktator in Pjöngjang besaß - und schon dieser erpresste die halbe Welt mit dem Zeug.

Man nahm sich den leitenden Ingenieur nochmals zur Brust, und der gestand nach kurzem Zögern die Tat, weil er sah, dass er nicht mehr leugnen konnte; er beteuerte aber, nicht zu wissen, wofür das gestohlene Material gedacht war. Der ganze Deal sei Kuljamins Werk gewesen, er selbst habe nur Handlangerdienste in dessen Auftrag geleistet. Von seinem Schmiergeld erzählte er nichts, aber das tat an seiner Stelle der in St. Petersburg festgesetzte ehemalige Direktor, der, als er einmal anfing zu reden, dies mit einer solchen Hingabe und Geschwätzigkeit tat, als erwarte ihn am Ende eine fette Belohnung und ein Orden.

Der Ingenieur hatte Pech. Normalerweise wäre er festgenommen und in einem Eilverfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu fünfzehn Jahren verschärfter Haft verurteilt worden. Aber die Truppe, an die er geriet, tickte anders; diese Kerle machten keine Gefangenen.

Er wurde von drei Männern ohne große Umstände zu einer nahegelegenen Kiesgrube gefahren und dort mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet; seine Leiche übergossen sie mit Benzin und zündeten sie an – in ihren Augen konnte man es sich nicht leisten, ihn vor Gericht zu stellen, denn es konnte kaum eine größere Demütigung für die ehemalige Weltmacht geben als das Bekanntwerden der Tatsache, dass sie nicht einmal dazu in der Lage war, auf ihr atomares Spielzeug aufzupassen.

Ein paar wenige brauchbare Informationen enthielt auch Kuljamins wortreiches Geständnis in St. Petersburg. Da war zunächst der Vermittler, den der Direktor genau beschreiben konnte und der mit Sicherheit arabischer oder zumindest „irgendwie nahöstlicher“ Herkunft gewesen war.

Die Höhe des „Kaufpreises“ ließ bei den Verhörspezialisten, die inzwischen hinzugezogen worden waren, keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass es sich bei den Kunden nicht um ein paar hungerleidende Mudschaheddin oder Taliban handelte, sondern dass hinter diesem Beschaffungsvorgang potente Geldgeber, privat oder institutionell, stecken mussten.

„Sie sollten sich in nächster Zeit von Deutschland fernhalten, mein Freund“, äffte Kuljamin die Sprechweise des Vermittlers nach.

Gegen Deutschland als Zielort sprach scheinbar die Aussage des alten Fahrers, der sich erinnern konnte, nachts auf dem Parkplatz ein kasachisches Nationalitäten-Kennzeichen am Heck des Lastwagens gesehen zu haben, der die Fracht übernahm.

Die FSB-Leute überlegten hin und her, was dies wohl zu bedeuten hatte, und etwas später wurde ihnen klar, dass selbst dann, wenn das Material den Weg nach Süden nahm, es dennoch für Westeuropa bestimmt sein konnte. Der Weg war kompliziert und langwierig, führte über Kasachstan, Usbekistan, Afghanistan und Pakistan zum Indischen Ozean und von dort aufs Schiff, das alles war mühselig und gefährlich, aber zweifellos machbar.

Vielleicht fühlten sich die Käufer sicherer, wenn sie möglichst schnell „islamischen Boden“ unter die Füße bekamen. In muslimisch geprägten Staaten konnten sie eher auf Hilfe rechnen als in Ost- oder Mitteleuropa, wo sie schon wegen ihres Äußeren in Schwierigkeiten geraten konnten.

Die Aussagen Kuljamins und des Fahrers lösten bei den Geheimen hektische Betriebsamkeit aus. Alle Übergänge von der weißrussischen bis zur chinesischen, von der finnischen bis zur ukrainischen Grenze, besonders aber alle offiziellen und einige weniger offizielle Grenzübergänge zum südlichen Nachbarn Kasachstan wurden alarmiert. Sämtliche Lastwagen und Kleintransporter – dafür musste massenhaft zusätzliches Personal herangekarrt werden – sollten sorgfältig kontrolliert werden; besonders auf doppelte Böden unter den eigentlichen Ladeflächen war zu achten. Gesucht wurden neun hellgraue Metallröhren in einer Aluminiumverkleidung, jede mit einem Gewicht von – grob geschätzt - fünfunddreißig Kilogramm und so warm, dass man sie gerade noch anfassen konnte, ohne sich die Finger zu verbrennen. Die Fahrer des gesuchten Wagens konnten bewaffnet sein, und wenn sie sich gegen eine Festnahme – die grundsätzlich erwünscht war – wehren sollten, sei von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Die besagten Röhren (um was es sich bei ihnen und ihrem Inhalt tatsächlich handelte, verschwieg man aus Gründen der Staatsräson und aus Menschenverachtung gegenüber Zöllnern und Fahndern) durften in keinem Falle geöffnet, sondern sollten nur sichergestellt werden. Diesbezügliche Meldungen waren umgehend an folgende Dienststelle zu richten, und so weiter. Besonders unwohl war den Ermittlern bei dem Gedanken daran, dass die Regierung eingeweiht werden musste, wenn sich kein schnelles Ergebnis einstellte.

 

Und obwohl beim FSB der Verdacht aufkam, dass es bereits zu spät für all diese Aktivitäten war, gab man die Hoffnung nicht auf, die Täter noch innerhalb der russischen Grenzen fassen und damit ein Überschwappen der ganzen Angelegenheit aufs Ausland vermeiden zu können.

Von Tscheljabinsk bis in die grenznahe Stadt Oral waren es etwas mehr als eintausend Kilometer, und die Übernahme der Fracht hatte vor gut fünf Tagen stattgefunden – der Laster konnte längst über die Grenze gegangen und irgendwo in den Weiten der kasachischen Steppe untergetaucht sein.

Und ab dann wäre es keine Angelegenheit des FSB mehr, sondern fiele in die Zuständigkeit des SWR, des ebenfalls Anfang der Neunzigerjahre aus dem KGB hervorgegangenen Auslandsnachrichtendienstes, der bis jetzt über dieses himmelschreiende Debakel noch nicht einmal informiert worden war.