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Zweites Kapitel: Netzwerker

1

Britta legt die Zeitschrift zur Seite und greift nach der Fernbedienung. Der vorsintflutliche Fernseher hat lediglich eine Zimmerantenne, aber immerhin bekommt man einige der wichtigsten Programme.

Sie hat sich bis zum heutigen Tag als das empfunden, was man gemeinhin als ziemlich tough bezeichnet. Sie ist sechsundzwanzig Jahre alt, hat nach einem Einser-Abitur ein Jahr lang die Welt bereist, hat anschließend zweieinhalb Jahre im Betrieb ihres Stiefvaters als dessen Assistentin gearbeitet und studiert jetzt im sechsten Semester Betriebswirtschaft. Sie ist sportlich und intelligent, hat sich aber im Laufe der Jahre gegenüber anderen Menschen – vor allem Männern, die ihr nachlaufen - ein dickes Fell und einen unterkühlten Habitus zugelegt. Sie ist begehrt, aber nicht beliebt.

Ihr Gastgeber kümmert sich um sie. Sie hat den Fernseher, Lesestoff für Wochen sowie ein kleines Radio auf dem Nachttisch. Sie wird Essen und Getränke bekommen, soviel und sooft sie will. Außerdem hat er sie von einer der beiden Handschellen befreit. Die dadurch gewonnene Bewegungsfreiheit kann sie nun zu Dehnübungen nutzen, um nicht völlig einzurosten.

Vor Fluchtversuchen hat er sie ausdrücklich gewarnt. Sie seien nutzlos und zögen nur den Entzug von Privilegien nach sich - oder Schlimmeres. Er hat nicht erläutert, was dieses Schlimmere sei, aber er hat finster dreingeschaut, als er es sagte. Schließlich hat er sie in den frühen Stunden vor Tagesanbruch, bevor er sich schlafen legte, unter die Dusche gelassen und ihr anschließend frische Kleidung gegeben. Auch wenn die Sachen, die offenbar ihm gehören, an ihr aussehen wie ein Kartoffelsack, so sind sie doch wenigstens sauber.

Wie er sie angesehen hat, als sie aus dem Bad kam, mit nichts als einem Frotteehandtuch bekleidet! Wann wird er sie vergewaltigen? Und was bedeutet es für ihre Überlebenschancen, wenn es geschieht?

Wenn er sie mit Gewalt nimmt, ist er möglicherweise auch dazu fähig, sie zu töten, wenn er mit ihr fertig ist - oder wenn Schwierigkeiten auftauchen. Wie soll sie sich verhalten, wenn es ihn überkommt und er über sie herfällt? Daran hindern kann sie ihn nicht. Wenn sie sich wehrt, wird es nur zusätzliche Schmerzen bedeuten. Sie kann ihn vielleicht dazu einladen, es zu tun. Wenn sie ihm Spaß bereitet, dann steigt vielleicht seine Hemmschwelle, ihr etwas noch Böseres anzutun. Sie weiß nicht, was sie denken soll.

Oft genug hat sie erlebt, wie Männer, die sie unter ihre Decke lässt, sich schnell in sabbernde und leicht zu lenkende Idioten verwandeln (mit einem dieser sabbernden Idioten ist sie eigentlich für heute Abend verabredet, wie ihr erst jetzt einfällt). Wenn sie ihren Körper zum Einsatz bringt, kann sie vielleicht...

Überhaupt, der Mistkerl sieht nicht mal schlecht aus. Groß, drahtig und breitschultrig, das braune Haar halblang und ein wenig verstrubbelt. Wäre er rasiert und anständig angezogen, dann würde sie sich vielleicht sogar auf der Straße nach ihm umsehen. Vielleicht auch nicht. Auch wenn er sie am Abend geschlagen hat, sieht er nicht aus wie ein psychopathischer Killer; und wie ein Vergewaltiger auch nicht. Aber andererseits: wie sehen die denn aus?

Siedend heiß fällt ihr ein, dass er sich nicht die Mühe gemacht hat, sein Gesicht vor ihr zu verbergen. Soll das heißen, dass…? Sie will nicht weiter ans Sterben denken, tut es aber trotzdem. Ihr Entführer duzt sie inzwischen und hat es auch ihr erlaubt. Sie würden eine Weile miteinander zu tun haben, sagt er. Das Duzen – so hofft sie jetzt - stellt eine Nähe her, die einen kaltblütigen Mord erschweren kann.

Immerhin verbreitet er nicht die grässliche Unruhe von Geiselgangstern, die sie aus Filmen kennt - die ständig mit ihrer Knarre herumfuchteln, ihre Geiseln anschreien und alle drei Minuten aufspringen und ans Fenster laufen, um nachzuschauen, was sich draußen tut. Er scheint pragmatisch veranlagt zu sein und verfolgt seine Geschäfte mit der nötigen Portion Skepsis. Aber natürlich kann sie nicht in ihn hineinsehen.

Ihre Mutter weiß sicherlich noch nichts von ihrer Entführung. Und dass Dietrich die Polizei einschalten wird, glaubt sie ebenfalls nicht. Sie weiß, was er von „diesen Drecksbullen“ hält, wie er sie nennt.

Überhaupt folgt er im Umgang mit anderen Menschen bemerkenswert einfache Regeln. Man ist für oder gegen ihn. Ist man für ihn, ist alles in Butter. Ist jemand gegen ihn, muss er zur Vernunft gebracht werden. Geht das nicht (was eine schlimme Sache ist), so handelt es sich um einen Drecksack, den man nach allen Regeln der Kriegskunst fertigmachen muss. Das ist es in etwa. Bornemanns Repertoire an Zwischentönen ist erstaunlich beschränkt. Das mag an seiner Herkunft liegen; er hat seine Karriere mit der Maurerkelle in der Hand auf der Baustelle begonnen, bevor er sich selbständig machte. Doch die Millionen, die er inzwischen scheffelt, haben nicht dazu beigetragen, seine Umgangsformen abzuschleifen. Im Gegenteil, seine Neigung zu vulgären Ausbrüchen und obszönen Anspielungen setzt sich umso mehr durch, je mächtiger und reicher er wird, und je weniger Konsequenzen er deshalb zu befürchten hat.

Er wird mit Kiepert telefonieren und dann werden sie gemeinsam die Köpfe rauchen lassen, um einen Weg aus diesem Schlamassel zu finden. Sie mag diesen Kiepert nicht. Der gelernte Anwalt, seit zwanzig Jahren Prokurist der Firma, ist verschlagen und arrogant. Und er ist der Hausheilige ihres Stiefvaters, der einzige, dem der Alte vorbehaltlos vertraut - oder vertrauen muss. Kiepert weiß, wo die Leichen im Keller liegen, und er steckt hinter den in die Schweiz und nach Liechtenstein verschobenen Millionen. Er hat Stiftungen gegründet und Konten eröffnet, auf denen Bornemann sein Geld hortet. Es beunruhigt Britta, dass ihr Schicksal in den Händen dieser beiden Widerlinge lieg. Es wäre ihr lieber, wenn ihre Mutter an der Sache beteiligt wäre. Die würde ohne zu zögern die Polizei einschalten.

Noch etwas macht ihr Sorgen: Als ihr Entführer vor ein paar Stunden von seinem nächtlichen Ausflug zurückgekommen ist, hat er zwar einen zufriedenen Eindruck gemacht, aber sie hat an ihm Zeichen völliger Erschöpfung festgestellt. Wachsbleich und mit steifen Bewegungen hat er das Haus betreten, sie kaum zur Kenntnis genommen, ihr aber gesagt, dass alles glatt gegangen sei. Dann ist er Duschen gegangen.

Sie hofft, dass ihr Entführer nicht schon die Nerven verliert, bevor die ganze Sache richtig ins Rollen kommt. Dass er noch keinen Schlaf gefunden hat, hört sie am gelegentlichen Rumoren von Stuhlbeinen auf dem Steinboden des Nachbarzimmers. Soll sie ihn zu sich rufen? Britta will es nicht, noch nicht jedenfalls. Aber sie behält es stets als eine Möglichkeit im Kopf, das häusliche Klima zu verbessern, wenn es nötig werden sollte.

Tatsächlich sitzt Langer noch immer an seinem Schreibtisch und spürt, wie Müdigkeit und Alkohol in ihm miteinander kämpfen. Die Flasche ist fast leer.

Er hat Bornemann in einem zweiten Brief, den er jetzt nochmals auf dem Laptop aufruft, befohlen, für die Übergabe die Dienste eines rüstigen Rentners einzusetzen. Diesen Kurier wird Langer mit eingeschaltetem Handy für einige Zeit auf Tour schicken, ihn an ausgewählten Örtlichkeiten vorbeifahren lassen, an denen er aus seinem eigenen Fahrzeug heraus kontrollieren kann, ob jemand diesem Mann folgt. An einem schwer einsehbaren Punkt dieser Strecke will er dem Kurier befehlen, den Koffer abzusetzen und sich zu verziehen.

Der Ort ist so gewählt, dass Langer schnellstens die Autobahn in unmittelbarer Nähe zum Frankfurter Kreuz erreichen und sich deshalb in eine beliebige Himmelsrichtung davonmachen kann. Dies scheint ihm sicherer zu sein als eine Übergabe an einem zuvor festgelegten Ort.

Keine Seriennummern, keine Tricks, kein Peilsender, keine Farbbombe, hat er Bornemann eingeschärft, aber das ist nur Standard in solchen Fällen. Sein Plan ist okay, sagt er sich zum wiederholten Mal und schließt das Dokument auf seinem Laptop. Auf schweren Beinen schleppt er sich zu seinem Bett.

2

Kiepert trifft Bornemann gerade noch nüchtern genug an, um mit ihm reden zu können, als er um halb elf an diesem Vormitttag in dessen Villa ankommt. Er hat den Alten selten so aufgewühlt erlebt wie vor einer Stunde, als dieser ihn angerufen hat.

„Britta ist entführt worden. Das Schwein will anderthalb Millionen für sie. Wir müssen etwas tun. Mach, dass du herkommst. Sofort!“ Das Telefon ist Kiepert fast aus der Hand gefallen, so hat Borneman gebrüllt. Kiepert tut sein Bestes, um den Mann zu beruhigen. Er lobt ihn für seine Umsicht und dafür, dass er die Polizei zunächst aus der Sache herausgehalten hat. Ihm ist natürlich schnell klar geworden, dass Polizei auf der Bildfläche nicht nur Britta, sondern auch dem Unternehmer selbst erheblichen Schaden zufügen kann.

Es stößt ihn zutiefst ab, seinen Arbeitgeber um diese Uhrzeit mit dem Whiskyglas in der Hand anzutreffen. Noch befremdlicher ist, dass Bornemann ihn um diese Tageszeit unrasiert und im Bademantel empfängt. Eine Disziplinlosigkeit, die Kiepert sich niemals gestatten würde.

Der Alte weist mit fahriger Bewegung auf einen Sessel. Der Prokurist setzt sich, und der Unternehmer nimmt den Brief aus der Tasche. Er reicht ihn seinem Freund zusammen mit dem Foto, wonach er sich jeglicher Kommentare enthält und stumm vor sich hin brütet.

Nachdem Kiepert einen kurzen Blick auf das Foto geworfen hat, überfliegt er das Schreiben, welches mit einem modernen Textverarbeitungsprogramm verfasst ist, wie es auf Millionen von Rechnern verwendet wird. Er stößt einen leisen Pfiff aus und blickt seinen Arbeitgeber an. „Wie willst du das machen? Du hast das nicht flüssig. Und deine Kreditlinien bei den Banken sind praktisch ausgeschöpft. Das Geld steckt größtenteils in der Einkaufspassage in Leipzig und kann nicht mal eben so abgezogen werden. Und selbst wenn du genug Geld kriegen würdest, würde die Bank vermutlich auf Polizei bestehen.“

 

Bornemann schnaubt. „Aus Bern kann ich es auch nicht holen. Das ist viel zu heiß. Außerdem ist es meine gottverdammte Altersversorgung.“ Kiepert nickt. Nach Bern hat Bornemann – nach seiner diskreten Anbahnung – im Laufe von zwei Jahrzehnten ein Vielfaches dessen geschafft, was der Entführer von ihm will. Allerdings kann dieses Geld nicht legal nach Deutschland zurückgeholt werden, weil es quasi nicht existiert. Bornemanns ganzer Saftladen wird implodieren, wenn Bornemann mit Geld auffliegt, dessen Herkunft er nicht erklären kann.

Die Art und Weise, in der Bornemann in den ersten Jahren nach der Wende Kasse gemacht hat, ist atemberaubend gewesen und nötigt dem gewieften Wirtschaftsanwalt immer noch gehörigen Respekt ab. Aus dieser kurzen Periode des allgemeinen Goldrausches stammt der größte Teil des in die Schweiz verbrachten Geldes. Zweiundzwanzig Millionen Euro steuerfrei; plus rund sechseinhalb in Liechtenstein.

Nicht nur, dass der Baulöwe stets der Erste war, der dort drüben einen lukrativen Auftrag roch. Er bekam ihn auch. Auch dann, wenn andere Unternehmen die besseren Angebote machten. Den Zuschlag bekam fast immer – von der Konkurrenz zuweilen argwöhnisch kommentiert – Bornemanns Firma. Wie so etwas funktioniert, darüber lassen sich Wirtschaftskrimis schreiben. Dass er stets über die Kalkulation seiner Mitbewerber Bescheid weiß, weil er sich solche Informationen einiges kosten lässt, gehört noch zu den harmloseren Dingen.

Die dicksten Profite macht der Alte aber mit seiner hemdsärmeligen Personalpolitik. Als die Bauarbeiter in den Neuen Bundesländern noch eingeschüchtert die Flure der neugeschaffenen Arbeitsämter erkunden, lässt Bornemann ganze Busladungen von Billigarbeitskräften aus den grenznahen Gebieten Tschechiens und Polens herankarren. Den Schleppern zahlt er sieben Mark für die Arbeitsstunde, von denen diese drei oder vier Mark an ihre Arbeiter weitergeben. Im Gegenzug liefern sie Bornemanns Firma Scheinrechnungen über dreizehn oder vierzehn Mark pro Arbeitsstunde, eine wahre Goldgrube, ertragreicher als die eigentlichen Bauaufträge selbst es sind. Und Bornemann hat stets allen Schwierigkeiten vorgebeugt, indem er die erst im Aufbau begriffenen Behörden abklappert (mit einigen gut gefüllten Briefumschlägen voller Argumente in der Tasche, die ihm dabei helfen, lästige Kontrollen durch Bauaufsicht und die Arbeitsämter zu vermeiden).

Aber Bornemann ist kein kleiner Abzocker, der Beute macht und verschwindet. Von seinen Schweizer Millionen fließt stets ein gewisser Prozentsatz zurück in die Taschen jener, die ihm die Steigbügel halten. Und das sind auch zwei politische Parteien, die in exotischen Steueroasen obskure Stiftungen unterhalten, von denen aus das von Bornemann ergaunerte Geld wieder in die immerfort knappen Wahlkampfkassen strömt. Hier schließt sich ein Kreis.

Steuerhinterziehung, Sozialversicherungsbetrug in Millionenhöhe, Bestechung in Dutzenden Fällen, illegale Parteienfinanzierung; die Liste der Vergehen, die ans Tageslicht befördert werden könnten, ist von enormer Länge und kann einige Leute von Rang und Namen den Kopf kosten. Diese Republik ist seit einiger Zeit ein wenig empfindlich, wenn es um hohe Einzelspenden an politische Parteien geht. Vor allem, wenn dieses Geld ohne Herkunftsnachweis aus dem Ausland kommt und der Verdacht besteht, dass der Dank dafür aus geldwerten Gefälligkeiten an den Spender besteht.

Beide Männer starren einige Minuten vor sich hin, tief in Gedanken versunken. Schließlich stößt Bornemann hervor: „Eine Übergabe in der Schweiz wäre tatsächlich denkbar. Dazu müsste ich diesen Mistkerl über die Grenze locken. Aber so dumm wird er vermutlich nicht sein. Er müsste Britta zur Übergabe mitbringen, ohne zu wissen, ob man ihm nicht schon beim Grenzübertritt die Eier wegschießt.“

Kiepert stört sich schon lange nicht mehr an der Sprechweise des Unternehmers. Es gibt Wichtigeres im Leben. „Um es dir in Deutschland zu leihen, brauchst du deine Frau. Und die Bank würde bei der Höhe des Betrages darauf bestehen, deine Bücher einer Nachprüfung zu unterziehen. Vor allem, wenn du eine solche Summe in bar und in Devisen gleich kofferweise bestellst. Die werden glauben, du willst dich verdrücken. Ehrlich gesagt würde ich das an deren Stelle auch tun. Und wenn du ihnen reinen Wein einschenkst, werden sie augenblicklich die Polizei hinzuziehen, schon aus Haftungs- oder Versicherungsgründen.“

Tatsächlich ist auch Bornemanns Bank bekannt, dass die Steuerbehörden seit langem ein misstrauisches Auge auf die Geschäfte der Firma geworfen haben. Dass deren Ermittler allerdings von hoher oder sogar höchster Stelle an einer äußerst kurzen Leine gehalten werden, wissen vergleichsweise wenige Personen.

„Wenn deine Frau erfährt, was du jahrelang heimlich angestellt hast, dann dreht sie dir sofort den Hahn ab. Du wärst ein armer Mann, wann auch immer du aus dem Knast kommst. Ich habe dich oft genug vor einem solchen Tag gewarnt. Du gehst seit langer Zeit auf sehr dünnem Eis, weil du am Ende zu gierig geworden bist.“

Aber Bornemann steht nicht der Sinn danach, sich den Kopf waschen zu lassen. Im Gegensatz zu seinem Prokuristen, der einen messerscharfen Verstand besitzt und der augenblicklich im Bilde gewesen ist, braucht er selbst – vielleicht eine Folge des genossenen Alkohols – etwas länger, um vollends zu begreifen, in welcher Klemme er steckt. Bis vor einer Minute hat er noch gedacht, es sei lediglich eine Frage der Vorgehensweise, wie er sich dieser scheußlichen Sache entledigt. Allmählich aber dämmert ihm, dass er in Wirklichkeit in einer echten Falle ist, aus der er nicht ohne Weiteres herauskommt. Es ist eine gänzlich neue Erfahrung für ihn, ein Tiefschlag für sein aufgeblasenes Ego, würde Kiepert sagen, wenn ihn jemand fragt.

Sie schweigen wieder, jeder auf seine Weise mit diesem Problem beschäftigt. Schließlich steht der Prokurist auf und beginnt, gemessenen Schrittes im Wohnzimmer auf und ab zu gehen. Dabei pfeift er leise eine etwas schräge Version des Radetzkymarsches.

Ein ebenso kompliziertes wie filigranes Gebäude, geschaffen mit Hilfe des universellen Bindemittels von verschwiegenem Geben und Nehmen, von Säen und Ernten zu (beinahe) allseitigem Nutzen, ist hier in Gefahr. Sie dürfen in dieser Sache nicht den geringsten Fehler machen. Je komplexer solche Systeme sind, umso empfindlicher werden sie für Störungen jedweder Art. Er bleibt abrupt stehen und baut sich vor Bornemann auf, der noch immer sein Glas mit beiden Händen hält und mit leeren Froschaugen durch die Panoramascheibe glotzt, als läge die Lösung dieses Problems draußen im Garten und als hätte er nur vergessen, unter welchem Baum er sie vergraben hat.

Der alte Satan darf jetzt nicht die Nerven verlieren!

„Hör mir gut zu, Dietrich.“ Er zwingt Bornemanns Blick zurück in die Gegenwart und damit dorthin, wo Probleme normalerweise gelöst werden. „Britta hat fast drei Jahre lang an deiner Seite gearbeitet, bevor sie mit dem Studium begonnen hat. Wie viele Interna kennt sie? Was ist mit den Nebengeschäften, den Auslandskonten, der…äh…Landschaftspflege?“ Kiepert benutzt seinen Lieblingsausdruck für Bornemanns strafbedrohte Schmiergeldaktivitäten.

„Keine Ahnung...ich meine, sie weiß über die Schweizer Konten Bescheid. Ich habe sie oft genug als Kurier benutzt, ohne dass sie eine Ahnung davon hatte. Aber eines Tages hat sie es herausgefunden; sie war wochenlang ziemlich verstört.“ In dem Moment, da Kiepert seine Frage gestellt hat, wird ihnen bewusst, dass sie die ganze Zeit über noch keinen einzigen Gedanken daran verschwendet haben, wie es Bornemanns Stieftochter wohl gerade ergehen mag. Und ob sie überhaupt noch lebt. Sie bemerken es gleichzeitig und für einen Moment werden beide verlegen.

„Nun ja“, sagt Kiepert, der als erster seine Sprache wiederfindet. „Es ist wichtig zu berücksichtigen, worüber sie Bescheid wissen könnte, denn der Entführer könnte es aus ihr herauspressen und dich damit unter Druck setzen. Was das bedeutet, kannst du dir selbst ausmalen.“

Bornemann scheint kaum zugehört zu haben. Natürlich weiß Britta eine Menge. Er hat schließlich bis heute vorgehabt, sie als seine Nachfolgerin in die Geschäftsleitung einzuarbeiten. Damals, nach ihrem Abitur und der einjährigen Weltreise, die ein Geschenk ihrer Mutter war, hat sie zunächst keine Perspektive darin gesehen, zu studieren. Was also lag näher, als sie ins elterliche Geschäft zu nehmen. Irgendwann wird er sich zurückziehen und die Dinge in jüngere Hände legen müssen.

Britta lernt schnell, dass das Baugewerbe einem Haifischbecken gleicht - und dass sich Mittelständler wie ihr Vater gegen die Großen der Branche häufig nur mit Methoden durchsetzen können, die in keinem Lehrbuch der Mikroökonomie stehen.

Kiepert ist ein wesentlich schnellerer Denker als der halb betrunkene Bornemann. Er hat die Lage analysiert und ist zu einem Ergebnis gekommen. „Wir müssen ihn massiv herunterhandeln. Und wir brauchen ein paar Tage Zeit, um das Geld zusammenzutragen. Er braucht Geld, aber er braucht nicht die gesamten anderthalb Millionen. Wenn er ein Drittel oder ein Viertel davon kriegen kann, wird er es nehmen und verschwinden. Er scheint schließlich kein Idiot zu sein.“ Er deutet auf den Brief, der auf dem Tisch liegt. Der ist klar und nüchtern formuliert.

„Halte ihn zuerst einmal bis morgen hin. Gib ihm heute Abend nicht das verlangte Signal. Lass ihn hängen. Geh nicht ans Telefon. Er wird ratlos sein, er wird aber nicht so schnell aufgeben wollen. Bleib bis morgen Abend unerreichbar. Dann erzähle ihm, dass du solche Mengen Bargeld am Wochenende nicht beschaffen kannst. Dass du dennoch den ganzen Tag unterwegs warst, um es zu versuchen. Biete ihm dreihundertfünfzigtausend für Mittwochabend an. Vorher geht nichts. Wenn er ablehnt, kriegt er gar nichts. Sag ihm das.“

Bornemann schüttelt den Kopf. „Er wird sich nicht darauf einlassen. Und abgesehen davon wäre selbst das im Moment schon mehr, als ich ohne Margots Unterschrift flüssig machen kann.“

„Das ist allerdings ein Schwachpunkt bei dieser Angelegenheit. Aber es gibt eine Lösung. Ich werde jetzt nach Hause fahren und von dort aus ein paar Telefonate führen. Einige unserer Freunde werden schon im Wochenende sein, andere kriege ich noch an die Strippe oder kann ihnen eine Nachricht hinterlassen. Von einigen dieser Leute habe ich auch die Handynummer.“ – „Und was soll das?“ - „Wir kratzen das Geld in kleinen Raten zusammen. Es gibt genügend Leute, die dir etwas schulden. Und die so viel auf dem Kerbholz haben, dass man sie auch einmal mit dezentem Druck darauf hinweisen kann, dass sie bei dir in der Kreide stehen. Lass mich das machen, das ist mein Metier. Ich kann mit diesen Leuten reden. Dein Job wird es sein, so schnell wie möglich wieder nüchtern zu werden und dann diesen Erpresser auszubremsen und herunterzuhandeln, ohne ihn dabei zu verlieren. Vertröste ihn, bettle ihn an - egal, wie du es machst, wir brauchen drei bis vier Tage.“

Bornemann schöpft ein wenig Hoffnung. Was sein Prokurist vorhat, ist nur recht und billig. Wenn bei ihm eine Granate einschlägt, werden auch ein paar Andere aus seinem Dunstkreis die Splitter in ihren fetten Ärschen zu spüren bekommen. Es ist im Interesse aller, diese Krise zu meistern. Also sollen auch alle mithelfen.

Kiepert hat es jetzt eilig. Er will so schnell wie möglich nach Hause, wo er eine spezielle Kartei aufbewahrt. Viel Zeit hat er nicht mehr, wie er mit einem Blick auf die Uhr feststellt. Noch zwei oder drei Stunden, dann haben sich die meisten derjenigen Männer, auf die er es abgesehen hat, ins Wochenende verdrückt. Mit ihrer Sekretärin, einer knackigen Geliebten oder – auch wenn man es heutzutage kaum mehr glauben mag – eine nicht auszurottende Minderheit sogar mit der eigenen Ehefrau. Sie vereinbaren, sich regelmäßig über den Fortgang der Dinge auf dem Laufenden zu halten, wobei Bornemann der bei weitem schwierigere Part zufällt. Der hemdsärmelige Macher soll ausnüchtern und nichts tun, außer zu warten.

Kiepert ist erst zwei Minuten weg, als das Telefon schrillt. Bornemann zuckt zusammen und wartet ängstlich, bis der Anrufbeantworter sich einschaltet. Es ist seine Frau. Lustlos nimmt er den Hörer ab. Sie hält es nicht für geboten, ihrem Gatten die Fortschritte zu schildern, die sie mit ihrer Ernährungsumstellung macht. Dabei hätte er es genauso nötig wie sie, einmal gründlich abzuspecken. Sie begnügt sich damit, ihm mitzuteilen, dass es ihr gut geht und dass sie ihre Kur bis zum Ende durchzuhalten beabsichtigt.

 

„Ich habe es schon im Büro versucht, aber du warst nicht dort.“ Diese Feststellung beinhaltet eine Frage, auf die er nicht eingeht. Sie hat das Gefühl, dass seine Zunge sich schwerer anhört als sonst, aber sie schweigt dazu. Das ist sein Bier, sozusagen.

„Ich habe ein paarmal versucht, Britta anzurufen. Sie ist nicht zu Hause. Und ihr Handy ist abgeschaltet. Hast du vielleicht etwas von ihr gehört?“ Die langen Jahre auf dem glatten Parkett von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft haben aus Bornemann einen so routinierten Lügner gemacht, dass er es für gewöhnlich selbst nicht mehr merkt, wenn er die Unwahrheit sagt. „Das Letzte, was ich von ihr hörte, war, dass sie mit ihrer Freundin für ein paar Tage nach Holland fahren will. Wahrscheinlich wird sie sich in Amsterdam die Hucke vollkiffen und sich von einem übrig gebliebenen Hippie auf seine versiffte Matratze quatschen lassen.“

Er kommt ohne diese hässlichen Sticheleien einfach nicht aus. Sie weiß es und hat in dieser wie auch in manch anderer Hinsicht längst aufgegeben. Wie anders er doch war, in der kurzen Zeitspanne, die sie sich kannten, bevor er um ihre Hand anhielt.

„Du bist unmöglich.“ Sie gib ihm nochmals die Durchwahl ihres Zimmers, verbunden mit der Bitte, sie an Britta weiterzugeben, falls diese sich melden sollte. Dann legt sie auf, noch bevor ihr Mann etwas sagen kann.

Er äfft noch ein Weilchen ihre Stimme nach, verliert aber bald die Lust daran und macht sich stattdessen einen neuen Drink. Nichts zu tun und darauf zu warten, was andere tun, gehört nicht zu seinem Wesen. Er hasst abwechselnd seine Frau, Kiepert und den Entführer seiner Stieftochter. Sie machen ihn klein. Es ist schwer zu ertragen.

3

Ein einsamer Jogger quält sich um diese späte Stunde im Dienst seiner Fitness, was umso mehr zu würdigen ist, als es wieder stärker zu regnen begonnen hat und eine unangenehme Kälte herrscht. Herbstlaub, sofern es nicht schon am Boden festklebt und den Weg rutschig macht, raschelt unter den Füßen des Läufers.

Im nachtschwarzen Wasser des Flusses spiegeln sich einige verwaschene Lichtpunkte. Sie haben ihre Quelle am gegenüber liegenden Ufer. Bis auf ein paar weiße Neonlichter, die aus den wenigen Büros dringen, in denen um diese Zeit noch gearbeitet oder geputzt wird, sind die Fassaden, die die Skyline der Stadt bilden, eine finstere Wand aus Glas und Beton. Sie heben sich scharfkantig gegen den orange gefärbten, dunstigen Abendhimmel ab.

Der Schritt des Läufers wird jetzt schwer und unregelmäßig, er scheint eine Pause nötig zu haben. Und tatsächlich hält er kurz darauf an und geht in die Hocke, um Luft zu holen.

Einige Meter entfernt befindet sich eine Parkbank, die tagsüber Spaziergängern die Möglichkeit zum Ausruhen bietet. Von ihr aus kann man den Lastkähnen und Ausflugsbooten nachschauen oder seine herumtollenden Kinder auf dem danebenliegenden Spielplatz im Auge behalten. Und – man hat freie Sicht auf die Büros eines gewissen Dietrich Bornemanns, seines Zeichens mittelständischer Bauunternehmer und derzeit enormem Stress ausgesetzt.

Nach einer Weile steht der erschöpfte Läufer auf und streift seine Kapuze ab, die ihn eben noch vor dem Regen geschützt hat. Er lässt sich, immer noch schwer atmend, auf das Bänkchen fallen. Nach einer Weile hat er sich so weit erholt, dass er sich eine Zigarette anzünden kann. Ein jämmerlicher Hustenanfall ist der sofortige Lohn. Nachdem dieser sich gelegt hat, öffnet Langer seinen Anorak und zieht ein Fernglas der Marke Zeiss heraus. Er hebt das Glas, schaut hindurch und dreht so lange an der Einstellung, bis er mit dem Ergebnis zufrieden ist. Dann lässt er es sinken und zieht ein weiteres Mal an seiner Zigarette. Diesmal bleibt der Hustenreiz aus.

Das Fernglas hat er vor einigen Wochen nicht weit von hier auf einem Flohmarkt gekauft. Es erweist ihm jetzt gute Dienste, obwohl es seine vierzig Jahre alt sein muss. Er hebt das Glas wieder und fixiert die Stelle, auf die es ihm ankommt. Genau vor ihm, nur durch den Fluss und eine dahinterliegende Straße von ihm getrennt, liegt das Gebäude, in dem sich Bornemanns Firma befindet.

Er hat den Unternehmer angewiesen, um Punkt zweiundzwanzig Uhr die Beleuchtung seines Büros mehrfach ein- und wieder auszuschalten. Das ist das Signal dafür, dass er zur Zahlung der von Langer geforderten Summe bereit ist. Daraufhin will der Erpresser dem Alten einen Brief mit seinen Instruktionen zukommen lassen. Im Augenblick liegt dieser Brief im Handschuhfach von Langers Wagen. Er ist viel zu detailliert, um ihn am Telefon vorzutragen, vor allem dann, wenn man mit einer Fangschaltung rechnen muss.

Er hat Britta am Abend ein Antidepressivum in eine warme Milch gemixt, die sie verlangt hat. Sie hat nichts bemerkt und das Glas bald darauf geleert. Sicher ist sicher, hat er gedacht. Was sie eingenommen hat, wird vielleicht dazu ausreichen, dass sie bis zum Morgen schläft.

Er schaut wieder auf die Uhr, setzt das Fernglas an und flucht leise. Es ist bereits einige Minuten nach zehn, doch auf dem Stockwerk des Büros rührt sich nichts. Es liegt dunkel und verlassen da. Er beschließt, dem Unternehmer noch weitere zehn Minuten zu geben und zündet sich eine neue Zigarette an. Wenn er eine Stieftochter hätte, die er in den Händen von Verbrechern wusste, wäre er pünktlich.

Ihm wird kalt, als der Schweiß an seinem Körper zu trocknen beginnt, und er verflucht allmählich seine Idee, sich als Jogger zu tarnen. Er hat es für einen guten Gedanken gehalten, als er am späten Nachmittag mit einem schlimmen Kater – der von Alkohol und viel zu vielen Zigaretten herrührte – wieder zu sich gekommen ist und dringend Bewegung und frische Luft benötigt hat. Jetzt steht sein Wagen fast zwei Kilometer von hier entfernt.

Das Warten in Kälte und Nässe beginnt ihn zu zermürben. Er fischt eine weitere Zigarette aus der Packung und zündet sie an. Zehn Uhr achtzehn - allmählich beginnt etwas fürchterlich zu stinken. Hätte Bornemann die Polizei eingeschaltet, so hätte diese ihm bestimmt dazu geraten, das geforderte Signal zu geben. Das sind Profis, die wissen, dass sie nur über eine erfolgreiche Kontaktaufnahme an einen Kidnapper herankommen können.

Will der Alte seine Stieftochter opfern, um sich das Lösegeld zu sparen? Das ist schwer vollstellbar; seine Frau würde ihm die Augen auskratzen, wenn er auf diese Weise den Tod ihres einzigen Kindes riskiert. Dieser Meinung ist zumindest Britta.

Will der Alte ihn lediglich weichklopfen? Will er die Bedingungen diktieren? Eine ebenso fragwürdige Strategie. „Mach das verdammte Licht an, du Idiot!“ Abgesehen von der Wortwahl klingt es fast wie ein Gebet.

So sicher sein gegenwärtiger Aufenthaltsort auch sein mag, in diesem Moment scheint er ihm nicht mehr geheuer zu sein. Langer bekommt es mit der Angst zu tun.

Langsam und widerstrebend, alle paar Schritte über die Schulter zurückblickend, verlässt er seinen Standort. Es tut sich nichts auf der anderen Seite des Flusses. Bornemanns Büro bleibt schwarz wie ein Kohlenkeller. Sein mit Sorgfalt entwickelter Plan ist wertlos geworden. Er muss jetzt das Risiko eingehen, den Alten wieder zu Hause zu kontaktieren. Als Langer die von jahrzehntelangen Niederschlägen rund gewaschenen Steinstufen der Treppe hinauf zur Straße geht, ist er zutiefst verunsichert.

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