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Etwa um diese Zeit hatten Cord Hennings Verfolger in einem schäbigen Hotelzimmer in der Frankfurter Bahnhofsgegend den Computer, den sie aus seinem Arbeitszimmer entwendet hatten, sorgfältig untersucht. In den frühen Morgenstunden zählten sie aufgrund dessen, was sie fanden, eins und eins zusammen.

Er war erstens – das hatte ihnen ihre kleine Späherin gemeldet - in einen Zug nach Berlin gestiegen, und er war zweitens ein ausgesprochener USA-Fan, was seine zahlreichen Reiseblogs unterstrichen.

„Chef, er ist wahrscheinlich bis nach Berlin durchgefahren und will vielleicht von dort aus in die Staaten.“

„Wen haben wir in Berlin?“

„Niemanden zurzeit. Aber der fette Ollie ist in Potsdam, soweit ich weiß.“

„Mist, verdammter! Weckt ihn, macht ihm Beine! Er soll die Flughäfen abklappern und sich bei den Fluggesellschaften durchfragen. Er soll mit Geldscheinen wedeln, wenn sein Charme versagt. Wenn wir wissen, wohin der Kerl unterwegs ist, alarmiere ich unsere Partner drüben. Wir dürfen den Kerl kein zweites Mal verlieren.“

„Ach ja, Chef, wir sollten ihn aus sicherer Distanz erledigen. Seine Wohnung ist voll von Pokalen, Medaillen und Urkunden; er hat ein paar schwarze Gürtel in Kampfsportarten, die ich nicht einmal richtig aussprechen kann.“

„Auch das noch…!“

5 Manassas, Virginia

Der Secret Service hatte Tag und Nacht ein Auge auf ihn, denn als Sicherheitsberater des Präsidenten hatte er natürlich Anspruch auf lückenlosen Personenschutz, auch wenn der manchmal lästig, und seit einiger Zeit sogar gefährlich für ihn war. Er musste einiges an Chuzpe aufwenden, um da und dort einmal unter dem Radar seiner Leibwächter auszufliegen.

Er hatte sich seit Beginn seiner außerehelichen Aktivitäten einige Manöver angeeignet, um sich frei bewegen zu können. So hatte er sich beispielsweise eine glühende Begeisterung für alte Kinofilme zugelegt, die unter allen Beteiligten für erhebliches Stirnrunzeln gesorgt hatte (er konnte sich schließlich über jeden Streaming-Dienst tausende Filme beschaffen, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen). Aber er sagte ihnen, das sei nicht dasselbe wie das echte Kinoerlebnis, und man hatte das Ganze nach und nach als seine ganz persönliche Macke akzeptiert und sich daran gewöhnt. Und Gewohnheit war sein bester Schutz, weil sie stets mit nachlassender Wachsamkeit einherging.

Sein Trick bestand darin, sich lange Spielfilme auszusuchen und das Kino während der Vorführung durch den Notausgang zu verlassen, während sein Handy, das dem Secret Service bekannt war, an seinem Platz liegen blieb, damit es wie immer geortet werden konnte und nahelegte, sein Besitzer säße im Zuschauerraum. Das hatte bisher immer geklappt, auch, weil er seine Leute ausdrücklich anwies, sich im Foyer aufzuhalten und von dort aus mögliche Bedrohungen von ihm fernzuhalten. Sie lamentierten eine Zeitlang, gaben aber irgendwann auf, denn er konnte sehr überzeugend sein. Überzeugend und bösartig.

Sobald er draußen und hinter dem Gebäude war, rief er mit seinem zweiten Handy, das nirgends registriert war, ein Taxi herbei und fuhr, wohin auch immer er wollte. Er musste nur vor Ende des Filmes wieder auf seinem Platz sitzen. Und das war nicht schwierig, da Sex schnell und schmutzig sein musste, um ihn zu befriedigen; zumeist war er nach ein paar Minuten damit durch.

In den ersten Jahren besuchte er einige der teuren Etablissements, die keine Werbung für ihre exklusiven Dienste machten und deren Anschrift man nur durch Mundpropaganda bekam. Diese Häuser waren bekannt für bedingungslose Diskretion, die ihr größtes Kapital darstellten. Er musste keine Entlarvung befürchten, so lange er gut bezahlte (was er stets tat) und die Frauen gut behandelte (was er nicht ganz so oft tat).

Zu Beginn hatte er noch reifere Frauen bevorzugt, solche, die Erfahrung hatten und die ihn führen konnten. Er hatte nur wenig Übung in diesen Dingen, weil er viel zu früh geheiratet hatte und der Sex mit seiner Frau nur in den ersten Monaten ihrer Ehe stattfand und erschütternd fantasielos ablief (bevor er schnell ganz versiegte).

Aber nach einer Weile schlich sich das Gefühl ein, dass diese Frauen ihn nicht akzeptierten, oder dass sie sich sogar über ihn lustig machten. Das konnte er nicht belegen, und vielleicht lag es auch nicht an den Frauen, sondern an seinen überschaubaren körperlichen Vorzügen, vom wichtigsten Teil seiner Männlichkeit ausgehend über seinen sichtbaren Bauch und dem schütteren schwarzen Haar, das seinen Kopf nur noch halb bedeckte. Sie mussten einfach über ihn lachen.

Seine Froschperspektive gegenüber erwachsenen Frauen führte bald dazu, dass die Huren, die er auswählte, jünger und jünger wurden, bis irgendwann der Tag kam, an dem er Minderjährige haben wollte, am liebsten Negermädchen oder kleine Latinas im Alter von maximal fünfzehn Jahren, für die er der Onkel war, der ihrer Mama viel Geld dafür gab, dass er ihnen ein bisschen wehtun durfte. Und obwohl er ein ausgesprochener Rassist war, wurde die ihm Widersprüchlichkeit seiner Empfindungen kaum einmal bewusst.

Als er gegenüber der Chefin seines letzten Bordells derlei Wünsche äußerte, wurde diese ungewohnt deutlich.

Verpiss dich, du Schwein!

Sie hatte es nicht wörtlich gesagt, aber sinngemäß war es das. Er hatte sich also verpisst und war auch nicht mehr wiedergekommen. Und wenn er von Zeit zu Zeit an das kurze, unfreundliche Gespräch mit ihr dachte, bekam er rote Ohren und Bluthochdruck.

Er hatte sich einen zweiten Laptop besorgt und hatte auf diesem im Darknet zu stöbern begonnen, was ihm als Sicherheitsberater nicht fremd war. Viele der ganz bösen Jungs verkehrten dort, verabredeten sich zu Straftaten, dealten mit Waffen und Drogen, und selbstverständlich gab es dort Foren für Männer mit besonderen Vorlieben wie den seinen.

Er war immer sehr umsichtig gewesen, denn er wusste, dass das, was er tat, zutiefst unmoralisch und vor allem illegal war. Waren diese Mädchen nur einen Tag jünger als achtzehn Jahre alt, dann machte er sich der Vergewaltigung schuldig, wenn er auch nur an ihnen roch. Die Gesetzbücher des Staates Virginia, wie auch die des District of Columbia, gaben da mit Sicherheit keinen Interpretationsspielraum.

Und jetzt hatte ihn jemand erwischt und ließ ihn völlig ausbluten, denn auf den brillanten Schwarzweißfotos in A4-Größe war er zweifelsfrei zu erkennen, da würden sich die Geschworenen schnell einig sein. Heute war die letzte Rate fällig, das versprach er sich, auch wenn es Bullshit war. Was sollte er denn tun?

Um den Kerl, der ihn erpresste, in eine Falle zu locken und zu töten, war er bei weitem zu feige. Wenn er Blut auch nur sah, wurde ihm übel, weshalb er auch noch nie ein Steak gegessen hatte, das nicht mindestens medium gebraten war. Er konnte seinem Boss Kriegshandlungen empfehlen, die tausende Soldaten oder Zivilisten das Leben kosteten; denn dieses Blut sah er nicht, es war abstraktes Blut, weit weg von den USA, weit entfernt von Washington und weit weg auch von seinem Schreibtisch und seinem Gewissen.

Für das Geld, das dieser Bandit von ihm forderte, konnte man auch einen professionellen Killer haben; nur konnte er nicht gleichzeitig den Erpresser und einen Auftragsmörder bezahlen, denn solche Leute wollten Cash sehen, man konnte ihnen keinen Scheck andrehen.

Den Killer seine Arbeit machen zu lassen, und ihm als Lohn diese letzte Rate von fünfzigtausend Dollar anzubieten, klang besser, das schien ihm eine reale Möglichkeit zu sein.

Es war sicherlich nicht schwer, jemand Qualifizierten für solch eine „nasse“ Operation, wie die Russen es so treffend nannten, im Netz zu finden. Er musste dazu nicht einmal sein Arbeitszimmer verlassen. Eine Zeitlang gefiel ihm dieser Gedanke, aber bald dämmerte ihm, dass auch das kein Königsweg war.

Der Erpresser würde die Fotos nicht bei sich tragen, und er wusste nicht, wer sonst über sie Bescheid wusste. Oder was geschah, wenn der Mörder die Fotos doch bei ihm fand, sie behielt und ebenfalls an der Idee Gefallen fand, ihn damit zu erpressen? Dann kam er vom Regen in die Traufe.

Er verdrängte all diese unschönen Dinge, setzte sich an den Schreibtisch und begann zu suchen. Nach einer Stunde ungeduldigen Navigierens wurde er fündig. Er schränkte seine Auswahl auf zwei Kandidaten ein, einen mit einem serbischen oder kroatischen Namen, der andere war zweifelsohne italienischer Herkunft. Er schrieb beide an, machte die Sache dringend und wartete, mit einem Glas Bourbon in der einen und einer Zigarre in der anderen Hand. Zeit verstrich, zu viel für seinen Geschmack, morgen Abend sollte die letzte Rate beglichen werden, er würde das Geld ab morgen früh bereitliegen haben, wie immer in einer kleinen Geldtasche, die man am Gürtel einhaken konnte. Ein halbes Dutzend dieser Taschen hatte er bereits verbraucht, aber diese hier war die Letzte, so oder so.

Er wollte schon aufgeben, da meldete sich der User mit dem Nutzernamen Osijek120. Er musste bei Wikipedia nachsehen, um festzustellen, dass Osijek eine Stadt im Osten Kroatiens war, die Nachricht kam tatsächlich von dem Mann, den er mit Ex-Jugoslawien in Verbindung gebracht hatte.

Er schilderte in wenigen Sätzen sein Anliegen, froh, dass in diesem Netz alles, was er von sich preisgab, umgehend wieder gelöscht wurde. Er glaubte den Mann schon an der Angel zu haben. Es sei machbar, sagte er, beschwerte sich aber über die Kurzfristigkeit des Auftrages. Es gab nur vierundzwanzig Stunden zur Vorbereitung, so etwas mache er nur ungern. Aber okay, mit einem Bonus von fünfzig Prozent sollte der Anschlag über die Bühne gehen.

„Fünfzig Prozent wovon“, fragte der Sicherheitsberater nervös, und erhielt die Antwort „fünfzig Prozent meiner üblichen Gage von sechzigtausend. Nicht verhandelbar!“

 

Das war‘s, der Berater beendete frustriert den kurzen Dialog. Sechzigtausend plus fünfzig Prozent hatte er nicht und er konnte sie auch nicht auftreiben, so sehr er sich auch strecken mochte. Er hatte die fünfzig Riesen und keinen einzigen Dollar mehr.

Das Warten ging weiter, und sein Mut sank.

Und dann klingelte das Telefon und eine vertraute Stimme sagte: „Wir sind ein bisschen am Arsch, Mann! Die Geldübergabe in Frankfurt ist geplatzt. Es gab zwei Tote und irgendein Knilch ist mit dem ganzen Zaster abgehauen. Sie sind hinter ihm her, aber das kann dauern.“ Sein Partner legte auf.

Dem Nationalen Sicherheitsberater des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Michael K. Ashbourne, wurde zuerst schwindlig, und dann wurde ihm schlecht. Er schaute sehnsüchtig auf die geladene 22er, die ihn aus der offenen Schublade seines Schreibtischs angrinste.

Und er überhörte fast das leise Piepsen seines Computers, der ihm den Kontakt zu einem gewissen Fratelli17 meldete. Noch war er nicht ganz verloren, er schöpfte neue Hoffnung, umso mehr, als dieser Itaker ihm schrieb, dass er nach diesem Job Fratelli18 heißen würde. Es klang nach einem Versprechen.

6 Miami, Florida

Sein Flug verlief ruhig, abgesehen von ein paar kaum nennenswerten Turbulenzen, als das Flugzeug vom Nordatlantik kommend auf die nordamerikanische Kontinentalmasse traf und die Flugbegleiter den Bordservice für eine Viertelstunde unterbrechen mussten. Als Vielflieger kannte er das und es machte ihm nichts aus. Wer es nicht vertrug, sollte zuhause bleiben oder mit dem Schiff fahren.

Er hatte bewusst auf die Beengtheit in der Economy Class verzichtet und viel Geld für einen Business Seat bezahlt, um sich ungestört um das immer noch mysteriöse Notebook kümmern zu können. Er musste herauskriegen, wen er bestohlen hatte, denn davon hing ab, wer ihm an den Fersen klebte. Waffenschieber, die Mafia, smarte Geschäftsleute mit willigen Killern in der Hinterhand, oder korrupte Politiker, die sich in ihrer Freizeit etwas dazu verdienten. Er wurde nicht richtig schlau aus der Sache, auch wenn einige der Dokumente, die er las, in letztere Richtung deuteten. Er hatte schließlich Stempel gesehen, unter anderem einen derzeitigen amerikanischen Außenhandelsbeauftragten im Rang eines Ministers; es hatte jemand für diesen in Vertretung unterschrieben.

Er vermutete, dass man angesichts der Höhe der gestohlenen Geldsumme und der klar erkennbaren Brisanz der Belege, die er bei sich trug, keine Anfänger auf seine Fährte setzte. Er konnte hoffen, dass er in Miami noch einen kleinen Vorsprung hatte – das würde sich in weniger als zwei Stunden zeigen.

Er hatte vor dem Check-In bei Hertz einen Wagen bestellt, einen Ford Taurus mit allen Meilen inklusive und mit ausreichendem Versicherungsschutz. Das war teuer, weil er im allerletzten Moment gebucht hatte, und weil in den Staaten erst in einer Woche Labour Day war und mit ihm der Schlusspunkt der diesjährigen Feriensaison.

Auf der Zollerklärung, die er während des Fluges ausfüllte, gab er an, dass er die meldepflichtige Höchstgrenze von zehntausend Dollar in bar unterschritt. Aber selbst, wenn sie ihn filzten und fragten, hatte er an sich wenig zu befürchten. Seine Airline hatte den amerikanischen Behörden bereits vorab mitgeteilt, dass dieser Reisende mehr als acht Wochen im Land bleiben wollte, was durch sein Rückflugticket zu belegen war. Er würde sagen, dass er Kreditkarten nicht mochte und nur dann einsetzte, wenn es gar nicht anders ging. Das war vielleicht ein bisschen schrullig, aber letztlich seine Sache und zumindest nicht ganz illegal. Er würde sich doof stellen und das Beste hoffen.

Er hatte keine feste Route im Sinn, wollte zunächst auf dem schnellsten Weg raus aus Miami, nach Norden, die erste Tankfüllung leerfahren und dann schauen, worauf es hinaus lief. Er kannte den größten Teil der USA, etliche Teile davon sehr gut. Den Südwesten mochte er am meisten, all diese leeren Straßen durch ebenso leere Wüstenlandschaften waren immer eine Art Wahlheimat für ihn gewesen. Das Radio eingeschaltet, oder eine CD mit Rockmusik in den Player geschoben, und er konnte endlos fahren, sich die Gegend ansehen, träumen, meditieren, ja, er hatte schon Tage gehabt, an denen er sieben- oder achthundert Meilen gefahren war, und es machte ihm nicht das Geringste aus; er merkte es erst, wenn er schließlich bei einem Motel, das er Stunden zuvor online gebucht hatte, ankam und sich mit steifen Knochen aus dem Fahrersitz schälen musste.

Der Westen war verlockend. Er konnte nicht ewig weglaufen, aber im Augenblick war es das Beste, in Bewegung zu bleiben, bis ihm etwas Vernünftigeres einfiel. In einem Kriminalfilm hatte er einmal den Satz gehört, nach dem die Mafia niemals etwas vergaß. Das klang deprimierend, und er hoffte mit wenig Überzeugung, dass seine spezielle Mafia eine Ausnahme für ihn machte und ihn irgendwann von ihrer Liste nahm.

Nun, sie kannten ihn schon jetzt sehr gut, nachdem sie – vermutlich - seinen Computer auseinandergeschraubt hatten. Er durfte sich keine Illusionen machen, denn er stand mit dem Rücken zur Wand.

Sie konnten schon auf ihn warten, wenn er gelandet war. In Frankfurt hatte er sich mit eigenen Augen davon überzeugen müssen, dass diese Leute brutal und völlig humorlos agierten, wenn sie etwas wollten oder ihnen etwas gegen den Strich ging. Besseres als eine Kugel in den Kopf konnte er von ihnen nicht erwarten, wer immer sie waren.

Die letzten Getränke und Erfrischungstücher auf diesem Flug wurden gereicht und er schaltete das Notebook aus. Unten am Boden tauchte die Küstenlinie Floridas auf, der Pilot hatte bereits den Sinkflug eingeleitet, in zwanzig Minuten würden sie landen.

Cord Hennings schloss die Augen und wiederholte lautlos und mehrmals den Satz: Ich werde zu meinen Kindern zurückkehren, denn ich werde diese Sache überleben…

*

Nach der Landung ging alles sehr schnell. An den Einwanderungsbehörden kam er beinahe als Erster vorbei und sie ließen ihn anstandslos passieren. Kein Wunder, er war weiß, nicht vorbestraft, er war schon etliche Male in den Staaten gewesen, und er hatte sich dabei nie etwas zuschulden kommen lassen. Der Officer fragte lediglich „Tourist oder Geschäfte?“, und er sagte, er sei im Urlaub. Es war ein Tanz auf der Rasierklinge. Denn wenn sie seinen Aktenkoffer mit den sechs Millionen öffneten, wäre er fällig.

Spannend wurde es nach der Gepäckausgabe, als er am Zoll vorbei musste. Einiges von seinem Bargeld trug er am Körper, aber einen größeren Betrag (zusammen etwa fünfunddreißigtausend Euro und Franken) hatte er in seiner Reisetasche verstaut und es würde Fragen aufwerfen, wenn man sie fand.

Er hatte sich eine ziemlich lahme Erklärung ausgedacht; er sei Immobilienmakler und von Schweizer Geschäftsleuten darum gebeten worden, sich in Florida einige Objekte anzuschauen, weil sie auf der Suche nach einem Alterswohnsitz waren. Diese Leute trauten den Banken seit dem Finanzcrash von 2008 nicht mehr, sie machten sich Sorgen um ihr Geld und hatten ihm Bargeld mitgegeben, damit er für sie eine Anzahlung an einen eventuellen Verkäufer tätigen konnte.

Lahm. Verdammt lahm!

Sie mussten ihn nur nach Namen und Adresse dieser Leute fragen und schon stünde er splitternackt im warmen Regen Floridas. Außerdem waren da noch die Wertpapiere; wollte er vielleicht ganz Disneyland kaufen?

Am Band gehörte seine Reisetasche zu den ersten Gepäckstücken, die ausgegeben wurden. Er wartete, bis ihm eine kleine Gruppe von sichtlich angeheiterten Franzosen auffiel, die offenbar in Paris zugestiegen waren und sich auf dem Zehnstundenflug von innen angefeuchtet hatten. Auf dem Weg zum Zoll lachten sie und redeten lautstark durcheinander.

Instinktiv reihte Cord sich direkt hinter ihnen ein, denn er wusste, dass die Zöllner hierzulande nur wenig Spaß vertrugen. Wer übermütig wurde, dem stutzten sie gerne einmal die Flügel. Und so kam es auch zu Cords großer Erleichterung. Die Gruppe wurde auf der Stelle an einen großen Tisch an der Seite der Halle beordert, wo sie ihre Koffer aufmachen mussten. Drei der vier Beamten machten sich über das Gepäck her, der einzig Verbliebene winkte Cord ungeduldig durch. Es war kurz vor sieben Uhr abends, als er mit Reisetasche und Aktenkoffer den Shuttlebus zum Rental Car Center des Flughafens bestieg, der für diese Strecke nur fünf Minuten brauchte.

Wenn alles gutging, würde er in einer halben Stunde am Steuer seines Mietwagens sitzen und Miami im Rückspiegel kleiner werden und bald darauf ganz verschwinden sehen.

Er hatte seit der Landung des Flugzeuges nicht mehr an seine Verfolger gedacht, war zu sehr auf die Einreise fokussiert gewesen. Jetzt, als er sich dem Schalterraum von Hertz näherte, kam die Angst zurück. Er musste machen, dass er von hier weg kam.

Wie üblich, wollte ihm die Frau am Counter alle möglichen Zusatzversicherungen verkaufen, und er ließ es geschehen, weil sie hartnäckig war und er endlich wegwollte. Versicherungen! Er wusste nicht einmal, ob er morgen früh noch leben würde. Endlich hatte er den Wagenschlüssel, und ein paar Minuten später stellte er die Rückspiegel seines neuen Wagens ein - er würde sie mehr als sonst benötigen.

Bei Google Maps suchte und fand er den schnellsten Weg aus der Stadt hinaus. Er wählte die I-95, die in einiger Entfernung zur Küste bis hinauf nach Maine und zur kanadischen Grenze führte.

Nach vier Stunden zügiger (aber nicht halsbrecherischer) Fahrt näherte er sich St. Augustine, einem Touristenstädtchen kurz vor Jacksonville im Nordosten von Florida; dort verließ er den Highway. Er hatte den Tank seines Wagens zu drei Vierteln leergefahren, und außerdem hatte er Hunger.

Er tankte nach, parkte und ging die paar Schritte hinüber zu einem Burger King; es war sein erstes Junkfood seit Wochen. Weil die Kinder dieses Zeug nicht essen sollten, hatten sie stets einen riesengroßen Bogen um jeden McDonalds gemacht, und damit waren sie gut gefahren; die Zwerge waren schlank und fit. Der Tag, an dem sie nach Big Macs süchtig wurden, würde unvermeidlich kommen; die Ansteckung würde über die Schule erfolgen. Aber man konnte diesen Tag so lange hinausschieben, wie es ging.

*

„Er ist uns durch die Lappen gegangen, aber wir haben den Wagen auf dem Schirm, der ist mit GPS zu orten. Das wird uns bei der Suche helfen. Äh…Boss…ich hab das Mäuschen bei Hertz mit hundert Mücken schmieren müssen; die würde ich gerne wiederhaben.“ – „Setz‘ sie auf die Spesenrechnung. Wohin ist dieser Scheißkerl unterwegs?“

„Er ist auf der I-95 in Richtung Norden unterwegs und inzwischen gut dreihundert Meilen gefahren.“

„Das hatte ich vermutet. Er wäre bescheuert, wenn er auf die Keys führe. Das ist eine Sackgasse, aus der er im Ernstfall nicht mehr rauskäme. Bleibt an ihm dran. Ich will ein stündliches Update.“

Bis etwa zehn Uhr an diesem Abend studierte ihr „Mäuschen“ bei Hertz den Kurs des Mietwagens, in dem der Deutsche zügig nach Norden fuhr. Die beiden unangenehmen Typen, die ihr einen Hunderter für ihre Mühe zugesteckt hatten, boten weitere fünfhundert Dollar, wenn sie die Nacht hindurch bleiben und sie auf dem Laufenden halten würde.

Aber ihr wurde das Ganze unheimlich und sie lehnte nicht nur ab, sondern warnte auch ihre Kollegin, die die Nachtschicht übernehmen würde.

„Nein, nichts zu machen. Wir dürfen das überhaupt nicht.“ Damit war der Kontakt zu dem Mann, zu seinem Auto und zu dem, was er bei sich trug, vorläufig abgerissen.

*

Ein paar Stunden davor hatte der fette Ollie bei den infrage kommenden Airlines in Tegel Klinken geputzt und war zu dem Schluss gelangt, dass ihr Mann mit einiger Sicherheit den Morgenflug nach Florida genommen hatte. Er teilte seinen Befund einem Boss mit, den er noch nie gesehen hatte, und dem persönlich berichten zu dürfen schon ein besonderer Gunstbeweis war.

„Danke“, sagte dieser nur, legte auf und tippte kurz darauf eine lange Telefonnummer in sein Handy ein; wer die Ländervorwahl und die Städtecodes der USA kannte, wusste, dass sich der Anschluss für diese Nummer in Fort Lauderdale, Florida, befand. Und wer den Flugplan der eingehenden Flüge für den heutigen Tag am Airport von Miami kannte, wusste auch, dass der fette Ollie zwar richtig geraten, aber etwa anderthalb Stunden zu spät geliefert hatte.

 

*

Es war nicht einfach, einen Mann in einem Auto zu verfolgen, ohne dass dieser es bemerkte. Der Deutsche würde vorsichtig sein und es merken, wenn sich ein anderes Fahrzeug an seine Stoßstange heftete. Er war Detektiv und schon deshalb nicht zu unterschätzen.

Es war besser, mehrere Teams auf ihn anzusetzen, die sich abwechselten. Nur, woher sollte er die so schnell nehmen? Wenn er die Italiener mit ins Boot nahm, würden sie ihren Anteil an dem Geld fordern. Andererseits lieferten sie auch stets saubere Arbeit ab, wenn man sie um Hilfe bat.

Die „Besorgten Patrioten“ verfügten über eine große Schar an Freiwilligen für solche Jobs, aber unter diesen Kerlen gab es eine Menge an ungeschulten Blindgängern. Das paramilitärische Training für ihre fanatischsten Anhänger steckte noch in den Kinderschuhen und war für hier und jetzt nur sehr bedingt einsatzbereit.

Einzig eine Waffe dürfte der Deutsche nicht besitzen, sonst hätte er nicht so schnell den Zoll passieren (geschweige denn den Security Check in Deutschland) überstehen können.

Aber auch das war nur eine Frage der Zeit. Die beiden Killer in Frankfurt hatten beim Durchwühlen der Wohnung einen Revolver Kaliber .38 gefunden und daraus geschlossen, dass er zwar unbewaffnet unterwegs war, aber wahrscheinlich mit einer Waffe umgehen konnte.

Jeder Idiot konnte in den USA an eine Schusswaffe kommen; er musste nur laut genug danach rufen und genügend Bares anbieten. Deshalb mussten sie davon ausgehen, dass er, wenn sie ihn nicht bald schnappten, ihnen schnell genug bewaffnet gegenübertreten würde.

Der Mann, der den Kongo-Deal als Einziger kannte und vollständig überblickte, kämpfte mit einem logistischen Problem. Er brauchte mindestens vier Autos und acht Mann, um diesen verdammten Detektiv einzufangen. Sie wollten das Geld, und sie wussten, dass er wahrscheinlich alle Einzelheiten über das große Waffengeschäft kannte; dass er ihnen dadurch gefährlich werden konnte, lag auf der Hand. Schließlich waren Leute an diesem schmutzigen Deal beteiligt, die eine Menge zu verlieren hatten. Das reichte bis in hohe Regierungskreise, dorthin, wo die Luft dünn war und wo man sich keine Fehler erlauben durfte.

Ausgerechnet einer dieser schwachsinnigen Politiker war aber nun zu ihrer Achillessehne geworden. Wenn dieser Kerl nicht aufhörte zu jammern, würde man zu einer Lösung für ihn kommen müssen - und die würde niemandem Freude bereiten.

*

Beim Frankfurter Morddezernat, das in einem mysteriösen Doppelmord im Zoologischen Garten zu ermitteln hatte, herrschte Ratlosigkeit.

Die bislang einzige brauchbare Spur lieferte eine teure Spiegelreflexkamera, die ein potentieller Mittäter (oder auch nur Zeuge) beim Verlassen des Tatortes verloren hatte; die Kassiererin hatte diese Kamera in der Nähe des Ausgangs entdeckt, an sich genommen und wenig später den herbeigeeilten Polizeibeamten ausgehändigt.

Kommissar Schuchardt wartete bereits ungeduldig auf die Analyse der Kamera bzw. ihres Speicherchips.

„Chef…“

„…na, endlich! Gibt es etwas Brauchbares?“

„Ja, wir konnten den Besitzer ermitteln. Er hat die Kamera auf der Service-Seite des Herstellers registrieren lassen. Es handelt sich um einen Cord Hennings, Privatdetektiv aus Frankfurt, wohnhaft in Bockenheim, die Anschrift haben wir. Es ist direkt bei mir um die Ecke. Bis vor ein paar Jahren war in dem Haus eine Buchhandlung, die aber inzwischen geschlossen wurde. Daneben gibt’s eine Kneipe, deren Namen ich vergessen habe. Er wohnt dort im vierten Obergeschoss, allein, wie wir inzwischen herausgefunden haben.

Was er im Zoo verloren hatte, wissen wir nicht, der Chip in seiner Kamera war jedenfalls leer.“

„Habt ihr eine Telefonnummer?“

„Ja, aber unter der meldet sich niemand, wir haben es schon einige Male probiert.“

„Dann schnappen Sie sich Wegmann“, sagte der Kommissar, „und fahren Sie mal hin. Ich will wissen, ob er etwas zu der Sache zu sagen hat. Selbst wenn er dort in Panik abgehauen ist, nachdem die Schüsse fielen, müsste er sich längst auf die Suche nach seiner teuren Kamera gemacht haben. Die Geschichte ist jetzt fast achtundvierzig Stunden her. Irgendetwas stimmt da nicht.“

*

„Der Vogel ist ausgeflogen und hat eine Menge Unordnung hinterlassen; oder jemand hat ihm die Bude auf den Kopf gestellt. Offenbar ist auch ein Rechner weg, der dort vor kurzem noch gestanden hat; man sieht noch die Abdrücke auf dem staubigen Teppichboden.“

„Nachbarn?“

„Eine Mieterin zwei Stockwerke unter ihm hat zwei Männer am Aufzug gesehen, kurz danach auch nochmal Hennings, der gerade nach Hause kam, das muss etwa zweieinhalb oder drei Stunden nach der Tat im Zoo gewesen sein. Mehr wissen wir nicht.“

„Hat er Familie oder Verwandte?“

„Geschieden, die beiden Kinder wohnen bei der Mutter. Führt uns aber nicht weiter, die sind im Urlaub, irgendwo am Mittelmeer.“

„Macht Fotos in der Wohnung und kommt dann wieder her. Die Spurensicherung wird sich das nochmal gründlicher anschauen und die Wohnung anschließend versiegeln. Dann muss er zu uns kommen, wenn er wieder hinein will. Ich lasse ihn zu seinem eigenen Schutz auf die Fahndungsliste setzen. Ich kann fast riechen, dass er sich auf der Flucht befindet, vor wem auch immer.“

*

Cord fuhr noch bis kurz vor Savannah, Georgia, aber dann plötzlich traf ihn die Erschöpfung wie ein Holzhammer. Er war seit knapp dreißig Stunden auf den Beinen, und davor hatte er nur zwei Stunden auf einem Plastikstuhl im Wartesaal eines Flughafens geschlafen. Jetzt war er halb blind vor Müdigkeit und verließ notgedrungen den Highway. Er sparte sich den Weg in die Stadt und blieb in der Nähe der Ausfahrt, wo er nach kurzer Suche ein Super8 Motel fand, das noch ein Zimmer für ihn hatte. Es war halb vier Uhr morgens, und er war nach dem langen Flug noch beinahe fünfhundert Meilen gefahren.

Der Nachtmanager des Motels zog seine Kreditkarte durch das Kartenterminal und gab ihm seinen Schlüssel. Cord fuhr um den Block zu seinem Zimmer und trug das Gepäck hinein. Es war vielleicht eine gute Idee, den Wagen ein paar Meter entfernt von seinem Zimmer zu parken; echte Profis konnte man damit aber nicht hinters Licht führen - sie würden schnell in Erfahrung bringen, in welchem Bett er schlief.

Bei seinem Tankstopp hatte ein paar Dosen Bier gebunkert, die jetzt lauwarm waren, ihm aber dabei helfen würden, abzuschalten und bald einzuschlafen.

Er setzte sich auf den Stuhl, den er aus seinem Zimmer genommen und auf den offenen Gang des Motels gestellt hatte, und rauchte an der schwülen Nachtluft, während er in tiefen Zügen trank. Frösche quakten aus einem Teich, den er nicht sehen konnte, Grillen zirpten ganz in der Nähe.

Es tat gut, angekommen zu sein. Um elf Uhr am Morgen musste er das Zimmer räumen und diese Zeit würde er bis zum letzten Moment nutzen, um zu schlafen. Dann wollte er sich darüber klarwerden, wie es weiter ging. Für heute taugte sein Kopf nicht mehr dazu, strategisch zu denken.

Er ging wieder ins Zimmer, hängte das Bitte-Nicht-Stören-Schild von außen an die Tür, betrieb Katzenwäsche, legte sich auf das breite Bett und war Minuten später eingeschlafen.

In dieser Nacht träumte er von Tieren mit langen Tentakeln, die sich im Gegensatz zu Oktopussen auch an Land bewegen konnten. Aber die Biester waren nicht hinter ihm, sondern hinter seinen beiden Mädchen her, und er rannte und rannte, um sie zu retten, aber er rannte nur auf der Stelle und konnte sie nicht erreichen.

An diesen Traum sollte er sich erst im Laufe des Tages erinnern, denn er wurde abgelöst von einem anderen Szenario, einem Leuchtturm, dessen kreisende Scheinwerfer ihn alle paar Sekunden anstrahlten, um ihn gleich darauf wieder in die Dunkelheit zu entlassen. Dabei dachte er unablässig an Fort Stockton in Texas. Immer wieder, nach jeder Umdrehung, die das Licht vollführte, kam eine Stimme aus dem Off und sagte Fort Stockton, Texas.