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Er schlich weiter zu seinem Büro, dessen Tür offenstand; inzwischen konnte er davon ausgehen, allein in der Wohnung zu sein. Die Einbrecher hatten ihn verpasst.

Das Arbeitszimmer hatte am schlimmsten gelitten; vermutlich waren sie wütend geworden, weil sie weder den Geldkoffer noch das Notebook gefunden hatten. Herausgerissene und auf den Boden geworfene Schreibtischschubladen, die Tischplatte war leergefegt, ein Aktenschrank aufgebrochen, sein Inhalt auf dem Boden verstreut. Dann stockte ihm der Atem.

Sein Computer war weg!

Das war zweifellos der größte Verlust. Da drinnen befand sich sein halbes Leben, beruflich wie privat. Online-Banking, Kreditkarten, Urlaubs-Blogs, Fotogalerien, Korrespondenz, vieles davon ungesichert, anderes mit so einfachen Passwörtern versehen, dass sie für Fachleute kaum ein ernsthaftes Hindernis darstellen würden. Wenn sie mit diesem Rechner fertig waren, wussten sie mehr über ihn als er selbst.

Er wühlte in den Papieren und fand wenigstens seine aktuelle Karte mit den Tans für Banküberweisungen, ging ins Wohnzimmer an den Bücherschrank und suchte in dem Roman Der Idiot von Dostojewski die Passwortliste, die er für eine solche Situation dort versteckt hatte. Seinerzeit hatte er es lustig gefunden, diese Liste ausgerechnet in diesem Titel zu verstecken. Sie war noch da, er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Vielleicht war noch etwas zu retten von seiner elektronischen Existenz.

Im Schlafzimmer hatten sie die Matratzen umgedreht, einen Teil seiner Kleidung auf dem Boden verstreut und dabei eine kleine Rolle mit Notgeld übersehen, die er unter seinen Boxer-Shorts versteckt hatte. Im angrenzenden Badezimmer schien alles unberührt zu sein.

Er ging zurück in die Küche, holte einen Hocker und kehrte zurück ins Schlafzimmer. Oben auf dem Schrank stand ein Schuhkarton, in dem sich seine 38er Automatik befand. Die Gangster hatten sie ebenfalls entdeckt, sie aber an Ort und Stelle gelassen; der Staub auf dem Karton war weggewischt worden.

Er überlegte, ob er sie mitnehmen sollte, legte sie aber zurück an ihren Platz. Er wollte niemanden erschießen, nicht einmal damit drohen. Die Waffe hatte drei oder vier Jahre dort oben geruht – so lange lagen seine letzten Schießübungen zurück. Cord war nicht einmal sicher, dass sein Waffenschein noch gültig war.

Ziellos und ohne nachzudenken warf er Rasierzeug, Duschgel und Zahnbürste in sein Necessaire, ging damit ins Schlafzimmer und begann, die ihm verbliebene Reisetasche zu packen (die beiden Koffer hatte seine Frau beim Auszug mitgenommen, ohne ihn zu fragen). Zwei paar Hosen, zwei T-Shirts, knitterfreie Hemden, Socken und Unterwäsche, eine leichte Windjacke, das war‘s. Er musste weg von hier, bevor ihn diese Leute ein weiteres Mal aufsuchen würden.

Aber wohin? Er konnte niemanden mit dieser Geschichte zur Last fallen, das wäre zu gefährlich. Wenn sie seinen Computer filzten, hätten sie seine Freunde und Bekannten schnell identifiziert.

Ein Hotel? Wer wusste, wonach er suchen musste und über ein paar Kontakte verfügte, würde ihn auch doch in kürzester Zeit aufspüren.

Also raus hier, auf die Straße, unter Menschen!

Und dann sollte er schleunigst aus der Stadt verschwinden; das war vermutlich sein einziger Schutz.

Er hatte es immer wieder verschoben, sich einen Laptop zuzulegen; zu teuer, unnötig, hatte er argumentiert. Jetzt hätte er einen gebrauchen können.

Aber ich habe doch einen!

Er lag zuoberst in dem geklauten Aktenkoffer. Wenn er aus diesem Ding schlau würde, wäre einiges gewonnen. Er konnte seine Passwörter ändern, vorausgesetzt, es war nicht zu spät.

Im Flur stopfte er noch ein paar Ersatzschuhe in seine nur zur Hälfte gefüllte Tasche und verließ die Wohnung. Er würde sie nicht mehr wiedersehen, sein Schicksal sollte ein anderes sein.

3 Constanta, Rumänien

Das geschäftige Treiben in dem neuen großen Frachthafen Agigea vor Constanta, im rumänischen Teil des Schwarzen Meeres gelegen, klang dumpf bis hoch in die Messe des Schiffes, wo Kapitän Jannis Metaxas saß und eine Schale Obst verzehrte, die der Schiffskoch ihm zubereitet hatte. Viel mehr als Obst und Brei konnte er zuletzt kaum noch zu sich nehmen. Er hatte Probleme mit einer chronischen Entzündung der Bauchspeicheldrüse, und ein schwerer Leberschaden hatte seiner Haut und seinen Augen eine nicht mehr zu übersehende gelbliche Färbung verliehen.

Obwohl er tatsächlich einer war, stellte man sich einen alten Seebären anders vor. Er trug keinen weißen Vollbart, sondern war glattrasiert. Auch hatte er keinen gemütlichen Bierbauch vorzuweisen, im Gegenteil: Er war mager bis auf die Knochen, eine Folge seiner Erkrankung, die ihn früher oder später (eher früher) umbringen würde. Selbst das Obst, das er gerade zu sich nahm, enthielt viel zu viel an aggressiven Säuren und tat ihm nicht gut.

Die Zollbeamten hatten das Schiff verlassen, bevor er sie vollends betrunken machen konnte; in einer halben Stunde konnten sie ablegen und ihre Fahrt in Richtung Varna fortsetzen, dem nächsten Etappenziel einer langen Reise, die ihm und seiner Mannschaft bevorstand.

Er hatte große Mengen an Kunstdünger gebunkert, die er in Namibias Tiefseehafen von Walvis Bay löschen sollte (Anscheinend wollte sich dort jemand mit einem respektablen Sinn für Humor daran machen, die Wüste zum Blühen zu bringen.).

Hätte der Kapitän nicht die zwei Zollbeamten, die er seit vielen Jahren kannte, so großzügig für ihre vorübergehende Erblindung entlohnt, wäre ihnen sicher ein anderer Teil der Fracht aufgefallen, der sie hätte staunen lassen. Im Unterdeck des Frachters waren einhundertsechzig übergroße Holzkisten verstaut, die verplombt waren und das Siegel der rumänischen Armee trugen. Und wenn man genauer hinsah, entdeckte man auf längst vergilbten Aufklebern, die einst an die Kisten gepinnt worden waren, dass diese schon vor fünfzehn Jahren verschlossen und eingelagert worden waren, bis sie nun plötzlich wieder zu neuem Leben erwachten.

Jannis wusste nicht einmal genau, für wen all dieses Gerät letztlich gedacht war (irgendein kongolesischer Rebell, vermutete er, aber es interessierte ihn auch nicht sehr).

Er würde noch ein paarmal anlegen, und dann diese Ladung ein Stück die Kongomündung hinauf löschen. Der Empfänger zahlte Unsummen für diese Waffen, und der Kapitän würde seinen Anteil daran erhalten. Es waren nur Strolche, die sich gegenseitig massakrierten, und würde er ihnen diese Waffen nicht bringen, täte es ein Anderer.

Wäre sein Reeder nicht so ein knausriger Dieb, hätten seine Angestellten so etwas nicht nötig gehabt. Aber er war nun mal einer, und das hatte dazu geführt, dass sich seine Schiffsführer bereits seit vielen Jahren dazu genötigt fühlten, sich ein zweites Standbein zu schaffen. Das war kriminell, aber beinahe jeder tat es, und das beruhigte nach und nach das eigene Gewissen.

Er hatte drei Söhne, und wenn er ehrlich zu sich war, dann waren alle drei handfeste Taugenichtse, was er auch dem Umstand zusprach, dass ihr Vater elf Monate im Jahr auf See gewesen war, während sie aufwuchsen. Die beiden Ältesten waren inzwischen verheiratet und hatten ihm – bis jetzt - drei Enkel beschert, die sie sich nicht leisten konnten; der Jüngste wohnte noch zuhause und hatte nicht einmal eine Freundin. Seine Frau und er hatten schon den Verdacht geäußert, dass er vielleicht schwul sein könnt; aber sie hatten es nie gewagt, ihn darauf anzusprechen. Der Junge war cholerisch und ging viel zu oft und viel zu schnell an die Decke. Aber egal, er war ihr Junge, sie befürchteten nur, und zwar zu Recht, dass er es in einer griechischen Kleinstadt auf dem Peleponnes nicht leicht haben würde, wenn er sich eines möglichst fernen Tages zu seiner Homosexualität (zu seiner möglichen Homosexualität, sie hofften immer noch das Beste) bekennen sollte.

Drei Kinder, die zu schnell wuchsen und eine Mutter, die nicht arbeiten gehen konnte, weil er kaum zuhause war – das erklärte, warum er nach dreißig Jahren auf See nicht einen einzigen Cent für seinen Ruhestand zur Seite gelegt hatte. Und das würde sich jetzt auch nicht mehr ändern lassen.

Sein Arzt hatte ihn bei der letzten Untersuchung skeptisch angeblickt und gesagt, er solle Schluss machen mit dieser Arbeit, dann würde er vielleicht, mit der Hilfe von starken Medikamenten, noch zwei oder drei halbwegs angenehme Jahre haben. Wenn nicht… er musste diesen Satz nicht vollenden.

Es hatte aus diesem Grund auch nur geringer Überzeugungsarbeit bedurft, ihn dazu zu bewegen, sich auf ein solch krummes Geschäft einzulassen. Er schätzte aus Erfahrung, dass er eine siebzigprozentige Chance hatte, diesen Auftrag erfolgreich auszuführen, und das war Argument genug. Wenn sie ihn erwischten, konnte er zwar im Gefängnis landen; aber angesichts seiner schweren Erkrankung konnte ein guter Anwalt vielleicht Haftverschonung für ihn herausholen. Wo also gab es ein Risiko?

Er würde für diese Fahrt zweihunderttausend Euro erhalten, und er hatte die Hälfte dieser Summe als Vorauszahlung verlangt, für den Fall, dass etwas ohne sein Verschulden schief ging. Dieses Geld lag jetzt je zur Hälfte in einem Schuhkarton im Keller seines Häuschens und bei einem seiner Cousins in Athen. Letztere Summe war als letzte Heuer und als Abfindung für seine Crew gedacht, und es war wenig genug für die jahrelange schlecht bezahlte Plackerei auf hoher See.

Nach Varna in Bulgarien waren es etwa neunzig Seemeilen, und da die alte Vanessa nicht mehr als vierzehn Knoten machte, waren es etwa sechseinhalb Stunden Fahrt dorthin.

Dort, im Schutze der Dunkelheit, würde er das Herzstück seiner Fracht an Bord nehmen, zigtausende Maschinengewehre mit mindestens anderthalb Millionen Schuss Munition, alter Kram aus ausgemusterten Beständen der Armee, wie seine Auftraggeber ihm gesagt hatten. Ihn hatte es zuerst gegruselt bei dieser Vorstellung, aber sie sagten ihm Friss oder Stirb! …und er hatte sich fürs Fressen entschieden. Sterben würde er bald genug.

 

Seine Mannschaft bestand aus sechs Filipinos, zwei Griechen und einem senegalesischen Koch.

Wenn Jannis auf die eine oder andere Art ausschied, würden auch sie sich einen neuen Job suchen müssen. Sein Reeder jammerte seit Jahren darüber, dass dieser alte Kahn ihn nur Geld koste und dass er ihn bald stilllegen müsse. Das war in auffälliger Weise immer nur dann ein Thema, wenn Jannis wegen einer höheren Bezahlung für sich und die Crew vorstellig wurde.

Dieser blöde Hund hatte fünf Schiffe im Mittelmeer herumschippern, und die sahen allesamt nicht besser aus als seine Vanessa. Aber ihm gehörten eine halbe Ägäis-Insel, zwei Häuser, eine luxuriöse Wohnung mitten in Athen, und er und seine Frau fuhren Porsche und Mercedes. Wahrlich ein armer Teufel!

Um neun Uhr ablegen, um vier Uhr morgens mit dem Beladen in Varna beginnen; dies würde gut drei Stunden dauern. Er konnte also kurz nach Sonnenaufgang schon wieder auf hoher See sein. Das klang gut, allerdings stand dem noch der bulgarische Zoll im Wege. Er kannte die dortigen Jungs, sie waren noch ein wenig gieriger als die in Rumänien, sie mussten allerdings dieses Mal auch noch gründlicher wegsehen als sonst. Es würde teuer werden.

Er würde falsche Papiere für diese Ladung mitführen, aber die würden keiner echten Überprüfung standhalten. Sie waren auch nur als Provisorium gedacht, damit er es bis nach Italien schaffte. Dort, vor der Küste Siziliens, würde ein Schnellboot zu ihm hinauskommen und ihn mit den endgültigen Dokumenten ausstatten; mit echten amerikanischen Frachtbriefen, ausgestellt von der Behörde eines Außenhandelsbeauftragten und mit vielen schönen Stempeln versehen, die dem Inhaber der Papiere nahezu freie Fahrt auf allen Weltmeeren und mit welcher Ladung auch immer ermöglichten. Außerdem sollte er ein Sternenbanner erhalten, mit dem er nach Durchfahren der Straße von Gibraltar unter neuer Flagge fahren würde.

Der Kapitän wollte zunächst weiter hinaus auf den Atlantik fahren als es aus navigatorischen Gründen nötig war. Je weiter er von der Küste weg blieb, desto unwahrscheinlicher war es, dass er angehalten und kontrolliert wurde. Auch die amerikanische Beflaggung war sinnvoll. Sein Schiff war damit amerikanisches Hoheitsgebiet und jeder mögliche Kontrolleur tat besser daran, dies zur Kenntnis zu nehmen. Die Amis waren schnell verschnupft, wenn ihre Schiffe belästigt wurden. Jeder wusste das und deshalb geschah es auch selten. Er würde trotzdem zur Sicherheit seine Ortungssysteme ausschalten, sobald er auf dem Atlantik war.

Der Kapitän stellte sein Geschirr in den Abguss und kletterte die Treppe hinauf zur Brücke. Selbst das war schwer genug. Es war Zeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen und nach dieser Fahrt endgültig das Handtuch zu werfen. Er hatte genug von alledem, und sein hinfälliger Körper verzieh ihm buchstäblich nichts mehr.

Seine Instrumente zeigten ihm an, dass mit dem Schiff alles in Ordnung war, sie konnten ablegen. Zehn Stunden noch, dann würde er wissen, ob und wie der Hase lief. Varna konnte alles vermasseln, denn ohne die dortige Ladung würde er gar nicht ablegen müssen, es lohnte nicht die Mühe und den weiten Weg. Er dachte an Maria, seine Frau, betete kurz für sie und gab dann Befehl, die Leinen loszumachen.

3 Berlin

Am Frankfurter Hauptbahnhof war die Hölle los. Wegen der großen Hitze spielten die Klimaanlagen der Fernzüge reihenweise verrückt, etliche Züge fielen aus, und das verursachte auf den Bahnsteigen ein großes Gedränge und eine ebenso große Aggressivität unter den Reisenden. Lautsprecherdurchsagen baten (erfolglos) um Verständnis und leierten ununterbrochen Ersatzverbindungen herunter, sofern denn welche vorhanden waren. Es wurde geschimpft, geflucht und gerempelt. Dieses Wetter machte die Menschen fertig, die Gemütslage der Gestrandeten war explosiv.

Cord hastete die Gleise entlang, ohne zu wissen, was er eigentlich wollte. Es sollte ein Zug sein, der ihn weit weg von hier brachte; das war alles, die Richtung war unwichtig. Es war kurz vor vier Uhr nachmittags, ein ICE stand an Gleis 9 bereit, er sollte laut Anzeige in ein paar Minuten nach Berlin abfahren, aber es war unklar, ob er es auch tatsächlich tun würde.

Er war von zu Hause aus mit Aktenkoffer und Reisetasche zur nächstgelegenen Straßenbahnhaltestelle gehastet und zum Bahnhof gefahren. Er hatte sich immer wieder umgedreht, um zu sehen, ob man ihn verfolgte. Eine junge Frau, die nach ihm die Bahn betreten hatte (und die ihn im Verlauf der zehnminütigen Fahrt nicht aus den Augen ließ), fiel ihm nicht auf. Sie stieg gemeinsam mit ihm aus und folgte ihm im Abstand von einigen Metern.

Der Detektiv sah einen Schaffner, der offenbar zu diesem Zug gehörte. „Fahren Sie oder fahren Sie nicht?“ Der Mann zuckte die Achseln und blickte auf die Uhr. „Bisher sieht es noch gut aus, in drei Minuten werden wir’s wissen.“

„Ich habe noch keinen Fahrschein. Ist es okay, wenn ich trotzdem einsteige?“ Der Zugbegleiter hatte nichts dagegen. „Wenn’s nichts Schlimmeres ist. Bleiben Sie in der Nähe des Bordbistros, ich komme dann zu Ihnen.“

Cord ging zur Mitte des Zuges und stieg ein. Die Gänge waren voll mit Passagieren, denen es nicht mehr gelungen war, einen Sitzplatz zu bekommen. Er würde ein Ticket für die erste Klasse lösen, um sich ein solches Schicksal zu ersparen; er musste die vierstündige Fahrt nutzen, an seinem neuen Notebook zu arbeiten. Es gab eine Menge zu tun. Und, zum Teufel, er war im Besitz von umgerechnet etwa achtzigtausend Euro Bargeld, und er hatte Bankobligationen im Wert von mehreren Millionen Dollar. Er konnte den ganzen Waggon kaufen, wenn er es wollte.

Der Zug fuhr an, und natürlich sah Cord nicht die junge Frau aus der Straßenbahn, die auf seiner Höhe am Gleis stand, schon beim Schließen der Türen ihr Handy zückte und hastig eine Nummer wählte. Cord atmete durch und wartete auf den Zugbegleiter.

Der ICE 596 fuhr von Frankfurt nach Berlin und bot sechs Zwischenstopps, bei denen er hätte aussteigen können. Aber nachdem er sein Ticket bis zur Endstation nachgelöst hatte und in einem ansonsten leeren Erste-Klasse-Abteil saß, verlor er bald jedes Zeitgefühl. Zu seinem Glück ließ sich das Lenovo-Notebook des ermordeten Bulgaren starten, und es enthielt auch keine erkennbaren Sperren oder Passwörter; er benötigte nur dringend ein Akkukabel, sobald er irgendwo ankam.

Es dauerte allein anderthalb Stunden, bis er seine sämtlichen Passwörter zurückgesetzt und seine Accounts durch schwer zu erratende neue Kennwörter und Sicherheitsabfragen nahezu wasserdicht gemacht hatte. Danach gönnte er sich eine Dose Bier und schloss für eine Weile die Augen. Er würde gegen halb neun am Abend in Berlin eintreffen, er war müde, hatte aber noch kein Hotel gebucht und hatte auch keine Ahnung, wohin das Ganze eigentlich führen sollte.

Normalerweise hätte er heute Abend Taekwondo-Training gehabt, dachte er beiläufig. Er würde zum ersten Mal seit der Geburt seiner jüngsten Tochter fehlen, ohne vorher abgesagt zu haben.

Er hatte als Kind ein frühes Erweckungserlebnis gehabt, das ihn dazu antrieb, nach und nach verschiedene Kampfsportarten zu erlernen. Es hing mit seinem Vater zusammen, der ein ziemlich radikaler Linker gewesen war und der keine Demonstration, kein Sit-In, keine Blockade oder was auch immer ausgelassen hatte, solange er noch gesund genug dazu gewesen war.

Auf einer dieser Demos – Cord war zu dieser Zeit noch keine zehn Jahre alt – passierte es: Eine militante Nachfolgeorganisation der längst verbotenen faschistischen Wehrsportgruppe Hoffmann fiel an diesem Tag über ein kleines Grüppchen friedlicher Demonstranten her, die gerade gegen irgendetwas protestierten, was Cord inzwischen vergessen hatte.

Seinen Vater erwischte es besonders schlimm, denn sie knüppelten ihn vor den Augen seines kleinen Sohnes nicht nur zu Boden, sondern traten ihn mit ihren schweren Springerstiefeln noch zwei oder dreimal gegen den Kopf, wonach er ins Koma fiel und erst nach vier Tagen in der Universitätsklinik wieder zu sich kam.

Noch am Krankenbett schwor sich ein kleiner wütender Cord, dass ihm so etwas nie, nie, nie im Leben passieren würde, und als sein Vater wieder zuhause war, bekniete er beide Elternteile so lange, bis sie ihn zu seinem ersten Judo-Kurs anmeldeten.

Der Rest war Geschichte, in seinem anhaltenden Zorn und seiner immer weiter glühenden Wut verbrachte er Jahre damit, immer neue Kampfstile zu erlernen, bis er zu Beginn seines Studiums bereits vier verschiedene Gürtel besaß und auf Länderebene zu Wettkämpfen antrat.

Aber er sollte jetzt an andere Dinge denken. Gegen die Kugel eines Attentäters konnte er mit all seinen Kampfkünsten nichts ausrichten. Deshalb waren jetzt auch nicht Mut oder Verwegenheit gefragt, sondern höchste Achtsamkeit und strategisches Denken.

Während er erschöpft für einen Moment wegdämmerte, sich in der Halbwelt zwischen Wachen und Schlafen befand, zogen Bilder vor ihm auf, Bilder von seinen Kindern, wie sie irgendwo am Wasser spielten, wie sie lachten und sich gegenseitig ihre Eimerchen voll Wasser über dem Kopf ausschütteten; er sah seine Ex-Frau, die ihnen mit gerunzelter Stirn dabei zusah und ihm einen bösen Blick zuwarf, weil er nicht einschritt. Aber vom Wasser driftete sein Verstand unversehens zu Haien, die von oben gesehen nur Schatten unter der Wasseroberfläche waren, aber er wusste ganz bestimmt, dass es Haie waren. Die Szenerie wechselte erneut und er sah seine Frau mit ihrer jüngsten Tochter auf der Aussichtsplattform des Empire State Building stehen, sein Verstand protestierte dagegen, weil das Bild nicht real war. Sie hatten das einmal geplant, vor gar nicht langer Zeit, aber sie hatte es ihm mit dem Hinweis auf ihre angespannte finanzielle Lage ausgeredet. Zu Recht - oder auch nicht. Wer konnte das am Ende sagen?

Er setzte sich ruckartig auf und war wieder ganz im Hier und Jetzt seiner elenden Lage. Es waren kaum fünf Minuten gewesen, die er geschlafen hatte, aber er hatte das Gefühl von etwas sehr Wichtigem mitgenommen, wenigstens schien es ihm jetzt so. Aber was war es gewesen?

Die Kinder, die Haie und New York…

Amerika!

Er könnte sich für eine Weile in die USA absetzen, morgen schon, wenn er nach Berlin durchfuhr und einen Flug fand. Er kannte sich dort aus, war oft genug mit Mietwagen durchs ganze Land gereist und hatte mehr davon gesehen als der durchschnittliche Amerikaner je sehen würde.

Und – Amerika war groß, sogar sehr groß. Er würde sich dort eine Zeitlang verstecken können und hoffen, dass die Leute, die hinter ihm her waren, eines Tages das Interesse an ihm verloren.

Der Zug hielt für ein paar Minuten in Leipzig, und seine Sehnsucht nach einer Zigarette war so groß, dass er sein Abteil für kurze Zeit verließ und aus dem Zug stieg. Dabei konnte er durch das Fenster des Waggons sein Gepäck im Auge behalten.

Er besaß aus dem letzten Jahr noch eine ESTA-Erlaubnis zum visafreien Antritt einer Reise in die Vereinigten Staaten. Sie war zwei Jahre gültig und war Überbleibsel vom vergangenen Dezember, als er für sich und die Familie in der Vorweihnachtszeit einen Städte-Trip nach New York geplant hatte. Die Mädchen bekamen für diese Reise sogar ihre ersten richtigen Reisepässe, aber zuletzt scheiterte die ganze Sache eben am Geld.

Aber dieser damals vertanen Gelegenheit nachzutrauern war jetzt nicht die Zeit. Sein kurzer Traum hatte ihm vielleicht ein Stichwort geben wollen. Er stieg zurück in den Zug und begann nach Flügen zu suchen. Eigentlich eine Schnapsidee, aber angesichts des Unfugs, den er heute schon angestellt hatte, kam es darauf nicht mehr an.

Erst eine halbe Stunde vor der Ankunft in Berlin kam er dazu, sich um den eigentlichen Inhalt des Notebooks zu kümmern. Er klickte hier und da, er las Excel-Dateien und Mails, fand Gesprächsnotizen und einiges mehr. Er stocherte wahllos herum, und sein Mut sank von Minute zu Minute. Absurd, sogar surreal, in was er da hineingeraten war. Wenn er die Dinge nach oberflächlicher Lektüre richtig verstand, ging es bei dem blutigen Anschlag im Zoo um ein Waffengeschäft zwischen einem Warlord im Osten des Kongo und… ja, wer war eigentlich die andere Seite?

 

Der Detektiv fand eine ganze Reihe von Mails, in denen Dinge besprochen wurden, die er nur teilweise verstand. Orte wie Plovdiv in Bulgarien, Häfen wie Varna und Constanta am Schwarzen Meer wurden erwähnt, ebenso wie der kleine sizilianischer Hafen von Syrakus, wo etwas übergeben werden sollte. Und immer ging es um Waffen, die Art der Verschiffung dieser Waffen, um Geld und um Diamanten, teilweise von Natur aus blau und rosa eingefärbte Diamanten, die angeblich seltener und teurer waren als gewöhnliche Edelsteine.

Auch deren Transportwege wurden diskutiert und verworfen, Mittelsmänner namentlich oder mit ihren Spitznamen (die offenbar jeder an dieser Sache Beteiligte kannte) erwähnt, eine Hafenstadt in der Kongo-Mündung war Ziel von etwas, das gelegentlich auch nur als Ware bezeichnet wurde. Dokumente waren erstellt, ausgedruckt, eingescannt und archiviert worden. Es ging um die ganze Wertschöpfungskette bei diesem Geschäft, vom afrikanischen Rebellen, der eine Diamantmine in der Nähe des Kivu-Sees kontrollierte, bis hin zu Diamantschleifern in Antwerpen, Amsterdam, London und New York, die nur halblaute Fragen nach der Herkunft der Steine stellten.

Und es ging immer wieder um Geld. Bestechungsgeld hier, Geld für den Transport dort, Geld überall. Als Cord kurz vor Berlin erschöpft aufgab und den Laptop ausschaltete, wusste er in allergröbsten Zusammenhängen Bescheid. Aber er hatte bisher nur an der Oberfläche gekratzt, das ließ sich schon jetzt sagen.

Er war bei einem kriminellen Waffendeal zwischen die Zahnräder einer längst laufenden Maschinerie geraten; was er an Bargeld und Wertpapieren bei sich trug, war wohl als Provision für die sogenannten D.C.-Leute gedacht; um wen es sich da genau handelte, konnte er noch nicht sagen, aber eines der Dokumente trug den digitalen Stempel eines ihm unbekannten Ministeriums oder Institutes der Vereinigten Staaten. Das alles war rätselhaft und beunruhigend. Die Leute, deren Geld er gestohlen hatte, drehten ein ziemlich großes Rad, und sie waren dabei nicht zimperlich.

Als der Zug mit einigen Minuten Verspätung in den Berliner Hauptbahnhof einfuhr, stieg ein von den Ereignissen des Tages mitgenommener Cord Hennings aus. Er sehnte sich nach einem Bett und einer Nacht erholsamen Schlafes, die er aber kaum bekommen würde.

Das Ladekabel nicht vergessen!

Er war auf das Notebook, das ihm nicht gehörte, angewiesen, und vor wenigen Minuten, kurz vor Ankunft des Zuges, war sein Ladestatus bei unter zehn Prozent gewesen. Er ging vom Gleis aus direkt zu einem Informationsschalter, wo ihm eine hilfsbereite Dame nach ein paar Anrufen zwei Elektro- bzw. Computerläden nannte und den kurzen Weg dorthin beschrieb.

Um halb zehn besaß er ein neues Kabel und hatte einen halben Döner gegessen, den er mit Dosenbier herunterzwang; Aufregung und die Hitze schlugen auf seinen Appetit, selbst um diese Stunde war es noch fast dreißig Grad warm, wie das Thermometer über dem Eingang einer Bank behauptete. Aber Cord würde schwerlich noch irgendwo hinkommen, wenn er nicht wenigstens ab und zu etwas aß. Essen war Energie, und Schlaf war wichtig, damit er klar denken konnte.

Er setzte sich auf die oberste Stufe der Steintreppe einer Kirche und überlegte. Es gab mehrere Möglichkeiten, in die USA zu reisen, den besten Flug schien Delta anzubieten. Von Berlin Tegel über Paris Charles de Gaulle nach Miami. Morgen Nachmittag gegen halb sechs Ortszeit konnte er sicheren Boden unter den Füßen haben - falls es so etwas für ihn noch gab.

Er war früher gelegentlich mit Air Berlin von Düsseldorf nonstop nach Fort Myers im Südwesten Floridas geflogen, aber diese Verbindung gab es nach der Pleite der Airline nicht mehr in dieser Form. Aber Miami klang auch gut. Wenn überhaupt noch Platz in der Maschine war, denn für eine Online-Buchung war es zu spät; er würde sein Glück am Flughafen versuchen müssen. Einen Mietwagen konnte er erst bestellen, wenn sein Reiseziel feststand; das musste also warten bis zum Morgen.

Er wollte gegen sechs Uhr am Delta-Schalter sein, der Flug startete um kurz vor zehn. Jetzt noch in ein Hotel zu gehen lohnte sich nicht mehr, deshalb nahm er ein Taxi und fuhr, vorbei an Moabit und dem Wedding, direkt zum Flughafen. Es war eine Fahrt von fünfzehn Minuten, und nachdem er eine gutgemeinte Frage des älteren Taxifahrers nur knapp beantwortet hatte, schwieg dieser. Der Fahrgast wollte seine Ruhe haben, und das war sein gutes Recht.

In Tegel angekommen betrat Cord die Abflughalle und hielt Ausschau nach einem Platz, an dem er für eine Zeitlang ausruhen konnte. Das kleine Abendessen hatte ihn nicht wieder munterer gemacht, im Gegenteil, jetzt fühlte er sich schwer und war todmüde. Er fand einen fast leeren Wartesaal, in dem nur eine Großfamilie aus Indien oder Bangladesch saß, setzte sich so weit wie möglich entfernt von den völlig überdrehten Kindern, stellte seinen Handywecker auf fünf Uhr dreißig und schlief fast augenblicklich ein. Er hatte vor dem erhofften Einchecken noch ein paar Dinge zu erledigen, vor allem, was das Bargeld in seinem Gepäck anging. Und es gab noch eine Transaktion, die er unbedingt vornehmen wollte.

Gegen drei Uhr morgens schrak er hoch und wusste zuerst nicht, wo er sich befand. Seine Glieder schmerzten vom unbequemen Sitzen.

Draußen im Abflugbereich fuhren Kehrmaschinen hin und her, er war ausgetrocknet und sehnte sich nach einem Kaffee; aber zunächst nahm er Aktenkoffer und Reisetasche und ging nach draußen, um vor dem Gebäude zu rauchen. Es wurden schließlich drei Zigaretten, denn er hatte noch eine Menge Zeit zu überbrücken. Er hielt Ausschau nach einer Bank oder Wechselstube und fand eine Sparkasse, die aber erst um sechs Uhr öffnen würde.

Kein Problem.

Und er bekam sein Ticket nach Miami, auch wenn die Dame am Delta-Schalter verstört darauf reagierte, dass er in bar bezahlen wollte. Sie sprach mit einer Kollegin darüber und kam nach einer Minute zurück. „Tut mir Leid, das haben wir hier nicht mehr oft.“ Er murmelte etwas, das wie eine Entschuldigung klingen sollte. „Check-In ist ab sechs Uhr vierzig. Delta Airlines wünscht Ihnen einen angenehmen Flug.“

Erleichtert und dankbar nahm er sein Business-Class-Ticket entgegen. Man musste auch einmal Glück haben. Diesem Glück hatte er allerdings mit seinem ersten Sündenfall nachgeholfen, denn er hatte Geld aus dem Aktenkoffer dafür verwendet. Es war kein besonders erhebendes Gefühl, aber die Gefahr und das einsetzende Reisefieber verdrängten die Scham in eine Abstellkammer seines Gewissens.

Um kurz nach halb sieben betrat er die Bank, zählte dem Kassierer zehntausend Euro vor und autorisierte eine Überweisung an seine Ex-Frau. Wer wusste schon, wann er wieder in der Lage sein würde, den Unterhalt für seine Mädchen zu bezahlen?

Er hatte in einem der Geldbündel aus dem Koffer gut zwanzigtausend US-Dollar gezählt, wusste aber, dass er Bargeldbeträge, die über zehntausend Dollar hinausgingen, bei der Einreise auf seiner Zollerklärung würde angeben müssen. Das wollte er nicht, er musste versuchen, die Anzahl an Fragen, die man ihm am Zoll in Florida stellen konnte, so gering wie möglich zu halten.

Wie es sich mit den anderen Währungen verhielt, wusste er nicht. Er würde sie in seiner Reisetasche zwischen der Wäsche verstecken und hoffen, dass diese nicht von den Zöllnern geöffnet wurde. Falls doch, würde er einiges zu erklären haben.

Er tauschte die überzähligen Dollar gegen Schweizer Franken in großen Scheinen ein und verließ die Bank. Noch fast drei Stunden bis zum Abflug. Sollte ihm immer noch jemand folgen, so wäre er hinter dem Security Check besser aufgehoben als davor. Man brauchte eine Bordkarte, um dorthin zu durchgelassen zu werden. Also verzichtete er zunächst auf ein Frühstück und ging ein zweites Mal zum Check-In-Schalter von Delta, um sein Gepäck aufzugeben und seine Bordkarte entgegenzunehmen.