Hitzeschlacht

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

„Gut so. Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?“

Matthias zieht seine Krawatte jetzt ganz aus, steckt sie in die Hosentasche und öffnet die obersten beiden Knöpfe seines Hemdes.

„Wir hatten noch ein bisschen Spaß mit dem Mädchen, ich hoffe, das ist okay.“

„Das geht mich nichts an, solange ihr Kondome übergezogen und keine Spuren hinterlassen habt. Was sonst noch?“

„Aber klar, Chef, wir sind keine Selbstmörder. Wollen Sie etwas trinken? Wir haben warmes Bier und warme Cola.“

„Nein, aber ich habe gefragt, ob ich sonst noch etwas über euren Auftritt wissen muss.“

„Ja, es ist etwas vorgefallen, das ich unbedingt hätte verhindern müssen - aber ich habe zu spät reagiert.“ Der Boss der Bande windet sich jetzt ein wenig. „Unser Frettchen, der Junge da hinten mit dem Jagdmesser, hat dem Flittchen noch einen speziellen Gruß in den Rücken geritzt, nachdem wir es erledigt hatten. Es ging alles sehr schnell. Sie wissen, was die Doppelacht bedeutet, nehme ich an.“

Richling blickt Matthias an, als hätte dieser einen gewaltigen Sprung in der Schüssel. „Was? Seid ihr denn komplett wahnsinnig geworden?“

„Tut mir leid, Mann.“ Natürlich tut es ihm leid, denn das, was seine Jungs ausfressen, wirft zwangsläufig auch ein schlechtes Licht auf ihn selbst; entweder ist er zu blöde, um einen solch kapitalen Bock zu erkennen, oder es fehlt ihm an Autorität gegenüber seiner kleinen Truppe. Würde man das Letztere von ihn annehmen, träfe es ihn tiefer in seiner Eitelkeit.

„Ich hatte dir doch ausdrücklich gesagt, dass es in dieser Sache noch weitere Jobs zu erledigen gibt. Lukrative Jobs, verdammt! Wie könnt Ihr da schon gleich zu Anfang die Bullen so durch und durch dämlich auf eure Spur bringen? Unglaublich!“

Richling registriert aus dem Augenwinkel, dass nun alle Augen auf ihn Matthias gerichtet sind. Niemand spricht mehr. Die Jungs wollen ihr Geld haben und sich und ihre Tat feiern, und nun wittern sie, dass Richling sich vielleicht weigern wird, sie auszuzahlen. Die Spannung in der drückenden Hitze der Gartenlaube steigt.

Also gibt sich Richling jovial und holt mit einem „Schwamm drüber!“ den Umschlag mit dem Geld aus einer abgewetzten Aktentasche hervor. „Kann ja jedem mal passieren“, schiebt er noch hinterher und übergibt Matthias als dem Ranghöchsten in dieser kleinen Guerillatruppe fünf Bündel mit Banknoten. „Zehntausend für jeden, wie vereinbart. Und bitte halte deinen Laden sauber, Mann. Du weißt hoffentlich, dass eine einzige faule Kartoffel die gesamte Ladung verderben kann. Und wenn ich das richtig sehe, dann sind es bei dir gleich zwei.“

Richling stellt sich vor, wie diese fünf Kerle über ein fünfzehnjähriges Mädchen herfallen und sie nacheinander vergewaltigen. Es sind Tiere, denkt er, aber sie singen mein Lied.

Matthias nimmt das Geld und wirft jedem seiner Leute eines der Bündel zu, kreuz und quer segelt Richlings schönes Geld durch den Raum, und Detlev ist als Einziger wieder so neben der Spur, dass er seines fallen lässt. Der Junge muss schleunigst weg, das steht fest. Das Geld für einen langen Urlaub hat er jetzt.

Die Spannung hat sich wieder gelegt, alle bis auf Matthias zählen ihren Lohn, denn Kontrolle ist bekanntlich besser als Vertrauen.

5

„Entweder waren es tatsächlich Nazis, oder jemand versucht, es so aussehen zu lassen“, sagt Schimmelpfennig zur Begrüßung, „das kann man ja heutzutage nicht immer so genau sagen.“

„Wie ist sie gestorben?“ Schuchardt bemüht sich nach Kräften, an dem aufgebahrten Leichnam des Mädchens vorbei zu schauen. Auch nach fast dreißig Jahren bei der Kripo, stellt er fest, bist du noch immer nicht vorbereitet auf einen solchen Anblick.

„Langsam und qualvoll. Mehrfache Vergewaltigung, vermutlich durch verschiedene Täter, aber wir haben kein verwertbares Sperma. Das ‚mehrfach‘ schließe ich im Wesentlichen aus den unterschiedlichen Druckmalen an ihren Armen. Ich vermute, sie ist von verschiedenen Tätern auf verschiedene Arten festgehalten worden, während man sie vergewaltigte.

Dazu kommen noch Pfählung und Schädelbruch, letzterer mit Holzsplittern als Rückstand, die „88“ wurde ihr zwischen die Schulterblätter geritzt. Da war sie allerdings schon tot – die Wunden haben nicht mehr nennenswert geblutet.

Letzteres, diese Ritzungen, würde ich an Ihrer Stelle der Öffentlichkeit noch vorenthalten. Was nicht heißen soll, dass ich mich in Ihre Ermittlungen einmischen will. Ich denke nur an den allgemeinen Aufschrei, und dass dieser Ihnen sicher nicht bei der Arbeit weiterhelfen wird.“

Die „88“ ist eine bei Neonazis beliebte Art, den Hitlergruß zu gebrauchen, ohne sich strafbar zu machen. Sie steht für „HH“, den achten Buchstaben des Alphabets.

„Das Mädchen war jüdischen Glaubens“, sagt Schuchardt mehr zu sich selbst. Die Familie ist verwandt mit dem Besitzer einer großen Frankfurter Spedition. Der Vater des Mädchens hat einen guten Namen als Musikagent. Über die Mutter weiß er nichts.

„Was denken Sie, wann ist sie gestorben?“ – „So wie es für mich aussieht, vor etwa vier Tagen. Wann, sagen Sie, ist sie entführt worden?“

„Soweit wir das bisher feststellen konnten, am späten Donnerstagnachmittag.“ Wenn sie seit vier Tagen tot ist, dann haben ihre Mörder nicht viel Zeit verloren, bevor sie Rebecca Silberschmied all diese grauenhaften Dinge antaten.

Dass es mindestens zwei Täter sind, ist als gegeben anzusehen. Als der Wagen neben ihr gehalten hat, ist laut der Zeitungsfrau jemand ausgestiegen, der auf der Rückbank gesessen hat, also war er nicht der Fahrer.

Die „Signatur“, wenn man es denn so nennen will, ist entweder sehr clever gemacht, oder aber äußerst idiotisch; clever, wenn sie als Ablenkung gedacht ist, dämlich, wenn nicht.

Der Pathologe hat zweifelsfrei Recht mit seiner Warnung – andererseits ist Schuchardt lange genug dabei, um zu wissen, dass Verschweigen in aller Regel ein aussichtsloses Unterfangen ist. Irgendeiner quatscht immer.

„Schuchardt, ich würde Ihnen dringend empfehlen, die Eltern davon abzubringen, sich den kompletten Leichnam anzusehen. Zu den gerade beschriebenen Verletzungen kommt Tierfraß post mortem. Das Gesicht, den Kopf und die Schultern der jungen Frau können wir einigermaßen herrichten - was von ihr unter dem Laken übrig ist, sollte niemand sich anschauen müssen, am wenigsten die Angehörigen.“

„Jemand muss sie identifizieren. Wie wollen Sie ihn daran hindern, das Laken zurückzuziehen?“

„Ich kann den Leichnam bis zum Hals zugedeckt hinter einer großen Glasscheibe aufbahren, das Gesicht reicht für eine einwandfreie Bestätigung.“

Schuchardt wird mit der Familie des Opfers zusammenarbeiten müssen, um Aussicht auf Ergreifung der Täter zu haben; ob es dabei ratsam ist, einen möglicherweise politisch-rassistischen Hintergrund zu verschweigen, kann er zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Aber es ist bestimmt eine gute Idee, sich in dieser Hinsicht mit dem Polizeipräsidenten zu verständigen. Wahrscheinlich wird aber binnen kurzer Zeit irgendein Neunmalkluger Mutmaßungen in dieser Richtung anstellen und sie öffentlich kundtun; und dann ist die Katze sowieso aus dem Sack.

Deshalb wird diese Ermittlung wohl zu einem üblen Höllenritt werden. Seine Vorgesetzten, die Politik, die Opferfamilie, die zahlreichen jüdischen Einrichtungen und Stiftungen der Stadt, die Presse, Social Media, Spinner jedweder Couleur – sie alle werden ihm auf die Finger sehen, jeden seiner Schritte kommentieren, aufs Tempo drücken, Kritik äußern, nicht immer angemessen, oft genug ignorant, vereinfachend oder plakativ, das alles liegt in der Natur der Dinge - und in der Natur des Menschen.

Sein Handy summt, es ist Kretschmar von der Spurensicherung. „Ich weiß nicht, ob es Ihnen etwas nutzt, Kommissar, aber uns schien es interessant zu sein.

Sie wissen ja, dass es in unmittelbarer Nähe des Fundortes der Leiche wegen der großen Trockenheit keine verwertbaren Fußspuren gibt. Etwa fünfzehn Meter entfernt von der Stelle sieht das ganz anders aus. Dort hat wohl kurz vor dem Mord die Stadt ein paar Büsche und ein Blumenbeet gewässert, und dort sind wir auf eine ganze Reihe von Stiefelspuren gestoßen. Verstehen Sie, was ich meine? Frische Stiefelspuren in einer Zeit, in der wir seit Wochen fünfunddreißig Grad im Schatten erleben und selbst die Königin von England im String-Tanga herumläuft.“

Schuchardt brummt seine Zustimmung und bedankt sich, bevor er das Gespräch beendet.

Das beweist nichts, sondern ist allenfalls ein Indiz. Aber der Gedanke allein ist zu verführerisch. Radikale Islamisten tragen keine Stiefel, auch nicht, wenn sie Anschläge verüben. Es können einfach ein paar Biker gewesen sein, die an der besagten Stelle ein Picknick veranstaltet haben. Das allerdings ist weit hergeholt, denn die Stelle ist mindestens vierhundert Meter von der nächsten asphaltierten Straße entfernt, wo sie ihre Öfen hätten abstellen dürfen; aber völlig undenkbar ist es nicht. Lachhaft, denkt Schuchardt, es sind Neonazis, auch wenn es dir nicht schmeckt. Und diese Leute wollen auch, dass ihre Tat publik wird.

Aber warum sind sie ausgerechnet auf eine 15-jährige Schülerin verfallen? Sie haben sich Rebecca schließlich vorab ausgesucht und müssen sie eine Zeitlang beobachtet haben.

Vielleicht weiß jemand aus der Familie etwas dazu. Hat es im Vorfeld Auseinandersetzung gegeben? Läuft hier eine private Vendetta? Dreht ein Konkurrent des alten Erdmann durch? Fragen, nichts als Fragen, aber so ist es immer bei seinen Fällen. Wenn es eng zugeht, ziehen sie ihn hinzu und nicht irgendeinen Anfänger.

„Wissen Sie was, Schuchardt…,“ Schimmelpfennig, der alte Haudegen der Pathologie mit fünfdreißig Jahren Berufserfahrung, nimmt seine Brille ab und reibt sich die Augen „… mir geht das immer noch unter die Haut, obwohl ich mindestens fünftausend Leichen auf dem Tisch hatte.“ Seine Stimme klingt brüchig. „Welche Tiere tun so etwas? Und warum tun sie es?“

 

Ja, warum, denkt Schuchardt. Er antwortet nicht, weil es schwer ist, eine Tat wie diese zu verstehen. Die Schule des Lebens hat ihn gelehrt, dass es solche Verbrechen einfach gibt. Manchmal kann er in die Köpfe seiner Mörder hineinsehen, denn größtenteils sind es Habgier, Rache oder verschmähte Liebe, die zu einer solch verhängnisvollen Tat führen. Eine so unnötige Grausamkeit wie die hier vorliegende ist schwerer zu entschlüsseln, und manchmal findet man auch gar keine Antwort und bleibt fassungslos zurück. Bis zu einem gewissen Grad hat er gelernt, es zu akzeptieren.

Es drängt ihn jetzt, den Auftritt bei den Angehörigen dieses armen Mädchens hinter sich zu bringen. Hier in diesem gekühlten Kellerraum der Uniklinik mit seinen in Weiß gekachelten Wänden und dem Geruch nach Paraffin und Putzmitteln warten keine Antworten mehr auf ihn; die gibt es nur draußen in der unbarmherzigen Hitze dieses Sommers, die die Leute nach und nach verrückt zu machen beginnt.

Als er wieder nach draußen kommt, bricht ihm sofort der Schweiß aus. Achtunddreißig Grad haben sie für den Nachmittag versprochen, und es ist kein Ende in Sicht. Auf dem Beifahrersitz seines Dienstwagens liegt eine halbvolle Flasche Wasser, und er trinkt gierig und in großen Schlucken, obwohl es inzwischen beinahe heiß geworden ist.

Bevor er den Motor anwirft, telefoniert er mit seiner Dienststelle und bestellt einen Polizeipsychologen zum Haus der Silberschmieds. Sicher ist sicher, er weiß nicht, ob er diesen trostlosen Job alleine hinkriegt. Der Mann soll vor dem Haus auf ihn warten.

Als die Zentrale ihm sagt, dass Posche, der Seelenklempner vom Dienst, erst in zwei Stunden vor Ort eintreffen kann, beschließt Schuchardt, bei einer Imbissstube zu halten und ein paar Kalorien zu sich zu nehmen. Das ist schwierig genug, aber es hilft ihm immerhin, die Zeit totzuschlagen.

6

Aaron Silberschmied sitzt regungslos in seinem Sessel und ringt um Fassung. Bis in den achtzehnten Stock des Hotels „Isrotel Tower“ dringt kein Lärm von der Straße, es ist mucksmäuschenstill, wenn man vom gelegentlichen Öffnen und Schließen der Aufzugtür auf seinem Flur absieht.

In Tel Aviv ist es ebenso heiß wie in Deutschland, nur spürt er dank der voll aufgedrehten Klimaanlage nichts davon. Und täte er es doch, dann wäre es ihm egal.

Rebecca ist tot. Er weiß es erst seit ein paar Minuten, und in ihm ist alles taub. Ich muss es Moshe sagen, betet er sich immer wieder vor, um dann doch sitzen zu bleiben und weiter vor sich hin zu starren.

Rebecca hat aufgehört zu leben, ihr kleiner Augapfel, ihre Nachzüglerin, ihr Nesthäkchen, denn sie kam erst zur Welt, als ihr Bruder Moshe schon zehn Jahre alt war und sie sich längst damit abgefunden hatten, dass er ein Einzelkind bleiben würde. Und jetzt ist sie tot, ermordet von unbekannten Tätern, die nicht wissen, was sie ihnen antun. Einfach so, aus heiterem Himmel.

Ich muss Moshe erreichen, sagte er sich wieder vor, bleibt aber wie angewurzelt dort sitzen, wo er gerade sitzt, zwei Schritte entfernt von dem Telefon auf seinem Nachttisch und dem Handy in seiner Jacke, die über der Rückenlehne des Stuhls vor dem kleinen Schreibtisch hängt.

Es ist Nachmittag, und sein Sohn kriecht wahrscheinlich gerade irgendwo auf den Golanhöhen im Staub herum und übt sich in „Häuserkampf“. So sieht es sein Lehrplan in dieser Woche vor, wenn Aaron sich richtig entsinnt. Sie telefonieren regelmäßig an den Wochenenden, und so sind seine Eltern zumeist darüber im Bilde, welche Fortschritte er in seiner Ausbildung macht.

Wenn es nach Aaron geht, soll es auch bei diesen Übungen bleiben; er hofft, dass sein Sohn irgendwann zur Vernunft kommt. Er ist smart, clever und er hat ein Einser-Abitur in der Tasche, weshalb ihm so viele friedfertigere Wege offenstehen als der, den er beschritten hat.

Eine Zeitlang hat bei Silberschmieds in Frankfurt der Haussegen ernsthaft schiefgehangen, nachdem Moshe sich dafür entschieden hatte, nach seiner zweieinhalbjährigen Militärzeit nicht zurück nach Deutschland zu kommen, um dort zu studieren. Nein, er will etwas für sein Land tun, sagte er damals im Brustton der Überzeugung, und dafür scheint ihm ausgerechnet die Arbeit beim israelischen Mossad am geeignetsten.

Rebecca, meine Kleine! Ist er bisher noch wie betäubt gewesen, so schüttelt ihn jetzt der Schmerz durch, ein trockenes Schluchzen bahnt sich seinen Weg nach draußen und sein Oberkörper schwingt unwillkürlich vor und zurück, so als habe er sein Baby im Arm und wolle es beruhigen.

Da Moshe aus Sicherheitsgründen kein Handy benutzen darf, ist Aaron auf seine Dienststelle angewiesen. Die gibt seinen Anruf weiter und sein Sohn kann ihn dann von einem Gemeinschaftstelefon aus zurückrufen.

*

Moshe weiß, dass sein Vater in Tel Aviv ist, und er hat schon auf dessen Anruf gewartet. Er will versuchen, bei seinen Ausbildern einen freien Tag herauszuholen, damit er sich mit ihm treffen kann. Das Hotel, in dem sein Vater abgestiegen ist, liegt direkt am Mittelmeerstrand von Tel Aviv, und es ist mehr als nur verlockend, nach der Schinderei der letzten Wochen einfach einmal einen Badetag einzulegen.

Aber wie er seinen Vorgesetzten kennt, ist das kaum zu erwarten. „Silberschmied, wie viele Urlaubstage stehen Ihnen jährlich zu?“ Das wird wahrscheinlich der einzige Kommentar zu seinem Anliegen sein, schließlich sind sie hier nicht im Kindergarten. Der Feind legt sich auch nicht an den Strand.

Als er unter der Dusche den Staub eines langen Tages losgeworden ist, hat er Hunger. Er kann zwischen der kleinen Kantine im Haus und dem Kühlschrank seines Zimmers wählen und entscheidet sich für Selbstverpflegung. Er hat Schwarzbrot und Dosenfleisch gebunkert, das soll für heute reichen.

Ein Junge aus seiner Brigade steckt den Kopf durch die Tür. „Du sollst beim Kommandanten antreten, und zwar sofort.“

Moshe lässt alles stehen und liegen und geht mit einem mulmigen Gefühl die paar Meter zum Büro seines Vorgesetzten. Hat er etwas angestellt? Eigentlich ist er mit sich im Reinen, und er gehört - abgesehen davon - zu den Jahrgangsbesten. Was soll’s, denkt er und klopft an die Tür.

„Setzen Sie sich“, sagt sein Boss und beendet kurz darauf das Telefonat, das er gerade noch geführt hat.

Jizchak Sharon schaut Moshe prüfend an, Moshe schaut bange zurück und fragt sich, was als nächstes kommen mag. Für eine Beförderung ist er noch nicht lange genug dabei, und degradieren können sie ihn auch nicht, weil er noch ganz unten auf der Karriereleiter steht.

„Bei Ihnen zuhause in Deutschland ist etwas geschehen, ein Unglück, wenn ich es recht verstanden habe. Sie sollen bitte Ihren Vater anrufen, er wartet auf Ihren Rückruf. Es ist dringend, also verlieren Sie besser keine Zeit.

Er hat gesagt, dass Sie wissen, wo er sich gerade aufhält, abgesehen davon können Sie ihn ja auf seinem Handy erreichen. Ich bin hier noch für zwei oder drei Stunden beschäftigt. Bitte kommen Sie nach dem Gespräch noch einmal her, wenn Ihnen danach ist.“

Mit diesen Worten entlässt ihn der Kommandant, und Moshe hat nun endgültig weiche Knie.

*

Obwohl Rebecca schon seit zwei Tagen vermisst wird, besteigt Aaron Silberschmied morgens eine Maschine der EL AL, die ihn von Frankfurt nach Tel Aviv bringt.

Er hat kaum eine Wahl, denn er hat in den letzten sechs Monaten einen Deal im exorbitanten Umfang von über zweiundsechzig Millionen Dollar auf den Weg gebracht, der jetzt unter großem Zeitdruck realisiert werden muss.

Er hätte seinen Partner nach Israel schicken können, aber der liegt mit einem Blinddarmdurchbruch im Krankenhaus und wird noch wochenlang ausfallen. Und einen anderen Mitarbeiter, der sich so kurzfristig in das komplizierte Vertragswerk einarbeiten könnte, haben sie nicht in ihrer Agentur.

Sicher hätte man sich die Unterlagen auch gegenseitig zufaxen können, aber das ist nur eine Seite der Medaille.

Er muss nach der Unterzeichnung des Kontraktes in einem zweitägigen Verhandlungsmarathon sämtliche Einzelheiten mit vier verschiedenen Veranstaltern klären, und wenn man die Rolling Stones, Lady Gaga, Elton John und noch sieben oder acht weitere Premium Acts auf die Bühne bringen will, dann gibt es ungefähr drei Milliarden Dinge zu organisieren, bevor der erste Akkord erklingt.

Er hat sich eingeredet, dass Rebecca schon wieder auftauchen wird. „Die Pubertät, Schatz“, hat er zu seiner Frau gesagt. „Da spinnen sie einfach manchmal.“

Aber eigentlich hat er damit nur sich selbst soweit beschwichtigt, dass er diese Reise antreten konnte. Und jetzt ist Rebecca tot, und er sitzt hier, während seine Frau in Frankfurt diesen furchtbaren Alptraum allein durchleben muss.

Der Klingelton seines Handys ist zu hören, mechanisch steht er auf, geht zu seiner Jacke, zieht es aus der Tasche.

Es ist Moshe. Er sagt ihm, was passiert ist. Moshe soll seinen Kommandeur darum bitten, dass er zur Beerdigung seiner Schwester fliegen darf. Moshe sagt ja, das will er gleich tun. Sein Vater wird für morgen Vormittag einen weiteren Flug nach Frankfurt buchen.

Moshe legt auf. Jetzt endlich kann Aaron Silberschmied weinen.

*

Moshe hängt den Hörer zurück auf die Gabel und steht sekundenlang nur da. Er will schreien, aber sein Kehlkopf scheint geschwollen zu sein. Er bringt keinen Ton heraus.

Ohne recht zu wissen, was er tut, geht er zum zweiten Mal binnen einer Viertelstunde zum Büro seines Vorgesetzten und klopft an.

„Sie haben eine Woche Sonderurlaub“, sagt dieser mit belegter Stimme. „Vielleicht ist es am besten, wenn einer unserer Fahrer Sie noch heute Abend zu ihrem Vater bringt. Der wird wissen, was als nächstes zu tun ist.“

Moshe hört sich selbst sagen, dass sein Vater versucht, für morgen einen Flug für sie beide zu organisieren. „Gut so“, sagt sein Boss. „Unser Glaube gebietet es, dass ein Verstorbener so schnell wie möglich beigesetzt werden soll, aber das wissen Sie ja. Fliegen Sie nach Frankfurt. Wenn Sie mehr als eine Woche brauchen sollten, lassen Sie es mich wissen.“

Er geht zu seinem Schreibtisch und greift nach dem Telefonhörer. Kurz darauf hat er jemanden gefunden, der Moshe nach Tel Aviv bringen wird.

Der Fahrer, ein Vertrauter des Kommandanten, wird am nächsten Tag berichten, dass Moshe Silberschmied auf der zweistündigen Fahrt von Haspin zur Mittelmeerküste kein einziges Wort gesprochen hat.

*

Als Moshe aus dem Dienstwagen steigt und die Lobby des „Isrotel“ betritt, wartet dort schon sein Vater auf ihn. Stumm umarmen sie sich, und Aaron zieht seinen Sohn zu einer Sitzecke, denn er hat plötzlich einen klaustrophobischen Anfall und will nicht in seinem kleinen Zimmer eingesperrt sein.

Abgehackt erzählt er das Wenige, das er aus Deutschland erfahren hat. Er hat sich so weit zusammengerissen, dass er den zusätzlichen Flug nach Frankfurt gebucht hat; sie fliegen zwar zusammen, sitzen aber ein paar Reihen voneinander entfernt. Vielleicht lässt sich morgen früh am Flughafen noch etwas daran korrigieren.

7

Schuchardt hat mit seinem Vorgesetzten telefoniert, während er vor dem Haus der Silberschmieds auf den Psychologen gewartet hat. Das Gespräch ist wie üblich in solchen Fällen verlaufen.

Immerhin hat er sich mit seinem Boss darauf einigen können, dass sie die verräterische Doppel-Acht der Öffentlichkeit aus polizeitaktischen Gründen vorläufig verschweigen wollen. Ermittlungstaktik vorzuschieben hat den Vorteil, dass ihnen niemand etwas Gegenteiliges nachweisen kann, und so gewinnt man Zeit, bevor irgendein Sturm losbrechen kann, der einen dann vor sich hertreibt.

„Aber eines noch, Schuchardt. Sie brauchen Unterstützung. Ich kann es nicht ewig decken, dass Sie als Einzelkämpfer in der Landschaft herumlaufen. Das fällt uns irgendwann auf die Füße. Ich kenne Ihre Argumente. Sie haben das Talent, Menschen zum Sprechen zu bringen und da stört ein junger Kollege bisweilen bei der Arbeit. Ist mir alles soweit geläufig. Trotzdem geht es nicht so weiter.“

"Ich hab's nacheinander mit Steinhaus versucht, mit Moskopf und mit Braun, Chef...“

 

„…wir haben uns verstanden, mein Guter.“ Schuchardt hasst es wie die Pest, mit „mein Guter“ angesprochen zu werden.

Der Rest des Gespräches: „Behandeln Sie die ganze Sache nach eigenem Ermessen, Schuchardt. Ich habe vollstes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten, Mann. Bei Ihrer Erfahrung…“

Und so weiter. Übersetzt heißt das: Du hast freie Hand; aber wenn du es vermasselst, kostet es deinen Kopf.

Schuchardt hat in achtundzwanzig Dienstjahren bereits vier Polizeipräsidenten kommen und gehen gesehen, und in dieser Beziehung sind alle gleich. Wenn es Erfolge zu feiern gibt, grinsen sie in jede Kamera und sabbern in jedes Mikrofon, das man ihnen hinhält. Wenn nicht, dann ist in aller Regel nur noch eine Staubwolke von ihnen zu sehen. So leicht ist das Leben da oben an der Spitze der Nahrungskette, denkt er, würde aber um nichts in der Welt mit dem obersten Polizisten der Stadt tauschen wollen. Da oben musst du dich so sehr nach allen Richtungen hin verbiegen, dass du am Ende nicht mehr weißt, ob du Männlein oder Weiblein bist.

Endlich taucht der Psychologe auf, er ist mit der U-Bahn gekommen, weil es hier im Westend bekanntermaßen nicht einmal für den lieben Gott einen Parkplatz gibt. Schuchardt ist das egal, er parkt in zweiter Reihe. Er hat das mobile Blaulicht auf sein Autodach geschraubt und den Warnblinker eingeschaltet und steht so, dass der Verkehr gerade noch passieren kann. Das muss reichen.

Als sie bei den Silberschmieds läuten, dauert es eine Weile, bis die Mutter der Ermordeten an der Tür erscheint. Sie sieht die beiden Beamten hoffnungsvoll an, erkennt aber binnen eines Lidschlags, dass die Männer keine guten Nachrichten für sie haben. Ihr Blick wird leer und ihre Gesichtszüge fallen buchstäblich in sich zusammen.

Wenig später sitzen sie im Wohnzimmer der Familie. Rachel Silberschmied hat sich bemerkenswert schnell wieder gefasst, es stellt sich schnell heraus, dass sie vom ersten Moment an wenig Hoffnung gehabt hat, ihre Tochter unversehrt wiederzusehen. Und natürlich hatte sie einen guten Grund dafür – kein Lebenszeichen, keine Lösegeldforderung, da weiß man instinktiv, dass die Dinge nicht gut stehen. Sie hat aus den Umständen dasselbe geschlossen wie der in diesen Dingen erfahrene Kommissar.

Wann denn der Leichnam für die Beerdigung freigegeben wird, will sie wissen. Er sagt ihr, dass es von Seiten der Polizei keinen Grund gibt, den Leichnam nicht noch heute für den Bestatter freizugeben; der Pathologe ist mit seiner Arbeit fertig. „Wir warten nur noch auf den toxikologischen Bericht, aber der ist in diesem Fall kaum von Bedeutung. Und – es tut uns leid – Sie müssen den Leichnam Ihrer Tochter noch identifizieren.“

Sie will keine Einzelheiten über den Mord wissen, und das erleichtert dem Kommissar und dem Psychologen ihre Arbeit ganz erheblich.

Der Vater von Rebecca ist auf Geschäftsreise in Israel, eine Nachricht, die bei Schuchardt für kurzzeitiges Stirnrunzeln sorgt. Aber Frau Silberschmied erklärt ihnen den Hintergrund der Reise und sie können nun besser verstehen, warum der Mann in dieser schweren Stunde nicht für seine Frau da ist.

Jeder Jeck ist anders, denkt er. Aber ist nicht hier, um zu richten, und der Vater ist definitiv kein Verdächtiger. Abgesehen davon wird er morgen zurückerwartet, und er wird Rebeccas älteren Bruder mitbringen, der sich in Ausbildung beim israelischen Mossad befindet.

Was im Kopf Aaron Silberschmieds vorgeht, weiß der Kommissar nicht. Dieser hat sich zu Anfang hartnäckig geweigert, sein Telefon mit einer Fangschaltung versehen zu lassen. Das könne etwaige Entführer verärgern und sei deshalb zu riskant, soll er gesagt haben. Abgesehen davon werde seine Tochter sicher demnächst wieder auftauchen. Das ist sie nun tatsächlich, denkt Schuchardt, und ihm dreht sich beinahe der Magen um, wenn er sich an seinen vorherigen seinen Besuch in der Pathologie erinnert.

Rebeccas Mutter kann nur wenig Hilfreiches zur Sache beisteuern, alles, was sie weiß, hat sie den Kollegen erzählt, die zuletzt vorgestern wegen der Entführung mit ihr gesprochen haben. Schuchardt selbst hat sich natürlich schon heute Morgen die vorhandenen Protokolle auf seinen Laptop schicken lassen und weiß deshalb genug, um die arme Frau nicht weiter mit Fragen belästigen zu müssen.

„Ich fühle mich, als hätte man mir ein Körperteil entfernt, aber ich kann keinen Schmerz fühlen, weil man mich mit Betäubungsmitteln vollgepumpt.“

Sie sagt aber auch, dass sie ohne Hilfe zurechtkomme, außerdem sei eine Freundin aus Offenbach zu ihr unterwegs und müsse demnächst eintreffen. Also ziehen sich die nach ein paar weiteren Beileidsbekundungen zurück.

Sie verabschieden sich vor der Haustür voneinander. „Keine Mutter sollte ihr Kind beerdigen müssen, und kein Tier sollte so sterben wie dieses Kind“, sagt der Psychologe. Schuchardt nickt und weiß, dass es das nun einmal gibt.

Kaum sitzt er wieder in seinem Wagen, kommt ein Anruf herein. Es ist nochmal der Pathologe. „Schuchardt, sorry, das habe ich heute Vormittag vergessen: Das Erbrochene, das die Jungs von der Spurensicherung am Tatort eingesammelt haben, stammt mit Sicherheit nicht vom Opfer. Das hat zuletzt Pizza gegessen. Die bei mir eingegangenen Proben vom Tatort hat jemand anderes ausgekotzt. Ich dachte, das hilft Ihnen vielleicht weiter.“

Das tut es zunächst nicht. Pizza, das ist eine Information, die sich mit dem deckt, was die Freundin des Mädchens erzählt hat. Vielleicht hat ja einer der Täter einen schwachen Magen, oder - besser noch - vielleicht beruht dieser schwache Magen ja auf schwachen Nerven. Das kann dann von Nutzen sein, wenn man der Täter habhaft geworden ist und im Verhör nach einer Schwachstelle sucht. Es waren zwar mehrere Täter, aber eine Kette ist bekanntlich nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Schuchardt wird diese Information speichern, so wie er alles speichert, das ihm einmal bei seiner Arbeit helfen könnte.