Verdammt magisch

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Etwas Seltsames geschah mit Lauchi. Er straffte sich. Da war keine Wut in seinen Zügen, doch zumindest … milde Verärgerung.

»Mein Vater wurde von einem Eismonster gefressen«, sagte er und sah Norman direkt in die Augen. Der wusste nicht, was er sagen sollte.

»Ach so«, stammelte er schließlich. »Wie?«

»Er hat unsere Ländereien verteidigt, mit den Magiern zusammen. Meine älteste Schwester war auch dabei. Sie sagt, sie hätte nichts gesehen, aber … danach hat sie sich eine Woche lang in ihrem Zimmer eingeschlossen.« Seine Stimme klang rau und krächzig.

»Oh.« Norman rieb seinen Nacken. »Das war hart für dich, was?«

»Ich habe ihn gar nicht richtig kennengelernt«, murmelte Lauchi. »Das hätte ich gern. Alle sprechen sehr gut von ihm, aber ich war erst zwei Jahre alt, als es geschehen ist. Ich kann mich nicht an ihn erinnern.«

Norman, der seinen Vater ebenfalls nie kennengelernt hatte, wollte gerade etwas sagen, als die Tür aufgerissen wurde. Ein Moppel in grün schillernder Seidenmontur und mit glänzenden Locken marschierte herein. Er hielt inne, als er sah, dass im Raum kein Platz für ihn war.

»Junger Herr!«, polterte er und Lauchi schaute plötzlich richtig glücklich. »Dieses Loch ist nicht Ihr Gemach, hoffe ich?«

»Doch, ist es, Nørdington.« Lauchi sprang auf und nahm dem Kerl die große Kiste ab, die er in den Händen hielt. »Sind das meine Habseligkeiten? Vielen Dank, dass Sie sie herbringen.«

»Nun, ich hätte sie früher gebracht, aber die Institutsmitarbeiter haben es erst jetzt erlaubt.« Nørdington schaute, als hätte man ihm zwei saure Gurken in die Nasenlöcher gesteckt. »Für ihren Zimmergenossen steht ebenfalls etwas auf dem Flur.«

Er sah Norman von oben herab an. Der setzte seine beste Türsteher-Miene auf und gewann das Blickduell. Dann sprang er auf und drängte sich an dem Diener vorbei.

All seine Besitztümer lagen in der großen Obstkiste im Flur. Die Zivilklamotten, für die er schon fast zu breit war, eine Zahnbürste, Schuhcreme, drei zusammengerollte Poster und ein Stapel Groschenromane. Er klemmte die Kiste unter einen Arm und zwängte sich wieder in das Zimmer hinein. Es war eindeutig zu winzig für drei Personen. Selbst wenn einer davon so schmächtig wie Lauchi war.

»Wo werden Sie wohnen, Nørdington?«, fragte der gerade. »Haben Sie bereits ein Zimmer gefunden?«

Nørdington zögerte.

Schlechte Nachrichten im Anflug, dachte Norman und hatte, wie immer, recht.

»Ich werde leider nicht in Løbago bleiben können, junger Herr«, sagte der Diener. Er klang, als wollte er einen Säugling beruhigen. Tief und sanft. Lauchis Kinnlade klappte herunter.

»Aber ich dachte … Warum? Meine Mutter hat ausdrücklich darum gebeten, dass Sie in meinen Diensten verbleiben.«

Nørdington schüttelte den Kopf.

»Ich fürchte, der Einfluss Ihrer Mutter endet an der Stadtmauer. Hier herrscht das Militär. Beziehungsweise das Arkane Institut. Und das wünscht nicht, dass einer der Schüler bevorzugt behandelt wird.«

»Aber …« Lauchis Adamsapfel hüpfte. »Dann habe ich ja niemanden hier.«

Er wollte sich straffen und scheiterte. Nørdington betrachtete ihn sichtbar mitleidig.

»Ich werde immer für Sie da sein, junger Herr. Wenn etwas sein sollte, schreiben Sie einfach. Oder noch besser: Rufen Sie an. Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Kosten, die trägt Ihre Mutter.«

»Danke, Nørdington.« Das war das kläglichste Lächeln, das Norman je gesehen hatte. »Ich … Ich wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt.«

»Vielen Dank.« Der Moppel verzog das Gesicht. »Ich fürchte, sie wird weit beschwerlicher als die Reise hierher. Ich werde mich flussaufwärts schleppen lassen und das dauert Tage.«

»Die armen Pferde«, sagte Norman und schlug einen der Groschenromane auf. Nørdingtons Augen wurden schmal.

»Ich verabschiede mich, junger Herr. Viel Erfolg am Institut, und … Viel Erfolg.«

»Danke.« Lauchi schaute wie ein verlassener Welpe. »Ich tue mein Bestes.«

Das wird nicht reichen, dachte Norman, aber da er ein sehr höflicher Mensch war, schwieg er.

Nørdington machte eine Geste, die eindeutig »Mitkommen, Abschaum!« bedeutete. Hä? Widerwillig erhob Norman sich. Die Neugier ließ ihn dem Diener auf den Flur folgen. Nørdington schloss die Tür. Sie waren allein in dem düsteren Modergang.

»Was willst du?«, fragte Norman und verschränkte die Arme. In Nørdingtons Blick schwamm kaum verhohlener Ekel.

»Ich möchte, dass jemand auf den jungen Herrn aufpasst. Und da Sie sein Zimmergenosse sind …«

»Nö.« Norman schnalzte mit der Zunge. »Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Das muss er lernen. Je früher, je besser.«

Nørdington schaute, als wollte er ihn ohrfeigen.

»Der junge Herr braucht ein wenig … Starthilfe«, knurrte er. »Er ist für diesen Rabaukenjob nicht so gemacht wie … andere.«

»Wie ich.« Rabauke war nun wirklich nicht das Schlimmste, was man ihm je an den Kopf geworfen hatte. Fast bekam er Mitleid mit dem Moppel. »Warum eigentlich? Warum ist er so ein Schwächling? Konnte seine reiche Mutti ihm keinen Boxtrainer kaufen?«

»Es war nie vorgesehen, dass der junge Herr die Mauern des Anwesens verlässt.«

»Was?« Norman hob eine Augenbraue. »Sollte er echt nur auf seine Mutti aufpassen?«

»Eine ehrenvolle Aufgabe für einen jüngsten Sohn.« Nørdington hob die Nasenspitze noch höher. »Ich erwarte nicht, dass ein Straßenflegel das versteht.«

»Ein Straßenflegel, hä? Zufällig sind wir hier alle gleich. Im Institut bin ich so viel wert wie dein junger Herr.« Norman grinste höhnisch. Nørdington grinste noch höhnischer.

»Fast so viel. Allgemein genießen Motoren das höhere Ansehen, nicht wahr?« Er lächelte süffisant. Normans Fäuste zuckten, aber die Schande wog so schwer, dass er dem Kerl keine reinhauen konnte. Sie machte ihn zu schwach.

»Nørdi«, zischte er. »Wenn du willst, dass ich auf den Kleinen aufpasse, machst du gerade einen groben Fehler.«

Der Diener zögerte, dann schaute er noch biestiger als zuvor. Die dünnen Fältchen um seinen Mund vertieften sich, während er eine prall gefüllte Brieftasche aus der Weste zog.

»Wie viel?«, fragte er. »Was ist der gängige Preis auf der Straße, wenn es einen nach Schutz verlangt?«

»Vergiss es.« Norman reckte das Kinn in die Höhe. »Mich kauft niemand. Ich hab das nicht nötig. Lieber arm als bestechlich. Du wirst das kaum glauben, Nørdi, aber ich hab auch meinen Stolz, und ich arbeite für keinen mehr. Nur für mich selbst.«

»Und für das Institut, nicht wahr?«, sagte Nørdington. Zögernd steckte er die lederne Brieftasche wieder ein. Er war offensichtlich verunsichert. »Soweit ich weiß, werden Sie alle für zehn Jahre verpflichtet.«

»Das mach ich gerne«, sagte Norman. »Ich wollte nie was anderes als ein Magier werden.«

»Ah.« Nørdington schniefte leise. »Na, Ihrem Auftritt heute Mittag zufolge lief es nicht ganz so, wie Sie es sich erträumt haben.« Er hob die Hände, als er Normans Gesichtsausdruck sah. »Schon gut. Ich gehe ja. Aber ich möchte keine Beschwerden vom jungen Herrn hören, ist das klar? Ich mag hier unerwünscht sein, doch die Familie von Mømpelgard kennt immer Wege, sich unliebsamer Zeitgenossen zu entledigen.«

Norman verstand die Worte nur halb, aber er kapierte, was eine Morddrohung war. Er schnaubte verächtlich.

»Keine Sorge, Nørdi, ich vergreif mich nicht an Schwächeren. Mach’s gut.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und kehrte zurück in das Zimmer. Beinahe wäre er über Lauchi gestolpert, der gerade ein Poster aufhängte. Eine Karte des gesamten Flusslandes mit bunten Markierungen. Markierungen in den verbotenen Zonen.

»Was ist das da?«, fragte Norman. »Sieht fast aus wie eine Route durch das Eisgebirge.«

»D-das …« Lauchi schluckte. Oh, der war wohl noch nicht über den Abschied hinweg. »Das ist die Strecke, die Gottfrieda von Græwenitzschs Expedition durch das Eisgebirge genommen hat. Von hier sind sie gestartet.«

Ein zitternder Finger deutete auf Rørk, die Hafenstadt, die eine florierende Handelsbeziehung mit Løbago unterhielt. Sie waren sich in Größe und Reichtum fast ebenbürtig. Manchmal, wenn die Monsterangriffe nicht ganz so schlimm waren, führten sie sogar Krieg miteinander.

»Das kam mir gleich bekannt vor«, sagte Norman. Ein winziger Hauch guter Laune kehrte in ihn zurück. »Ich hab von der Expedition gelesen. Das ist aus meinem Lieblingsbuch.«

»Was?« Lauchi strahlte. Stand ihm gar nicht schlecht. »Ist dein Lieblingsbuch etwa auch »Die Tagebücher der Gottfrieda von Græwenitzsch 1791-1797«?«

»Hä? Nein.« Norman kramte in seiner Kiste. Er zog ein dünnes Buch mit buntem Cover hervor. »Es ist das hier. »Der Schrecken der Gletscher – Blut und Eis«. Das beste Buch überhaupt!«

»Der Schrecken der Gletscher?« Lauchis Gesichtsausdruck wechselte von erfreut zu entsetzt, als er den Text auf dem Umschlag las. »Gottfriedas grässliche Abenteuer?« Das ist ja Schund! Und faktisch falsch noch dazu! Frau von Græwenitzsch war über vierzig, als sie ihre Expedition unternahm. Warum ist sie auf dem Titelbild höchstens zwanzig? Und warum ist sie so … umfangreich?«

»Umfangreich?« Norman schaute auf das Titelbild, auf dem Gottfriedas Bluse gerade von einem Eismonster zerrissen wurde.

»Ihre … Oberweite«, erklärte Lauchi. »Das ist … Das ist ja skandalös. Wie kann man aus ihrem Erbe so einen Schundroman machen?«

»Das ist mein Lieblingsbuch«, knurrte Norman und Lauchi wich mit weit aufgerissenen Augen zurück.

Wütend warf Norman das Buch auf das einzelne Regalbrett über seinem Bett. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass Gottfrieda so dicke Dinger hatte. Aber die Geschichte war saugeil. Dieser Schwächling hatte ja keine Ahnung!

 

Sie sprachen bis zum Abendessen nicht mehr miteinander.

6. Abendessen

Das Essen war so mies wie im Internat. Aber nicht so mies wie daheim bei Mutti während seiner Kindheit. Trotzdem konnte Norman sich nicht richtig über Dinkelgemüse und Ei freuen. Missmutig sah er zu, wie der Kantinenchef die Pampe auf seinen Teller klatschte. Er nahm ihn entgegen und schaute sich um.

Der Speisesaal war niedrig, breit und laut. Gelächter und Rufe hallten von den hohen Wänden wider. Ein Lärm wie in einer Kinderkrippe. Dabei waren die meisten Leute hier nicht nur erwachsen, sondern deutlich älter als zwanzig. Die Studenten waren nur ein kleiner Teil des Arkanen Instituts. Da waren noch die Beamten und die Generäle und die Hohen Magier und … Gunnar Krafft, der Größte, Schönste und Beste unter ihnen. Normans Atem stockte, als er ihn oben auf der Loge sitzen sah. Was Gunnar sich da in den Mund steckte, sah richtig lecker aus. Natürlich. Da oben hatten sie richtige Kellner und bekamen bestimmt jeden Tag Fleisch.

Leider gehörte Norman auf die andere Ebene. Die untere, auf die die hohen Tiere auf dem Podest hinuntersahen. Wenn sie sich denn dazu herabließen. Hier unten waberte der Geruch nach altem Fett und verkochtem Gemüse durch die feuchte Luft. Er zwängte sich zwischen ein paar Studenten vorbei, die an den nietenverzierten Metalltischen saßen und Futter in sich reinschaufelten. Die Holzdielen knarrten unter seinen Stiefeln.

Er war zu spät losgegangen, nachdem sie die Glocke geläutet hatten. Die Essensglocke. Fast wäre er einfach im Bett liegengeblieben. Er wollte nicht in den Saal. Nicht, nachdem er sich vor allen lächerlich gemacht hatte. Aber er hatte Hunger. Das motivierte ihn, wie immer … Ah, da waren sie.

Tore und Brenna saßen an einem Tisch mit anderen Magieschülern. Brenna warf Tore gerade ein Stück Möhre in den Ausschnitt seiner Anwärteruniform. Ihre kräftigen Zähne blitzten, als sie loslachte. Norman seufzte. Er wollte ihnen nicht mal in die Augen schauen. Die beiden hatten es geschafft und er … war ein verdammter Katalysator geworden. Falls sich das nicht doch noch als Versehen herausstellte. Vielleicht würde morgen bei Unterrichtsbeginn ja herauskommen, dass das ein blöder Irrtum gewesen war.

»Hey«, sagte er und zwang sich zu einem Lächeln. »Wie geht’s?«

Die beiden drehten sich zu ihm um. Norman stellte sein Tablett ab und setzte sich auf den leeren Platz neben Tore.

»Wie sind eure Zimmer?«, fragte Norman. »Meins ist ein Schuhkarton.«

Er steckte sich einen Löffel Gemüse in den Mund. Die beiden schwiegen. Hä? Er schaute sie an. Kurz hielten sie seinem Blick stand, dann sahen sie auf die Tischplatte. Und sie aßen nicht. Es wurde ruhig in der Runde.

»Mein Zimmer ist in Ordnung«, erzählte Brenna der Tischplatte. »Ich teil das mit einem Mädel aus Agøln. Äh.«

Tore räusperte sich.

»Das ist der Motorentisch, Norman«, murmelte er.

Was? Norman blickte in die anderen Gesichter. Die alle zurückstarrten. Richtig, das waren all die Typen und Mädels, die goldgelb geleuchtet hatten. Ganz hinten saß Lauchi und schaute trübselig.

»Was?«, fragte Norman. Ein banges Gefühl brachte seinen Magen zum Sinken. »Es gibt einen Motorentisch? Was ist das denn für ein Scheiß? Früher haben wir auch alle zusammengesessen.«

»Das war früher.« Brenna räusperte sich. »Jetzt sind wir Magieschüler. Tut mir leid.«

Immer noch sahen die beiden ihn nicht an. Die anderen Studenten dafür umso mehr.

»Ihr blöden Arschlöcher.« Norman starrte sie an. Dann stand er auf, dass sein Stuhl umfiel und zu Boden krachte. »Ihr arroganten, eingebildeten Drecksäcke! Heute Morgen habt ihr noch so getan, als wärt ihr meine Freunde!«

Sie antworteten nicht. Norman wollte mehr sagen. Doch ein Blick auf die Loge zeigte ihm, dass er erneut die Aufmerksamkeit der Direktoren auf sich gezogen hatte. Und die von Gunnar. Alle beobachteten ihn. Der Direktor hatte schon eine Hand erhoben, als wollte er Norman gleich wieder zu Boden schleudern.

Norman schluckte. Er hatte wirklich geglaubt, er sei am Tiefpunkt angelangt. Aber aufzustehen und sich einen neuen Platz zu suchen, war noch schlimmer. Er fühlte sich, als hätte er Blei geschluckt.

Sein Blick schweifte im Saal umher. Ah, da waren die Katalysatoren. Gudrun Lovell und die anderen. Die starrten ihn auch an. Dann senkten sie schnell den Blick. Da gehörte er also hin, ja?

Nein, dachte Norman.

Er setzte sich an den nächstbesten freien Platz und begann, grimmig die Mahlzeit in sich hineinzuschaufeln. Der Lärmpegel schwoll wieder an. Immer, wenn er aufsah, schaute irgendjemand hastig weg. Er blickte in hämisch verzogene Gesichter. Schon am ersten Abend war er das Gespött des Arkanen Instituts. Fantastisch.

Und das Essen war pampig.

Er schlang alles herunter und trottete zurück auf den Dachboden. Nachdem er sich im Bad frisch gemacht hatte, legte er sich ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf.

Morgen geht’s los, dachte er. Ich hab mich so darauf gefreut und jetzt … würde ich am liebsten abhauen.

Vielleicht konnte er das. Alles hinschmeißen und untertauchen. Das würde als Desertieren gelten und ihm ein paar Jahre Knast einbringen, wenn man ihn erwischte. Falls man ihn erwischte. Aber er war einfach nicht der Typ, der aufgab. Steinschwer und trübsinnig schlief er ein. Die drei Gunnar-Krafft-Poster an der Wand starrten auf ihn nieder.

Nachts wachte er einmal auf und hörte leises Schluchzen. Lauchi. Zum Hades, was war der Kerl für ein Schwächling? Der würde keinen einzigen Eismonsterangriff überstehen, wenn er so weitermachte. Norman erinnerte sich zehnmal daran, dass Mitleid Lauchi auch nicht helfen würde, und döste wieder ein.

7. Fühlen

»Nun setzen wir uns alle in einen Kreis«, sagte die Alte, selig lächelnd. »Und dann lernen wir uns erst einmal kennen.«

Norman stöhnte vernehmlich. Die anderen siebzehn Studenten sahen ihn ängstlich an. Die hatten sich alle brav gesetzt, wie Kleinkinder. Er knurrte leise und ließ sich ebenfalls auf die Holzdielen plumpsen. So heftig, dass feiner Staub von der Decke in seinen Nacken rieselte. Die Alte lachte gütig. Er hasste sie. So sehr.

Sie faltete die Hände und senkte die Lider. Gute Entscheidung, es gab hier eh nicht viel zu sehen. Sie befanden sich im achten Stock, in einem leeren Raum, in dem nichts war. Absolut nichts. Boden, Fenster, Wände, Decke, Idioten. Das war alles. Norman verschränkte die Arme.

»Schließt die Augen«, säuselte die Alte. »Spürt ihr die Energie?«

Schweigen. Norman schloss die Augen und spürte, dass er zuviel gefrühstückt hatte.

»Ne«, sagte er. »Und meinen Sie nicht Magie?«

Verdammt, wenn die Alte noch einmal so überheblich lachte … Er seufzte.

»Mein bockiges Schäfchen, du hast natürlich recht. In der Atmosphäre befindet sich Magie. Hier ist nicht viel davon, aber das ist für unseren kleinen Kreis ganz richtig. Wir wollen euch nicht überladen.«

»Überladen?« Norman öffnete ein Auge. »Man kann sich mit Magie überladen?«

Schon wieder sahen ihn alle ungläubig an.

»Natürlich kann man das.« Gudrun Lovell schüttelte den Kopf, dass ihre dunklen Haare flogen. »Das ist sehr gefährlich. Hast du in den Vorbereitungskursen überhaupt nicht aufgepasst?«

»Ne.« Norman grunzte leise. »Zumindest nicht bei diesem Katalysatorenkrempel. Der ist langweilig.«

»Na, das rächt sich jetzt wohl«, säuselte Gudrun und lächelte. »Ich bin gespannt, wie du in diesem Kurs zurechtkommst.«

»Ich komme überall zurecht«, motzte Norman. Eine sanfte Hand legte sich auf seine Schulter. Das Mondgesicht der Alten schwebte über ihm. Lächelnd. Natürlich.

»Spürst du die Energie, mein Schäfchen?«

»Äh, nö.«

»Dann konzentriere dich.« Diese sanfte Hand war stärker, als er zunächst angenommen hatte.

Ach, egal. Er verschränkte seine Beine, so wie die anderen, und schloss wieder die Augen. Immer noch spürte er nichts, bis auf die vier Käsebrote in seinem Magen. Er hörte Dinge. Knarzende Holzdielen, knacksende Wände, leise Stimmen vom Flur her. Draußen ratterten Kutschen vorbei. Eine Serie von winzigen Explosionen kündigte ein Automobil an. Das Fenster ging wohl zur Straße hinaus. Er roch altes Holz und das muffige Lavendelparfüm der Alten.

»Und?« Mist, die sah ihn noch an. Mit zusammengekniffenen Lippen schüttelte er den Kopf.

»Dachte ich’s mir doch.« Gudrun kicherte höhnisch.

»Spürst du die Energie, Wieselchen?«, fragte die Alte sie und Norman prustete los. Gudrun sah echt ein wenig wie ein Wiesel aus, mit der spitzen Nase und den fast schwarzen Pupillen.

»Natürlich.« Gudrun lächelte und strich die langen Haare über die Schulter zurück. Die beiden Kerle neben ihr sahen sie gierig an. War Gudrun Lovell etwa hübsch? Norman war grausam schlecht darin, so etwas zu beurteilen.

»Wundervoll, mein Wieselchen.« Die Alte nickte. »Dann beschreibe sie uns.«

»Sie ist … spiralförmig«, flötete Gudrun. Ein Schweißtropfen rann ihre Schläfe hinab. »Wie spiralförmiger Nebel, der durch all die Räume zieht und außerdem … lila.«

Die Alte schüttelte den Kopf.

»Nicht ganz, mein Wieselchen.«

»Ha!«, rief Norman. »Das heißt, dass es falsch ist!« Er zeigte auf Gudrun. »Du bist genau so ein Versager wie ich.«

»Bin ich nicht!«, rief sie. Ihre Wangen liefen dunkelrot an. »Wenigstens habe ich nicht auf der Bühne rumgeheult wie ein Kleinkind.« Ihre Stimme wurde noch heller. »Ich will ein Motor werden! Buhuuuu!«

Norman wollte aufspringen, aber eine tonnenschwere Hand hielt ihn unten. Verdammt, diese Alte war stark. Seltsam.

»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte Norman sie und hörte Gudrun entsetzt aufkeuchen. Die anderen sechzehn Studenten schauten peinlich berührt zu Boden.

»Was?«, fragte Norman. »Muss ich das wissen?«

»Selbstverständlich nicht.« Die Alte lachte glockenhell. »Schließlich lernen wir uns jetzt kennen, oder? Ich bin Eterna Sølmgard. Und du, Schäfchen?«

»Eterna …« Er gaffte sie an. »Sie sind das? Ich kenne Sie von meinen Lithografien. Sie … Sie sind die Unendliche Quelle. Äh. Sie haben aber zugenommen.«

Mehrere Leute sogen hörbar die Luft ein. Gudrun murmelte: »Unhöflich!« Die Alte lachte. Natürlich.

»Mein Schäfchen, nach drei Kindern ist keine Frau mehr dieselbe. Meine Wespentaille ist leider dahin.«

»Oh. Tschuldigung.« Norman räusperte sich.

Er musterte sie, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Eterna Sølmgard. Irre. Die Katalysatorin, die zehn Motoren gleichzeitig mit Energie versorgen konnte! Sie hatte neben Gunnar auf der Stadtmauer gekämpft, an jenem Tag …

»Ich spüre Bewunderung.« Eterna grinste. »Heißt das, dass du mir ab jetzt zuhören und ruhig sein wirst, Schäfchen?«

»Äh, ja.« Norman zuckte mit den Achseln. »Hab eh nichts Besseres vor.«

Vielleicht würde sie von Gunnar erzählen.

Sie erzählte nicht von Gunnar.

Stattdessen versuchten sie, die Energie zu spüren. Was für eine Energie überhaupt? Es gab Magie und … war das dasselbe? Norman hatte keine Lust zu fragen. Vor allem hatte er keine Lust, nochmal ausgelacht zu werden. War eh egal. Nach einer Stunde hatte niemand irgendeine Energie gespürt und Eterna befahl ihnen, nach Magie zu suchen. War also doch verschieden, anscheinend. Leider fand niemand Magie.

Als er sich zum Mittagessen erhob, waren seine Beine eingeschlafen. Er sah an sich herunter und stöhnte leise. Der Trainingsanzug der Katalysatoren sah aus wie ein Bademantel. Ein weit geschnittener weißer Bademantel mit einem lila Gürtel. Darunter trugen sie eine weite, weiße Hose. Super.

Die schwarzen Uniformen der Katalysatoren waren wenigstens irgendwie cool. Hundertmal cooler als dieser idiotische Anzug. Kein Wunder, dass niemand hier Respekt vor ihnen hatte.

Auf dem Weg zum Speisesaal versuchte ein Zweitjahresmotor, Norman zur Seite zu schubsen.

»Aus dem Weg, Magiebeutel!«, rief er, prallte an Normans Masse ab und stolperte.

Norman gab ihm einen Arschtritt und marschierte in den Speisesaal. Es gab Pastinakensuppe und Brot.

»Du willst bestimmt nicht bei uns sitzen«, zwitscherte Gudrun Lovell, als er mit dem voll beladenen Tablett am Katalysatorentisch auftauchte. »Du willst ja keiner von uns sein.«

 

Stimmte schon, aber allein wollte er auch nicht sein. Doch das Einzige, was er noch weniger wollte, war, das zuzugeben. Also hob er das Kinn und schnaubte: »Verdammt richtig«, drehte ab und setzte sich alleine an einen Tisch. Mal wieder.

Hinter ihm erklang Tores Stimme. Der erzählte gerade einen Witz über zwei Besoffene aus Agøln, einen von ungefähr hundert, die er kannte. Norman hörte Gelächter hinter sich und seufzte. Sein einsamer Suppenteller war bereits halb leergegessen. Er spürte die Betriebsamkeit um sich herum und roch die vorbeiwabernden Essensdüfte. Neben ihm führten ein paar niedrige Beamte ein Gespräch. Sie beschwerten sich über das neue Ablagesystem. Was für Langweiler. Doch selbst sie hatten jemanden. Norman seufzte wieder. Er hatte sich komplett ins Abseits geschossen. Und nun? Saß er auf einer harten Bank, ganz alleine. Er war ein Katalysator und vermutlich ein grottiger. Einer wie er konnte gar kein guter Katalysator sein, oder?

»H-hallo.« Jemand stand vor ihm und hielt ein wackelndes Tablett in den Händen. Norman sah auf. Lauchi lächelte ihm zaghaft zu. »Kann ich mich zu dir setzen?«

»Klar.« Er beobachtete, wie Lauchi sich setzte und sich dabei dreimal das Knie stieß. »Willst du nicht bei den anderen Motoren sein?«

Lauchi schüttelte den Kopf. Irgendetwas war anders … Oh, richtig.

»Was ist mit deinem Zopf passiert?«, fragte er. Das Ding war nur noch halb so lang wie heute Morgen. Und viel dunkler.

»Oh, das.« Lauchi schaute trübselig in die Pastinakensuppe. »Das war ein Unfall. Glaub ich.«

»Glaubst du?«

»Wir haben heute versucht, Feuer zu erzeugen und … Na, Brenna hat es als Erste geschafft. Sie hat meinen Zopf erwischt. Das war bestimmt ein Versehen.«

Norman kannte Brenna zu gut, um das zu glauben. Er wandte sich zu ihr um und sah sie breit grinsend in der Mitte der Motoren sitzen. Da hätte er sein können … Ach, egal. Alles egal.

»Ihr lernt gleich in der ersten Stunde, wie man Feuer schießt?« Er seufzte. »Ihr habt so ein Glück. Ich hab den ganzen Morgen rumgesessen und irgendeinem Geschwafel zugehört. Und dann sollten wir Energie oder Magie oder so in der Luft sehen, aber das hat auch nicht geklappt. Als Nächstes lernen wir die richtige Atmung.«

»Das klingt doch schön«, sagte Lauchi. »Ungefährlich. Ich hab so eine Angst vor dem Feuer. Zum Glück schaffe ich das noch nicht.«

»Zum Glück?« Norman sah ihn ungläubig an. Na ja, Lauchi war halt Lauchi. »Willst du deshalb nicht bei den anderen sitzen? Sind die dir zu gefährlich?«

Lauchi musterte seine Suppe. Todtraurig. Der Junge sollte besser was essen, wenn der das Studium überstehen wollte.

»Nein, sie … sie ignorieren mich. Ich glaube, sie wollen mich nicht in ihrem Kurs haben. Wenn ich sie anspreche, antworten sie nie und …« Ein tiefer Seufzer kräuselte die Suppenoberfläche.

»Solche Arschlöcher«, sagte Norman. Na ja, er selbst wäre kaum netter gewesen, wenn … wenn er ein Motor geworden wäre. War er halt nicht. »Du musst mehr essen, Lauchi. Das gibt Kraft.«

Lauchi nickte matt. Dann löffelten sie schweigend ihre Suppe und mampften ihr Brot. Wie eine ruhige, kleine Insel im lauten Trubel des Speisesaals.

Lauchi wünschte ihm viel Erfolg, als sie aufstanden. Norman schnaubte unmotiviert. Dieser Katalysatorenkurs war so sinnlos. So sinnlos, dass er erstmal in der Latrine verschwand und sich richtig viel Zeit ließ.

Er hörte die zweite Glocke und dann die dritte. Er blieb sitzen. Nun würden sie sich alle in dem blöden Zimmer versammeln, im Kreis hocken und versuchen, etwas zu finden, das nicht da war. Obwohl, wenigstens die Magie musste ja irgendwo sein. Sonst könnte man sie doch nicht benutzen. Missmutig betrachtete er die Holztür vor seiner Nase.

Deine Mutter ist so fett, dass sie vom Stammbaum abgebrochen ist, las er. Es waren noch mehr lustige Witze eingekerbt worden. Die meisten über Mütter und Katalysatoren. Die Katalysatoren nannten sie »Magiebeutel« oder »Sauger«.

Sauger saugen nicht nur Magie, entlockte ihm kaum ein Lächeln. Dabei hatte er den früher total komisch gefunden.

Wie kann man einen Sauger stundenlang beschäftigen? Stell ihn vor den Spiegel und sag ihm, er soll Schnick Schnack Schnuck spielen.

Norman vergrub das Gesicht in den Händen.

Irgendwann wurde es ihm zu langweilig.

Der Flur war leer und still, als er den Abort verließ. Konnte er sich irgendwo verkriechen, bis es zum Abendessen läutete? Wie lange konnte er vor dem Kurs flüchten, bis sie ihn zurückschleppten? Würden sie ihn zurückschleppen oder gleich ins Gefängnis werfen?

Diese Frage beschäftigte ihn so sehr, dass er nicht aufpasste, als er um die Ecke bog. Plötzlich sah er sich fünf Leuten gegenüber, den langen Roben nach Hohe Magier. In ihrer Mitte ging Gunnar Krafft.

Norman starrte ihn an. Die Magier unterbrachen ihr Gespräch über die Finanzierung eines neuen Programms und starrten zurück.

»Warum bist du hier, Junge?«, fragte eine hagere Frau und deutete auf seinen Erstjahres-Trainingsbademantel. »Solltest du nicht in deinem Kurs sitzen?«

»Ja, ich … musste kurz raus«, stammelte Norman.

Gunnar stand vor ihm, so nah, dass er ihn fast anfassen konnte. Von nahem sah er noch heldenhafter aus. Gunnar blinzelte. Ein verwegenes Grinsen breitete sich auf seinen vollen Lippen aus.

»He, du bist doch der Kerl, der gestern bei der Prüfung so einen Aufstand gemacht hat.« Das Grinsen unter der Augenklappe wurde breiter. »Der Typ, der ein Motor werden wollte.«

Oh. Norman spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht schoss. Er nickte.

»Entschuldigung«, murmelte er.

»Dafür nicht«, sagte Gunnar. »Dein Auftritt war das Unterhaltsamste an der ganzen Veranstaltung.«

Die Magier setzten sich wieder in Bewegung und würdigten ihn keines Blickes mehr. Bis auf Gunnar, der ihm fröhlich zuzwinkerte. Ein Feuerpfeil bohrte sich durch Normans Herz. Verdammt! Seine Knie wurden zu Watte und sein Herzschlag zu einem wilden Pochen.

»Gunnar?«, fragte er leise. »Ich meine: Herr Krafft?«

Obwohl er fast flüsterte, hörte Gunnar Krafft ihn. Er blieb tatsächlich stehen, während die anderen weitergingen. Der Blick seiner stahlblauen Augen richtete sich auf Norman. Er sah noch besser aus als auf den Postern. Viel, viel besser. Ein wenig älter und noch männlicher.

»Was ist?«, fragte Gunnar. Er wirkte amüsiert. Norman ballte die Fäuste.

»Ich …« Er schluckte. »Ich wollte wirklich ein Motor werden. Ich wollte wie Sie sein. Damals, in Wørringen, da habe ich Sie gesehen und Sie haben uns alle gerettet und ich …« Mist, was für einen Scheiß verzapfte er hier? »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll«, endete er kläglich.

Gunnar verharrte. Die anderen waren schon um die Ecke gebogen und er musste bestimmt hinterher, aber er blieb stehen. Er rieb sich das stoppelige Kinn und musterte Norman in seinem dämlichen Bademantel.

»Junge«, sagte er. »Weißt du, was ich ohne meine Katalysatoren wäre?« Er schüttelte den Kopf. »Gar nichts. Verloren wäre ich gewesen, damals in Wørringen. Wenn sie mir keine Magie gegeben hätten, hätte ich die Monster nie besiegen können. Ohne Katalysatoren gibt es keine tausend Klingen. Klar, alle sind von Magie beeindruckt, wenn sie sie sehen können. Deshalb bewundern sie uns Motoren. Aber ein Katalysator ist genauso wichtig.«

»Ah.« Norman wusste nicht, was er sonst sagen sollte. »Dann … sollte ich versuchen, ein guter Katalysator zu werden?«

»Du hast es erfasst.« Gunnar legte die Hand auf Normans Schulter. »Wer weiß, vielleicht stehen wir ja irgendwann zusammen auf der Stadtmauer. Vielleicht gibst du mir dann die Magie, um ein Lavamonster einzufrieren.«

Ein freudiges Zittern rann durch Normans Körper und er betete, dass Gunnar das nicht merkte. Verzweifelt versuchte er, den Kloß herunterzuschlucken, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Gunnar wollte mit ihm auf der Stadtmauer stehen.

»Ich … Danke. Echt. Also. Danke.« Er grinste blöd.

Gunnar nickte ihm zu, drehte sich um und verschwand hinter der Ecke. Norman blieb mit rasendem Puls zurück.

Er würde mit Gunnar die Stadtmauer verteidigen. Natürlich, so hatte er das noch nie gesehen! Gunnar brauchte einen Katalysator doch viel mehr als einen anderen Motor! Und Norman hatte nur daran gedacht, ihn zu beeindrucken! Er war viel zu egoistisch gewesen. All seine Träume von Feuerstürmen und Eisregen und so … wurden von einem neuen Traum ersetzt: Wie er Gunnar in letzter Sekunde zur Hilfe kam, als der, vollkommen magielos, drei Monstern gegenüberstand. Lavamonstern? Eismonstern? Egal! Im allerletzten Moment würde er aus dem Nichts kommen und Gunnars Hand berühren (eine Gänsehaut überzog seinen ganzen Körper, sobald er daran dachte) und ihm die Magie geben, die Gunnar brauchte, um die Monster zu zerfetzen!