Tatort Garten

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Tatort Garten
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Thomas Kastura (Hrsg.)

Tatort Garten

ars vivendi

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (2. Auflage August 2020; 1. Auflage Februar 2012)

© 2012 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

Umschlaggestaltung: FYFF

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © spacejunkie/photocase

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

eISBN 978-3-7472-0237-1

Inhalt

Tessa Korber – Schneeweißchen und Rosentod

Thomas Kastura – Vollmond über Schloss Fahlenstein

Nina George – Der beste Dünger

Elmar Tannert – Unter dem Apfelbaum

Tatjana Kruse – Der Mimosenstreichler

Heidi Friedrich und Arnd Rühlmann – Der Feind in meinem Beet

Petra Nacke – Hausbesuch

Angela Eßer – 6 Uhr 23 – Guten Morgen, Bamberg.

Dirk Kruse – Unser kleines Paradies

Beate Maxian – Tödliche Idylle

Friederike Schmöe – Meine verehrte »Träumende Charlotte«

Sabina Naber – Von Rasenbetretern und Gummi­zwergen – eine Farce in neun Szenen

Tommie Goerz – Der Apfelbaum in Nachbars Garten

Helmut Vorndran – Untödlich

Die Autorinnen und Autoren

Tessa Korber – Schneeweißchen und Rosentod

Oktoberrose, schöne

Und letzte Künderin,

Wo sind des Sommers Töne,

Wo seine Lieder hin?


Ob ich an dich gedenke,

Ob sich dein Duft bewahrt,

Die herbstlichen Geschenke

Sind all von deiner Art.


Es kommt ein Wind von Osten,

Der weht dich aus der Zeit.

Die Gartentore rosten

Vor deiner Ewigkeit.

Georg von der Vring, 1889–1968

Früher kamen die Leute, um meinen Garten zu betrachten. Jetzt bin ich froh, wenn sie fortbleiben. Es ist kein Fortschritt, alt zu werden und zerbrechlich. Die lauten Stimmen, die schnellen Bewegungen, die unbedachte Art der anderen machen einen zunehmend ängstlich. Wie wenig sehen die Menschen sich vor, wie wenig denken sie nach – und wie schnell ist ein Unglück geschehen, vor allem, wenn man wie ich immer mehr einem Bündel trockener Zweige in einer dünnen Hülle aus Tuch gleicht, die leicht brechen.

Ich selber denke viel nach, so ist das im Alter, schätze ich. Obwohl man für alle Verrichtungen viel länger braucht und jeder Weg sich dehnt – zum Beispiel muss ich jetzt immer dreimal von der Waschmaschine zur Leine laufen und zurück, weil ich nicht mehr die gesamte Wäsche auf einmal heben kann; und bis meine gichtigen Finger jedes Stück aufgegriffen, entfaltet und über die Schnur gelegt haben: oje.

Obwohl also alles so viel länger dauert, bleibt am Boden des Tages regelmäßig eine Neige von Zeit übrig. Dann sitze ich in meinem Lehnsessel mit dem Rosenmuster und grüble.

Manchmal leisten mir die drei toten Kinder dabei Gesellschaft, die draußen unter den Pfingstrosen ruhen, wo keiner sie finden wird. Sie steigen auf mit dem Abendnebel, kommen mit der Zugluft hereingeweht, tanzen einmal federleicht im Kreis und setzen sich artig auf die Schemel vor den Anrichten, dort, wo das Lampenlicht nicht hinfällt. Fast unsichtbar sind sie und umso schöner. Wie sie wispern und mit den Füßen scharren, daran das Schuhwerk aus so unterschiedlichen Zeiten, das meine Fantasie ihnen übergezogen hat. Dann lese ich ihnen Gedichte vor, laut, mit leiser Stimme:


Ein neues Leben wird den Geist beschwingen,

So oft er riecht den süßen Duft der Rose …

Sey still und schließ den Mund wie Rosenknospen,

Verstohlnes Lächeln streue, wie die Rose.


Meine tote Schwester auf der Ofenbank schüttelt den Kopf darüber, dass ich die Kleinen mit osmanischen Dichtern behellige und hoffe; hoffe, so zu trösten und selber Trost zu finden.

Droben liegt Mutter; für immer. Neben ihr lege ich mich jede Nacht im Dunkeln schlafen, auf derselben Matratze, auf der sie starb. Zwischen uns beiden gibt es kein Gedicht und auch keine Worte.

Überhaupt liebe ich den Tod mittlerweile mehr als das Leben, den Herbst mehr als den Frühling, die Tanne vor der flirrenden Birke, das welke Licht der späten Nachmittage mehr als die Morgen, von den wenigen Geschichten, die ich noch lese, die traurigen. Und von den Pflanzen die giftigen. Der Tod kann so schön sein. Fast bin ich so weit, den ständigen Schmerz zu lieben, der mir in den Knochen hockt wie die silbernen Flechten auf den Baumrinden. Aber noch kämpfe ich mit ihm. Eine Sache gibt es noch zu tun.

Die Touristen, wenn sie sich noch herverirren, finden das Grundstück »malerisch«. Sie meinen damit vermutlich den verfallenden Zaun mit der abblätternden Farbe. Er scheint fast zusammenzubrechen unter der schäumenden Rankenlast meiner weißen Rosen. Und die Haustür schmiegt sich so geheimnisvoll unter das Dach von kirschrot kletternden Blüten. »Schau mal, wie bei Schneeweißchen und Rosenrot!« Wie oft habe ich das gehört.

Mein Haus erinnert viele an das Märchen. Vor allem damals, als ich noch die beiden Katzen besaß, die sich hinter den Sprossenfenstern räkelten. Rosenrot ist schon vor Jahren überfahren worden. Aber Schneeweiß gibt es noch, mit einem Auge, zerfetzten Ohren, einer Zyste über dem Schwanz und einer Geschwulst in ihrem Inneren, die wachsen wird bis zu ihrem blühenden Tod. Manchmal sitzt sie noch im Fenster, die Moribunde, und schaut hinaus auf das Meer von Floribundas, so rosa, so orange, so gelb und rot und pink fließen die Schattierungen ineinander, und ich frage mich, ob Katzen, wenn sie schon keine Farben sehen wie wir, so doch etwas ähnlich Beglückendes wahrnehmen, oder ob die ganze Pracht meiner »Bobby James« und »Robin Hood«, »Wedding Day«, »Kimono«, »Lavender Dream« und »Golden Wings«, »Albertine« und »Madame Alfred Carrière« mit ihren klingenden Namen ihr gleichgültig ist. Ich lebe hinter einem Rosenwall / und brauche ihre Namen nicht bemühen.

Die beiden letzten hat Rogier mir geschenkt. Er liebt alles Französische, wegen seines Vaters, der aus Dijon stammte. Er hat seine Mutter immer »ma chère« genannt, wenn er kam, um sie zur Begrüßung auf die Stirn zu küssen. Für ihn hat sie gelächelt. Bis er wieder aus dem Zimmer war und wir alleine zurückblieben mit dem Geruch nach Medikamenten und ihrer Angst. Ich war für ihn »la dame des roses«, ehe ich zur »dame blanche« wurde, zur Hexe, die den Tod bringt. Wie gerne würde ich ihn mir selber gönnen. Ein einfacher Absud von der Tollkirsche, die hinten im Garten neben der Wäscheleine wächst, berankt von der zärtlichen »Ghislaine de Féligonde«, ein furchtbarer Name für eine so fragile Rose von fast durchsichtigem Orange mit einer sehnsüchtig cremefarbenen Mitte. Ach, sterben und von ihren Wurzeln sanft umfasst und gehalten werden.


Ruhig sterb ich so mit dir,

Rose, bald bald droht auch mir

Die Verwesung. Meine Glieder

Geb ich froh der Erde wieder,

Ruhig sterb ich so mit dir.


So wäre es gut. Aber das geht nicht. Tot würden sie mich für immer von meinen geliebten Rosen trennen. Also stehe ich weiter jeden Morgen auf und trete meinen Gang an, der mich noch vor dem Tee hinausführt in meinen Garten. Längs des Weges habe ich »Canary Bird« gepflanzt, die sieht bescheiden aus und rustikal, und sie blüht als eine der ersten im Jahr. Ich liebe ihr Gelb in der Morgensonne, wenn ich zum Briefkasten gehe, ganz langsam, als genösse ich einfach nur den beginnenden Tag, dabei weniger werdend mit jedem unsicheren Schritt, wie die sterbende Katze, die mir vom Fenster aus nachschaut. Um mich herum aber ist alles unbändig am Leben. Manchmal kann ich nicht anders, ich tauche mein altes, hutzeliges Gesicht in die süße Fülle. Nur für einen Moment. Die klare frische Rosenblüte streichelt / mein geschlossenes Auge leicht, / als legte sie noch tausend kühle Lider, / eines auf das andere, über / mein heißes Lid ...

Für den Vorgarten, der einmal sogar für ein Gartenmagazin fotografiert wurde, kann ich nicht mehr viel tun, der Rasenmäher ist mir zu schwer geworden, und die stachligen Kissen der bodendeckenden »Heidetraum« wuchern inzwischen wild über das hinweg, was einmal Beete waren, mit Storchenschnabel, Horn- und Bilsenkraut, mit Zierlauch und Lavendel, dazu Ziest, Kaiserkronen, Fingerhut, allen Arten von Anemonen, mit Schneeglöckchen und dem Knoblauch, den ich einst als Schutz gegen Mehltau zu meinen Lieblingen setzte.

 

Dazwischen leuchten die blauen Scherben des Topfes hervor, den ich zerbrach, damals, nach Mutters Tod. Sehr malerisch, ein Effekt, den andere mit viel Mühe künstlich erzielen. Die Leute zeigen es sich gegenseitig mit den Fingern. Sie bewundern den Verfall. Sie interessiert nicht, dass der Efeu, der sich um alle Fenster windet, die Dachziegel anhebt, sodass es auf dem Dachboden schon ganz feucht ist und der Schimmel langsam in die Wände kriecht. Ein Umstand, gegen den ich nichts mehr unternehmen kann, da es mir unmöglich ist, die Leiter noch herumzuheben. Und sie sehen auch nicht, dass die Rosen ebenfalls nicht mehr sind, was sie einmal waren. Als fühlten sie, wie es mir geht.

Das Stecklingsbeet hinten ist verwaist, ich bemühe mich nicht mehr darum. Ich hacke nicht mehr, ich mulche nicht mehr, und ich bete darum, dass der nächste Frühling regenreich wird, denn wer soll meine Kinderchen sonst regelmäßig gießen?

An der »Westerland« habe ich einige Wildtriebe entdeckt. Das ist etwas, worum ich mich noch immer kümmere, wenn ich es sehe. Dann ziehe ich meine geliebten Bradley’s an, das sind Gartenhandschuhe mit Lederstulpen – noch etwas, was die Touristen lieben, so britisch, dabei ist es einfaches Handwerkszeug, praktisch und mit viel Geschichte. So viele Gärtnerinnen vor mir sind in diese Handschuhe geschlüpft und haben, voll Gottesglauben oder auch einfach nur aus Liebe zur Schönheit, ihre Rosen gepflegt und vermehrt. Ich ziehe also die Handschuhe an und greife zu meiner Schere. Sie muss scharf sein und nach jedem Schnitt mit Brennspiritus gereinigt werden, verstehen Sie? Damit keine Krankheiten von einer auf eine andere Pflanze übergreifen. Früher hielt ich die Klinge über eine Flamme, aber meine Finger können das Feuerzeug nicht mehr bedienen. Wie viele habe ich nicht fallen lassen; ihre hässlichen Plastikhüllen sind zum Glück verborgen unter Gras und Blüten. Und jetzt, im Herbst, bläst der Wind mir die Kerzen aus.

Ich schneide einen Stiel der »Westerland«, einen Büschel voll kupferfarbener Blüten. Dann fällt mein Blick auf die unglaublich große, prall gefüllte Blüte der »Auguste Renoir«, vom letzten Regenschauer schon etwas angegriffen, doch schön noch im Verfall. Ich kann nicht widerstehen, schneide auch sie, trage die Sterbende sanft ins Haus und arrangiere sie mit einigen Blüten der »Leonardo da Vinci« in einem Porzellankörbchen. Allein der Anblick stimmt glücklich, reine Glückseligkeit. Für einen Moment, während ich sie zurechtrücke, vergesse ich sogar meine Schmerzen. Das Körbchen werde ich auf das Fensterbrett stellen. Dort wird er sie als Erstes sehen, wenn er kommt. Und vielleicht ihre Botschaft verstehen. Jetzt bleibt mir nur noch, zu warten.


Rosen hab ich aus dem Garten

In das Zimmer auf den Tisch gestellt,

Und ich spüre das Erwarten

Wenn ein Blütenblatt sich löst und fällt.


Ich setze mich, um zu essen, ich muss essen, sagt der Arzt, aber ich mag nicht. Es geht nichts mehr hinunter, als hätte ich mit meiner scharfen Schere auch diesen Weg gekappt. Genauso, wie schlafen kein Vergnügen mehr ist. Den ganzen Tag schmerzen die Knochen, und man sehnt sich nach der Erlösung, die es bedeutet, in die Kissen zu sinken, nachzugeben. Dabei lauert im Liegen nur der noch größere Schmerz und dazu die Angst vor dem Ersticken. Früher träumte ich Rosen beschatten alle Hänge, doch nicht länger rieselt traumlos der Schlaf von ihren bebenden Blättern. Kälte durchrieselt mich allein. Es ist mir wenig geblieben.

Statt des Zwiebacks und der Milch nehme ich noch einmal Margits Brief zur Hand. Es ist, wie ich mich erinnerte. Wie es mich seit Wochen quält. Da steht es noch immer: Das deutsche Gesetz erlaubt es nicht, die Körper Verstorbener außerhalb von Friedhöfen oder neuerdings Friedwäldern beizusetzen. Aber was soll ich da, in einem Garten aus geschmacklosen Steinen oder in irgendeinem Wald?

Diesen Boden hier habe ich mit meinen eigenen Händen bearbeitet, ich habe ihn bepflanzt und gedüngt, habe jeden Baum gesetzt, jeden Rosenstrauch. Ihn kenne ich zu jeder Jahreszeit, bei jedem Licht. Ich weiß, wie der Raureif an den letzten Hagebutten glitzert an manchen Januarmorgen. Ich kann den Duft der Gallica-Rosen an den langsam sich verdunkelnden Sommerabenden riechen. Eigenhändig habe ich den Sand hergeschleppt für die »Rosa rugosa«, die von den sandigen Küsten Japans kommt, ich habe die Pergolen gebaut und die sternförmige, schlichte Clematis so gesetzt, dass sie die runde, üppige Form der gestreiften Bourbonenrosen betont. Ich … ach, lassen wir das.

Ich habe jedenfalls eine Landschaft geschaffen, die mich lange überleben wird. Sie gehört mir, in mehr als einem Sinne. Und ich soll nicht ein Teil von ihr werden dürfen?

Margit erinnert mich außerdem daran, dass mir im rechtlichen Sinne nicht einmal das Grundstück gehört. Ich habe die Pacht nicht gezahlt, schreibt sie. Ich hätte den Gerichtsvollzieher nicht wegjagen sollen mit meiner Rosenschere. Ich müsse fort von hier, dürfe nicht einmal mehr die wenigen Monate, die mir vermutlich noch bleiben, beim Anblick meiner Rosen genießen. Und dann dieser Prospekt. Haus Alpenrose, das Elend im Gewand der Geschmacklosigkeit.

Dahinter steckt Rogier, ich weiß es. Früher hat er sich nie um die Pacht geschert. Früher hieß es: »Dame des roses, du schaffst ein Paradies, das ist Geschenk genug.« Vorbei. Auf das Grab seiner Mutter hat er Nelken gepflanzt. Dabei hat auch sie die Rosen so geliebt.

Ob er sich daran erinnern wird? Die Standuhr schlägt vier. Er müsste bald hier sein.

Noch einmal quäle ich mich aus meinem Stuhl, um Teewasser aufzusetzen. Ich wähle das Service mit dem Hundsrosenmuster. Englischer Schwarztee mit Rosenaroma, natürlich. Er schmeckt stark und duftet betäubend. An der Wand über dem Tisch ein Rosen-Aquarell von Maria Sibylla Merian und das Fragment eines Wandfrieses aus Knossos, das eine Rose zeigt. Wussten Sie, dass schon die alten Ägypter Rosen züchteten? In meinem Regal finden Sie alle Bücher darüber, über das eine Thema, das mich mein Leben lang bewegt hat. Ich greife einen Band heraus, eine Stärkung tut not, eine Bestätigung, dass all das sich lohnt. Denn das Gespräch mit Rogier wird nicht leicht werden.

Vielleicht das hier, Content in a garden, der Satz hat mich jedes Mal berührt:

Es ist eigentümlich, wenn man bedenkt, welch großen Raum die Rose und alles, was sie verkörpert, in unserer Welt einnimmt. In ihrer Natur liegt etwas Mysteriöses, eine innere Faszination, eine zarte Kraft, ein versteckter Zauber, den nur sie ausübt und den keine andere Blume besitzt – etwas, was die Liebe der ganzen Welt auf sich zieht.


Die Liebe der ganzen Welt! Ob es mir gelingen würde, wenigstens in Rogier diese Liebe zur Rose wiederzuerwecken und mich selbst darin zu verstecken wie ein Kind im Gebüsch? Meinen Altweibergeruch in ihrem Duft zu verbergen und mein hässliches Gesicht zwischen ihren Blüten, so wie die kleinen festen Knospen der »Wichuraiana« sich fremd und doch perfekt an die weichen, verschwenderisch gefüllten Kelche schmiegen? Auf dass er atme von mir den Balsam der Erinnerungen.

Ich habe mein Gesicht schon lange nicht mehr im Spiegel betrachtet, aber ich weiß, es ist runzlig und alt und ohne eine Spur der Erinnerungen, die ich mir bewahrt habe. Keine Liebe, kein Zauber liegen darin, nur die Zeit und der nahe Tod. Die Hand, mit der ich mir über die Wangen von einst streiche, ist runzelig. Hat jemand sie je berührt, wurden sie je geliebt? Alfons ist manchmal da, im Bad höre ich sein Husten. Aber ob er mich überhaupt sah, als er noch Augen besaß, und ob Wärme in seinem Blick lag, das weiß ich nicht. Er ist der kälteste von all den Toten, die sich an mir reiben. Für ihn nahm ich Wasserschierling. Und ich bereue es nicht.

Ah, hier, Christian Morgenstern. Wie so viele hat auch er über die Rose gesungen.


Oh, wer um alle Rosen wüßte,

Die rings in stillen Gärten stehen –

Oh, wer um alle wüßte, müßte

Wie im Rausch durchs Leben gehen.


Oder das schmale Bändchen hier, von Vita Sackville-West über ihren Garten in Sissinghurst Castle. Einmal war ich dort, in Kent, mit Rogiers Mutter Rita zusammen, herrje, das war in den Sechzigern.

Wir trugen große Sonnenbrillen und kurze Röcke und kicherten und genossen den ersten und einzigen Urlaub im Ausland, nachdem zu Hause, wie wir wussten – oder ahnten wir es nur? – Mann und Haus und Kind und eine Zukunft voller Arbeit auf uns warten würden. Ich weiß nicht, wie es kam, aber wir sind später beide nicht mehr gereist. Rita traf ihren Franzosen und bekam Rogier, als er schon wieder fort war. Und ich, ich blieb meinen Rosen treu.

Reynolds Holes A book about Roses war einer der ersten Bestseller überhaupt. Der Mann war Geistlicher, aber er hat nicht übertrieben. Betreten Sie den Rosengarten, wenn das erste Sonnenlicht auf dem Tau glänzt, und genießen Sie mit dankbarer Freude einen der schönsten Anblicke auf Erden. Klingt das für Sie banal? Ich verstehe jedes Wort, das er schreibt. Ich fühle die Wahrheit darin. Dankbare Freude. Ja, die habe ich in meinem Garten mein Lebtag lang empfunden.

Das muss ich sagen, ich muss es Rogier erklären. Es war nie etwas anderes im Spiel als Dankbarkeit, Demut und Freundschaft.

»Du hast meine Mutter umgebracht.« Er hielt sich nicht lange mit Überleitungen auf, als er endlich kam. Fast pünktlich, nur ein klein wenig zu spät, damit ich begriff, wie die Machtverhältnisse zwischen uns verteilt waren. Er beachtete das Glühen der orangefarbenen »Westerland« nicht, nicht das füllige Spiel der »Auguste Renoir«. Sein Blick versenkte die Aquarelle und Porzellanbouqets, die rosenbestickten Servietten und Spitzendecken in einem Abgrund aus Verachtung und früh einsetzender Dämmerung. Ich war froh, dass es so rasch dunkel wurde.

»Ja«, erwiderte ich. Ehrlich zu sein war die einzige Möglichkeit, ihn noch zu verblüffen, ihn innehalten zu lassen, damit er mir zuhörte. Die Pacht, dachte ich. Die Pfändung. Irgendwie mussten wir auf diese Themen kommen. Doch vor der Erlösung lag das Geständnis. Es sollte mir nicht schwerfallen. Ihm brannte nach all den Jahren bei dem Gedanken an Rita noch das Herz. Meines war so kalt wie meine Altfrauen-finger.

»Ja«, gab ich also zu. »Das stimmt. Ich habe sie getötet.« Ich machte eine Pause, da er aufzuspringen drohte, um sich auf mich zu stürzen. Die Stille bewirkte Gott sei Dank, dass er zu sich kam und sich wieder in den Sessel fallen ließ. In seinem Gesicht war Wut. Aber auch ein stiller Triumph. Nach all den Jahren bekam er endlich recht. Und ich gab ihm das Geschenk, nach dem er sich so lange gesehnt hatte. Gab, um etwas zurückzuerhalten.

»Sie wusste, dass sie sterben würde. Sie hatte Schmerzen und sie hatte Angst, dass es noch mehr werden würden. Mehr, als sie ertragen könnte.« Meine arme Rita. Gleich der Rose welkt sie hin? Nein, sie welkte in Blut und Schweiß und Kot. Schmerz und Gestank und Ekel waren ihre Begleiter.

Er widersprach. »Sie war immer so tapfer. Sie hat jeden Tag gelächelt. Sie hat mir am Vortag versprochen, wir würden wieder in den Garten gehen.«

»Das hat sie für dich getan, Rogier.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie wollte nicht, dass du verzweifelst, das war alles.«

»Du meinst, meine Mutter hat mich angelogen? Du … Du hast keine Ahnung. Maman und ich waren so vertraut, wie zwei Menschen nur sein konnten.«

Ich schaute aus dem Fenster. Die Spiegelung verbarg meinen Garten. Man sah nur uns in unseren Sesseln, den Teetisch dazwischen. Ihn groß, aufrecht, von der Seite, mich von vorne, fast verschwunden zwischen den Kissen, kaum mehr vorhanden, zerknittert, schuldig, hässlich.

Das war ich nicht immer. Rita und ich, wir waren einst wie meine Rosen, weich und duftend und schön. Wir prangten in Schönheit und wußten es nicht.

Heute ist das nurmehr Kitsch, damals war es so selbstverständlich, dass wir nicht darüber nachdachten. Nie, nie war die Zeit, da wir es schätzten. Da wir darauf bestanden, auch glücklich zu sein. Erst, als es zu spät war. »Schau mich an«, hatte sie gesagt, als sie dalag, aufgedunsen von den Medikamenten. »Da habe ich immer darauf gehofft, dass endlich ein bisschen Leben … und jetzt … nein, schau mich nicht an. Hilf mir.«

Und ich habe geholfen. Habe ihre Hand gehalten, bis alles vorbei war. Wir brauchten nicht mehr zu reden.

»Ich gab ihr den Eisenhut«, sagte ich. »Es hat keine Stunde gedauert. Der Mohnsaft hat es ihr leichter gemacht.«

Rogier hieb mit der Faust auf die Lehne. »Wie oft flehte ich den Arzt an, eine Autopsie zu machen. Aber alle haben mich behandelt wie einen Idioten. ›Ihre Zeit war gekommen.‹« Höhnisch ahmte er den Ton der Frauen nach, die ihn damals zu trösten suchten. »Und erst der Pfarrer: ›Gott hat sie zu sich genommen, mein Sohn.‹ Mein Sohn, pah.« Er spuckte beinahe aus. »Ich war ihr Sohn. Sie war alles, was ich hatte. Und du hast sie ermordet.«

 

Ich schwieg. Sollte ich ihm sagen, dass ich Rita geliebt hatte und sie mich? Die Pacht, schoss es mir durch den Kopf.

»Und du hast es nicht das erste Mal getan, nicht wahr? Und nicht das letzte Mal.« Er legte einen Ordner auf den Tisch. Wo hatte er den gehabt? Unter der Jacke, in der Tasche? Ich musste besser aufpassen. Er war so viel größer, so viel stärker als ich. Ich hatte nur meine Stimme und den Rest meines Verstandes. Wenn das hier funktionieren sollte, musste ich mich zusammenreißen. Rogier gehörte das Haus, ihm gehörte der Grund, bis hin zu der bröckelnden Ziegelmauer hinten, die mich von den Streuobstwiesen abschloss. Und von Ritas Heim. Am Fuß dieser Mauer habe ich eine Kaskadenrose gepflanzt, und Katzenminze für Schneeweiß, die dort gerne in der Sonne lag.

»Miau.« Meine alte Weiße wollte hinaus. Ich hievte mich aus dem Sessel, überließ Rogier dem Blättern in seinen Akten, die er zusammengetragen hatte, all die Jahre, gehegt, gepflegt, geharkt, gemulcht, gedüngt mit Hass. Was war mir da herangewachsen? »Geh, Alte«, flüsterte ich. Sie verschwand hinaus in die Nacht, die um fünf schon begonnen hatte. Es war kalt.

Als ich zurückkam, zitterte ich.

»Du brauchst das nicht, Rogier«, sagte ich und wies auf die Papiere, ehe ich die Arme verschränkte und die kalten Finger unter die Achseln steckte. So sah er auch mein Zittern nicht. »Ich habe dich eingeladen, um dir alles zu erzählen. Und das werde ich tun. Weil du ein Recht darauf hast«, sagte ich, als ich seinen überraschten, aber auch misstrauischen Blick bemerkte. »Weil ich bald sterben werde. Und weil ich eine Bitte an dich habe.«

Er lachte, es war nur ein kurzes Schnauben. »Du hast Angst, dass ich dich aus deiner Hütte jage, alte Hexe.« Rogier nickte. Dann lehnte auch er sich zurück. »Also, lass mal hören.«

So begann ich meine Erzählung. Begann mit meiner Mutter, in den Jahren während des Krieges, die, schwanger geworden von einem Mann, der auf Urlaub von der Ostfront nur für wenige Tage da war, ihr Kind abtrieb. Damit ihr die anderen, die schon da waren, nicht verhungerten. Pfingstrose nimmt man dafür. Von ihr habe ich es gelernt. Half später so einer jungen Nichte, half mir selber. Alfons war untröstlich, als das Kind abging. Geschah ihm nur recht. Einem, der mich schlug, dem trug ich kein Kind aus.

»Die Reste sind alle im Garten begraben«, sagte ich. Sagte nicht, dass ich sie manchmal sah, mein Schwesterchen mit den Riemchenschuhen, die statt ihrer ich auftrug in den Vierzigern und Fünfzigern. Margits Kleines, deren Geschwister später, als die Zeit für Kinder reif war, Holzclogs trugen und durch meinen Garten tobten. Und mein eigenes Kind. Seltsam, so habe ich eigentlich nie an den Fötus gedacht. Es war immer Alfons’ Junge, sein Stammhalter, für den er schon im zweiten Monat Fußballschuhe gekauft hatte. Aus den Augenwinkeln schaute ich in die leere Ecke am Regal, da konnte ich sie sehen, verdreckt, zerknautscht, mit geknotetem Schnürsenkel, darüber die grün verschmierten kleinen Schienbeine.

»Und der Bürgermeister?«, hakte er nach.

»Der Bürgermeister?« Ich blinzelte einen Moment.

»Der vorige, der Blut im Urin hatte.«

»Ach ja«, ich musste kichern. »Bis die Sache mit der Umgehungsstraße vom Tisch war, die über dein und mein Grundstück gegangen wäre.«

»Über meine Grundstücke«, verbesserte Rogier mich.

Ich hörte zu lächeln auf. »Buschanemone. Aber danach ging es ihm wieder prächtig.«

»Du weißt dir zu helfen«, sagte er verbissen. »Und du hast einer Menge anderer Leute geholfen, nicht wahr?«

»Ja«, gab ich zu. »Lass es nicht so sarkastisch klingen, mein Lieber.«

»Der Alte vom Wagner-Hof?«, fragte Rogier statt einer Antwort und starrte auf seine Liste.

»Seine Tochter bat mich, weil sie es nicht mehr mit ansehen konnte.«

»Natürlich, reine Nächstenliebe.«

»Fingerhut.«

»Sehr klug, er hatte es ja mit dem Herzen. Ich fasse es nicht.«

Ich beschloss, das Ganze zu beschleunigen. »Anneliese vom Metzger, die war ganz verkrebst, wollte noch einmal Urlaub machen und dann sterben, ohne ›in Windeln zu scheißen‹, wie sie sich ausdrückte. Du weißt, sie war immer sehr direkt.«

Er hob die Hand, als wolle er mir dies zumindest zugestehen. »Georg Häberlein?«

»Rogier, ich …«

»Gunda Söllner?«

»Bitte, du musst …«

Er wurde laut. »Ist hier im Dorf überhaupt ein alter Mensch ohne deine Hilfe zu Tode gekommen?«

»Rogier. Sie kommen zu mir und bitten mich, wenn es keinen Ausweg mehr gibt. Das ist nur …«

»Was?«, herrschte er mich an.

»Ein Akt der Demut?«

Er sah aus, als wollte er sich auf mich stürzen.

Ich hob die Hände. »Rogier, ich will ja gar nichts vor dir verbergen. Ich will auch nichts beschönigen. Alles, was ich möchte, ist …«

»Du möchtest, dass ich gnädig bin und dich in deinem Häuschen sterben lasse. Aber da hast du dich geschnitten, alte Hexe. Ich bringe das hier«, er nahm den Ordner und klatschte ihn auf sein Knie, »nur deshalb nicht zur Polizei, weil ich weiß, was die schlimmere Strafe für dich ist.« Er machte eine Pause. Wir schauten uns an. »Wenn Margit dich aus deiner Höhle holt und dich in dieses Altersheim bringt, wo du langsam verrecken wirst. Ohne deine Rosen. Und ohne hilfreiche Kräuterchen.«

Was für ein netter Junge war er doch früher gewesen. Und jetzt: Welche Sprache führte er, welch unschöne Absichten er damit zum Ausdruck brachte. Mein schlechtes Gewissen ihm gegenüber verging.


O wie blühest du so schön

Aber bald wirst du vergehn –

Auch nur flüchtige Secunden,

Und dein Rot ist hingeschwunden,

Und da blühst du nicht mehr schön.


Ich stand auf. »Ich hole uns einen Tee«, sagte ich.

»Und vielleicht«, rief er mir hinterher, »vielleicht tue ich es ja doch noch.«

Die Küchentür schlug zu.

Als ich wiederkam, balancierte ich zwei Tassen mit dampfendem Tee, eine Zuckerdose und ein Milchkännchen auf dem Tablett, dazu Silberlöffel und Stoffservietten.

Misstrauisch starrte Rogier auf das Arrangement. Er wusste es noch nicht, aber er vermisste die Kanne. Ich gedachte nicht, ihm auf die Sprünge zu helfen.

»Soll ich dir von deiner Maman erzählen?«, fragte ich.

»Untersteh dich, ihren Namen noch einmal in den Mund zu nehmen«, sagte er, ein wenig zerstreut. Noch immer grübelte er darüber nach, was an dem Tablett nicht stimmte. Ich musste ihn ablenken.

»Sie hat es so gewollt, Rogier.«

Er hieb auf den Tisch. »Und wag es nicht, ihren guten Ruf in den Dreck zu ziehen. Sie liegt auf dem Kirchhof, und da liegt sie zu Recht. Sie ist keine Selbstmörderin.«

Nein, stimmte ich ihm im Geiste zu, das war sie nicht. Das war ihr wichtig gewesen, meiner armen, katholischen Rita. Fast so wichtig wie das Seelenheil ihres geliebten Sohnes.

»Dann wirst du mir die Pacht nicht erlassen?«, fragte ich.

Rogier schüttelte angewidert den Kopf. »Nur darum geht es dir, nicht wahr? Nur um dich und deine beschissenen Rosen.«

Das war nicht wahr. Um mich war es nur einmal gegangen, in all der Zeit. Bei Alfons. Ob ich betteln sollte? Ihn anflehen? Tu mir das nicht an. Das Altersheim wäre schlimmer als der Tod.

»Ich dachte es mir schon«, sagte ich nur.

»Ich werd dich fertigmachen.«

»Vielleicht«, sagte ich. Dann war das also vorbei. Dann musste es jetzt sein. Ich holte tief Luft. »Nimm dir doch Tee.«

Unser Blick fiel zur selben Zeit auf seine Tasse, die unschuldig vor sich hin dampfte. Es war ganz still im Zimmer, nur die Standuhr tickte. Und doch war es, als wäre ein Stein ins Wasser geworfen worden, ein schwerer Schlag verhallt. Rogier starrte mich an.

Ich wich seinem Blick aus. Mühsam hievte ich mich noch einmal aus dem Sessel. »Ich habe die Kekse vergessen«, sagte ich. »Trink nur. Sonst wird er kalt.«

Der Weg in die Küche war so lang wie niemals zuvor. Meine Gelenke schmerzten bei jeder Bewegung. Und doch, und doch … Ich öffnete die Tür, ich schlüpfte hindurch, ich lehnte sie an, so weit, dass ich noch ein Auge gegen den Schlitz pressen konnte. Und was ich sah, das machte mich glücklich. Glücklich wie das Leuchten der »Westerland«, glücklich wie der Duft der Damaszenerrosen, wie ein Morgen an der Hecke, die sich schäumend wieder und wieder ergießt. Ich sah meinen Garten.

Ich sah, wie Rogier überlegte, dann die Tassen nahm und möglichst lautlos vertauschte, wie er am Tischtuch zupfte, um die Falten zu verbergen, die sein Manöver verursacht hatte. Nun war alles gut. Ich griff nach dem Teller und ging wieder hinein. Ich sehnte mich nach Tee, ich konnte es kaum erwarten.