Naturphilosophie

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|57|I.6 ‚Kampf‘ um die Naturphilosophie

Kristian Köchy

Wer sich mit Naturphilosophie beschäftigt, der sieht sich verpflichtet, Rechenschaft darüber abzulegen, welches Anliegen er aus welchen Gründen, mit welchen Mitteln und mit welchen Zielen verfolgt. Diese Fragen sind alt, die Antworten auf sie unterliegen jedoch stets neuen historischen Bedingungen. Heute fallen Antworten darauf nicht leicht, obwohl oder gerade weil sich die Debatte in bereits etablierten Bahnen bewegt. Die Art und Weise, wie wir über Möglichkeit und Grenzen von Naturphilosophie nachdenken – welche Wege und Verfahren uns als gangbar gelten und welche nicht (→ I.8) – ist Resultat früherer Entwicklungen und Entscheidungen. Bestimmte naturphilosophische Träume scheinen uns ausgeträumt, manche Ansätze gelten als selbstverständlich, andere als abwegig. Will man verstehen, was Naturphilosophie heute ist oder sein kann, ist man somit gut beraten, die geschichtliche Herkunft aktueller Positionen zu beachten. Dieses soll im Folgenden am Beispiel eines zentralen Fragenkomplexes geschehen: der Frage nach dem Verhältnis von Naturphilosophie zu Naturwissenschaft bzw. Wissenschaftsphilosophie. Die heutigen Standpunkte hierzu werden sich als Erben eines historischen ‚Kampfes um die Naturphilosophie‘ erweisen. Dieser wurde besonders markant im deutschen Sprachraum seit dem ausklingenden 18. Jh. geführt. Die folgende historische Rekonstruktion in systematischer Absicht kann deshalb als pars pro toto stehen.

1. Ausgang von Schelling

Ein zentraler Ausgangs- und Scheidepunkt für heutige Ansätze ist – neben der Naturphilosophie Hegels – insb. die romantische Naturphilosophie. Seither sind nahezu alle Versuche, Naturphilosophie als philosophische Disziplin zu etablieren, in Anlehnung an oder in Abgrenzung zur romantischen Vorgabe erfolgt:

„Der Name Naturphilosophie […] besitzt einen üblen Klang. Er erinnert an eine geistige Bewegung, welche vor hundert Jahren in Deutschland herrschend war; ihren Führer hatte sie in dem Philosophen Schelling […]. So ist denn die Zeit der Naturphilosophie als eine Zeit tiefen Niedergangs deutscher Naturwissenschaft bekannt, und es erscheint als ein vermessenes Unternehmen […] unter dieser verrufenen Flagge segeln zu wollen.“ (Ostwald 1902: 1–3)

„Nachdem die Naturphilosophie in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Form der romantischen Naturphilosophie für kurze Zeit eine dominierende Stellung erreicht hatte, erlebte sie als philosophische Disziplin einen raschen Niedergang. Der entscheidende Grund dafür ist |58|die geradezu verhehrende [sic!] Einschätzung, die die romantische Naturphilosophie im Urteil des überwiegenden Teils der Naturwissenschaftler […] fand.“ (Bartels 1996: 11)

„[D]ie heutige Naturphilosophie [setzt] voraus, dass Erkenntnis über die Natur nur mit Hilfe der Naturwissenschaften gewonnen werden kann. Hierin unterscheidet sich die zeitgenössische Naturphilosophie insbesondere von der Naturphilosophie der Romantik.“ (Esfeld 2002: 8; Esfeld 2011: 10)

Maßgeblich für die romantische Naturphilosophie ist nach Lesart der Nachfolger das Programm von Friedrich W.J. Schelling (1775–1854). Dessen Grundannahmen werden in Schellings Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie deutlich. Wichtig ist, dass Schelling seine Naturphilosophie hier nicht nur als Ergänzung zur Erkenntnistheorie legitimiert, sondern auch ins Verhältnis zu den Naturwissenschaften setzt. Naturphilosophie und Naturwissenschaft haben demnach ihre Orientierung an der Natur gemeinsam, stehen auf „gleichem Standpunkt“ und wollen alles aus Naturkräften erklären. Die Naturphilosophie soll jedoch die Natur als selbständige Instanz würdigen, die ihre eigene Ursache ist (causa sui). So ist die Naturphilosophie zwar wie die Physik realistisch, zielt aber auf einen anderen Bereich der Natur. Ihr geht es um die originären Prinzipien und Bildungskräfte. Sie wird zur „spekulativen Physik“. Eine Schlüsselstelle in Schellings Text (Schelling [1799] 1927: 274f.) belegt den damit aufbrechenden Graben zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft. Bildhaft ist er durch die Gegenüberstellung von Oberflächen- und Tiefenanalyse zum Ausdruck gebracht. Während sich die naturwissenschaftliche Untersuchung auf die Oberfläche einzelner Ursache-Wirkungs-Beziehungen richtet, zielt Naturphilosophie auf das „innere Triebwerk“ der Natur, die ursprünglichen Bewegungsursachen bzw. den letzten „Bewegungs-Quell“ und damit auf dasjenige, „was an der Natur nicht-objectiv ist“.

2. ‚Kampf‘ gegen die Naturphilosophie

Damit ist nicht nur eine Abgrenzung der Philosophie der Natur von der Philosophie des Wissens vollzogen, sondern auch eine deutliche Grenze zur Naturwissenschaft markiert. Diese Naturphilosophie hatte zwar wegen ihrer Öffnung gegenüber naturwissenschaftlichen Themen und der Betonung der Selbständigkeit der Natur einige Anhänger, die meisten Naturwissenschaftler jedoch blieben von Anfang an skeptisch oder haben sie nach anfänglicher Euphorie vehement abgelehnt.

Für Hermann von Helmholtz (1821–1894) hat diese Naturphilosophie dazu geführt, dass die Naturforscher ihre Arbeit von philosophischen Einflüssen frei halten wollten (Helmholtz [1862] 1968: 8f.). Viele verdammten „alle Philosophie nicht nur als unnütz, sondern selbst als schädliche Träumerei“. Auch Helmholtz, der auffordert, die Natur gewissenhaft zu erforschen, lehnt den „kühnen Icarusflug der Speculation“ ab. Diese Kritik an der Naturphilosophie betrifft v.a. deren spekulative, assoziative und empirieferne Tendenz. Auch wenn es gemäßigte Stimmen gibt, etwa Carl G. Carus (1789–1869), der überzeugt ist, dass Beobachtung und Spekulation nicht getrennt werden können (Carus [1822] 1986: 14f.), oder Ernst Haeckel (1834–1919), |59|der die Bedeutung naturphilosophischer Vorannahmen für die Naturwissenschaft betont (Haeckel [1877] 1924: 144f.), so ist doch die Ablehnung der Naturphilosophie vorherrschend (vgl. Schlüter 1985). Emil Du Bois-Reymond (1818–1896) etwa grenzt die Tugenden des Experimentators und Beobachters gegen die „unter dem Namen der Naturphilosophie bekannte Verirrung der deutschen Wissenschaft“ ab (Du Bois-Reymond [1890] 1912: 421) und Rudolf Virchow (1821–1902) kritisiert deren „labyrinthische […] Ideengänge“, „kunstvolle Phraseologie“ sowie das „Dunkle und Unverstandene“ in ihr (Virchow 1893: 20).

Die Frontlinien dieses Kampfes gegen die Naturphilosophie, v.a. aber die herrschende Unversöhnlichkeit, demonstriert der Angriff von Matthias J. Schleiden (1804–1881). Bei ihm werden wesentliche Aspekte und Vorgaben aller späteren Konfliktlinien und Abgrenzungen erkennbar, wenn er zwei methodische Ansätze unterscheidet (Schleiden [1844] 1988: 18–22): Die Naturphilosophie nach Art von Schelling folge der dogmatischen Methode und tue so, als ob sie schon alles wisse. Von ihren Schülern verlange sie keinen anderen Grund zur Annahme von Überlegungen, als eben das Wort des Lehrers. Die Naturwissenschaft hingegen folge der kritischen Methode der Induktion und bescheide sich, noch wenig zu wissen. Die Schüler sollen im eignen Geiste und in der Natur nach Antworten suchen. Die Naturwissenschaft strebt nach Gewissheit und garantiert neben der Freiheit des Forschens einen kontinuierlichen Fortschritt. Schleiden ist überzeugt: Würden alle Wissenschaftler diesem Ansatz folgen, wären keine revolutionären Brüche mehr zu befürchten; alle wissenschaftliche Entwicklung würde sich in friedliche Reformen verwandeln, bei denen bisherige Bestände erhalten blieben. Die angeblich vollendeten Wissenssysteme der Naturphilosophie würde man zwar einbüßen, dafür aber einen kontinuierlich wachsenden Bestand überprüfbaren Wissens gewinnen.

Da es insb. in der Biologie keinen Konsens über Aufgaben und Methoden gibt, droht v.a. ihr ein naturphilosophischer Dogmatismus. Deshalb nimmt in ihr die Auseinandersetzung den Zug eines unversöhnlichen „Kampfes“ an. Diesen kann man nur gewinnen, wenn „diejenigen, die den richtigen Gesichtspunkt einmal erfasst haben, fest zusammenhalten und sich mit allem Ernst den lästig sich aufdrängenden dogmatisirenden Träumereien widersetzen“ (ebd.: 21). Ein Sieg ist erst „mit der völligen Vernichtung und Ueberwindung“ derjenigen Positionen erreicht, die „dem Dogmatisiren in Philosophie und Naturwissenschaft“ (ebd.: 22) das Wort reden.

3. Metaphysische und kritische Naturphilosophie

Dass mit diesen Überlegungen spätere Oppositionen vorgezeichnet sind, zeigt die klassifizierende Bestandsaufnahme von Carl Siegel (1872–1943) in seiner Geschichte der Deutschen Naturphilosophie (1913: VI f.). Nach Siegel muss Naturphilosophie, „wenn anders die Bezeichnung nicht völlig unpassend gewählt sein soll“, eine Philosophie der Natur sein. Ein Problem ergibt sich, wenn die in Frage stehende Philosophie zugleich selbst Wissenschaft sein will. Dann ist ihr Verhältnis zu den Naturwissenschaften zu klären, denn nun gibt es zwei miteinander konkurrierende wissenschaftliche |60|Zugänge zur Natur. Eine Lösung böte die Annahme, Naturphilosophie sei nur so lange legitim, wie es noch keine ausformulierte Naturwissenschaft gebe. Diese Auffassung von Naturphilosophie als Vorform der Naturwissenschaft wird jedoch der zeitgenössischen Bedeutung von Naturphilosophie nicht gerecht, weshalb Siegel versucht, Naturphilosophie nicht nur als mögliche Erweiterung naturwissenschaftlicher Arbeit auszuweisen, sondern als deren notwendige Ergänzung.

 

Angesichts überschneidender Aufgaben ist die Sonderstellung von Naturphilosophie neu zu begründen. Es bleiben zwei logische Optionen: Entweder müssen die Unterschiede den Gegenstand betreffen oder aber die Methode. Diese Möglichkeiten sind in den Ansätzen der metaphysischen und der kritischen Naturphilosophie verwirklicht. Erstere hat wie die Naturwissenschaft Natur zum Gegenstand, erfasst diese jedoch mit anderen Methoden. Letztere unterscheidet sich nicht im Verfahren, sondern durch den Gegenstand von der Naturwissenschaft. Sie thematisiert Natur nicht direkt, sondern vielmehr die Naturwissenschaft und wird zu deren logischem Gewissen. Als Wissenschaftsphilosophie betrachtet sie „Grundlagen, Methoden und Ziele der Naturwissenschaft“.

Damit ist treffend das Verständnis von Naturphilosophie ‚in den Grenzen‘ der Naturwissenschaft charakterisiert. Diese Grenzziehung zwischen Metaphysik und Wissenschaftskritik prägt die Debatten im 20. Jh. (→ I.9). Über die Abgrenzungskriterien der Logischen Empiristen hat sie enormen Einfluss auf die heutige Debatte gewonnen. Bewertet man, wie diese, die metaphysische Variante als nicht gangbaren Weg, dann können zwar in theoretischer Hinsicht immer noch verschiedene Naturphilosophien ausgewiesen werden, alle jedoch verbleiben in den Grenzen naturwissenschaftlicher Welterfassung.

4. Naturphilosophie als Allgemeinste Naturwissenschaft

Wieder zu Ehren gekommen ist der Name ‚Naturphilosophie‘ v.a. durch Wilhelm Ostwald (1853–1932). In seinen Vorlesungen über Naturphilosophie (1902: 1–13) hebt auch er den negativen Einfluss Schellings hervor, hält jedoch die Konsequenz, wegen der Gefahren der spekulativen Naturphilosophie eine „antiphilosophische“ Haltung einzunehmen, für falsch. Naturforscher würden vielmehr im Laufe ihrer Arbeit notwendig auf die gleichen Fragen stoßen wie Philosophen. Im Unterschied zum romantischen Ansatz folgt jedoch die neue „Philosophie eines Naturforschers“ nicht mehr dem Anspruch, ein geschlossenes System aufzubauen. Wie Schleiden betont auch Ostwald, Naturphilosophie müsse sich am Beispiel der Naturwissenschaften orientieren und Wissen in langsamem Fortschreiten und gemeinsamer Arbeit festigen. Dabei kann die Übereinstimmung von Denken und Welt nicht vorausgesetzt werden; erst die Beeinflussung des geistigen Lebens durch die äußeren Dinge führt zu Übereinstimmung. Nicht aus dem Denken ist Erfahrung abzuleiten, sondern aus der Erfahrung das Denken. Naturphilosophie ist so eine Zusammenfassung der erkannten allgemeinen Verhältnisse der Natur aus geprüftem Material. Der später von Karl R. Popper (1902–1994) betonten Tatsache, dass scheinbar neutrale Beobachtungen von |61|theoretischen Vorannahmen infiltriert sind (Popper [1935] 1994: 75), begegnet Ostwald durch ein Bild, das die Vorläufigkeit allen Wissens und den ‚schwankenden Boden‘ jeder Theorie zum Ausdruck bringen soll: Wie bei der Überquerung eines Sumpfes entsteht wissenschaftlicher Fortschritt über vorläufige und zu verbessernde Hilfskonstruktionen. Naturphilosophie und Naturwissenschaft verbindet der Verzicht auf absolute Gewissheit und die Beschränkung auf nützliche Erklärungen. Der zu erreichende Grad an Wahrscheinlichkeit ist allerdings in der Philosophie stets geringer als in der Naturwissenschaft.

Im Grundriß der Naturphilosophie (1908: 9–18) erweitert Ostwald dieses Konzept. Man darf demnach auf bleibende Ergebnisse der neuen Naturphilosophie hoffen, weil diese auf „breitester erfahrungsmäßiger Unterlage“ aufbaut, während die alte „bald in uferlose Spekulation endete“. Das bisherige Systemanliegen sei damit in ein Methodenanliegen transformiert. Erfolgreiche Philosophie übernimmt die wissenschaftliche Methode, „welche ihre Probleme aus der Erfahrung und für die Erfahrung nimmt und zu lösen versucht.“ Jede Wissenschaft zielt auf Verallgemeinerung; Naturphilosophie ergänzt wissenschaftliche Ansätze durch noch allgemeinere Zusammenfassungen und ist so allgemeinster Teil der Naturwissenschaft. Die Grenze zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie verschwimmt damit zwar, doch das Fehlen eindeutiger Abgrenzung ist unproblematisch, weil Abgrenzungen lediglich denkökonomische Akzentuierungen sind, um die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen ordnend zu beherrschen. Ebenso ist die Vorläufigkeit des Wissens unproblematisch und kein Argument gegen dessen Wirksamkeit, denn das Wissen schreite fort – allerdings nicht in einer linearen Kette der Akkumulation, sondern nach Art eines „Netzes“ von Beziehungen, die die größten und umfassendsten Geister der Menschheit miteinander verbinden. Der Inhalt des Wissens nimmt zu und die Form seiner Darstellung und Zusammenfassung ändert sich. Insbesondere die Darstellung der Wissenschaft ist geprägt durch den „naturphilosophischen Bestandteil“.

5. Naturphilosophie als logisches Gewissen der Naturwissenschaft

Dass sich eine solche Naturphilosophie in den Grenzen naturwissenschaftlichen Wissens immer weiter auf das von Siegel (1913) benannte Ziel zubewegt, nur noch logisches Gewissen der Naturwissenschaft und so Wissenschaftstheorie zu sein, belegt der Logische Empirismus. Aufschlussreich ist, dass hier überhaupt noch von ‚Naturphilosophie‘ die Rede ist. Hatte doch Rudolf Carnap (1891–1970) in Die Aufgabe der Wissenschaftslogik ([1934] 1992: 91f.) programmatisch erklärt, neben naturwissenschaftlichen Sätzen könne es keine eigenständigen naturphilosophischen Sätze mehr geben, und Hans Reichenbach (1891–1953) in Neue Wege der Naturphilosophie ([1931] 2000: 175) keinen Unterscheid zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaftsphilosophie mehr anerkannt. Diese neue Naturphilosophie proklamiert zwar den Verzicht „auf jede bewußte Anknüpfung an historische Vorgänger“, wird aber gerade in dieser abwehrenden Haltung als Erbe des ‚Kampfes‘ gegen die Naturphilosophie erkennbar. Die Naturphilosophie Reichenbachs soll dort an den Produkten des |62|Denkens ansetzen, wo sie am weitesten entwickelt sind, also an naturwissenschaftlichen Theorien. Sie ist explizit Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften.

Wie die Beziehungen von Naturphilosophie und Naturwissenschaft bei diesen Vorgaben aussehen, zeigt Moritz Schlicks (1882–1936) Philosophy of Nature (1949). Auch er fragt nach der Funktion von Naturphilosophie: Für manche besteht diese in der Synthese naturwissenschaftlichen Wissens. Naturphilosophie soll ein geschlossenes Bild der Natur vermitteln. Andere verstehen Naturphilosophie als epistemologische Rechtfertigung naturwissenschaftlichen Wissens. Nach Schlick aber sind beide Auffassungen falsch. Die Forderung nach systematischer Einheit ist nicht einlösbar, denn für sie müsste man einen höheren Standpunkt einnehmen, von dem aus die Deduktion einzelner Befunde erfolgte. Diese deduktive Forderung widerspricht den Vorgaben des Induktivismus; weder Naturwissenschaft noch Naturphilosophie können den gegenwärtigen Stand empirischen Wissens übersteigen. Auch die kritische Prüfung wissenschaftlicher Erkenntnis ist nicht Aufgabe der Naturphilosophie, denn diese übernimmt die Naturwissenschaft selbst. Welche Funktion kann Naturphilosophie dann noch haben? Für Schlick dient sie dazu, die „Bedeutung“ naturwissenschaftlicher Hypothesen zu klären. Damit hat allein die Naturwissenschaft eine Erklärungsfunktion für Natur, während die Philosophie auf Sinnfragen beschränkt ist. Sie hat lediglich interpretierende Aufgaben, die zudem ins zweite Glied rücken: Es geht nicht mehr wie noch bei Francis Bacon (1561–1626) um eine Interpretation von Natur, sondern lediglich um eine Interpretation naturwissenschaftlicher Interpretationen von Natur. Naturphilosophie ist keine exakte Wissenschaft, ihr Ansatz setzt eher auf Verstehen. Ihre Funktion ist es, die Bedeutung von systematischen Allaussagen über die Natur, also von Naturgesetzen, aufzudecken. Allein die Naturwissenschaft kann legitime Aussagen über Objekte der äußeren Erfahrung machen, nur sie über die Grenzen des Sprachuniversums hinausgreifen.

6. Naturphilosophie als Optimierung der Naturwissenschaft

Eine praktisch-methodische Variante dieser theoretisch-logischen Überlegung liefert Hugo Dingler (1881–1954) in seinen Grundlagen der Naturphilosophie (1913). Auch er setzt auf die Leitfunktion der exakten Naturwissenschaften; sie sind das Vorbild, an dem sich lebenspraktische Erkenntnis zu orientieren hat. Auch die auf dieser Basis konzipierte Naturphilosophie verbleibt in den Grenzen der Naturwissenschaft. In Dinglers Geschichte der Naturphilosophie (1932: 1) heißt es: „Vom streng systematischen Gesichtspunkt aus gibt es kein besonderes Gebiet, das als Naturphilosophie betrachtet werden müßte. Denn alle strengen philosophischen Aussagen müssen, ebenso wie alle strengen wissenschaftlichen Aussagen überhaupt, dem Gesamtsystem der rationalen Erkenntnisse angehören“. Dinglers Programm stimmt insofern mit dem Neopositivismus überein, als alle Erkenntnis schließlich auf Logik reduziert werden soll. Es weicht jedoch von der Methodologie der Neopositivisten insofern ab, als Naturphilosophie nicht mehr bloß Sprachphilosophie ist. Sie hat nun die Aufgabe, bestehende Praxen der Naturwissenschaften von zwei Standpunkten aus zu analysieren und zu |63|optimieren: In „allozentrischer“ Weise betrachtet sie die Naturwissenschaft aus einer Außenperspektive, wie diese ihren Gegenstand, um so die typischen Vollzüge exakter wissenschaftlicher Arbeit zu erfassen. In „egozentrischer“ Position wird eine Innenperspektive ergänzt, indem sich der Naturphilosoph die Frage stellt, wie er selbst vorginge, hätte er exakt zu arbeiten. Naturphilosophie ist so gleichermaßen erklärende Erkenntnistheorie wie Heuristik der Naturwissenschaften.

Diese Optimierung erfordert eine intensive Wechselbeziehung: Die exakten Anteile der Naturwissenschaft dienen als Modell und Prüfstein des Optimierungsverfahrens. Die Naturphilosophie fungiert als Korrektiv und Motor des Entwicklungsprozesses. Diese zirkuläre Wechselbeziehung ist die treibende Kraft des Fortschritts der Wissenschaft vom experimentellen zum theoretischen Stadium. Aus einem anfänglichen Sammelsurium von Beobachtungen entsteht ein System wissenschaftlichen Wissens. Die Beseitigung nicht-logischer Anteile deutet Dingler in Analogie zur Evolution: In der Methode des blinden Versuchs werden bestimmte Fundamentalaussagen als Basis des Wissenssystems angenommen; sie müssen lediglich alle bekannten Beobachtungsdaten erklären können; über die Methode der Kritik erfolgt dann die Selektion mit dem Ziel, ein kohärentes Wissenssystem zu erzeugen.