Lebendige Seelsorge 5/2017

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Kinderschutz, Kinderbildung, Kinderpartizipation

Historische Wurzeln und aktuelle Provokationen

Jedes Jahr am 20. November begehen die Vereinten Nationen den Weltkindertag, um an die Rechte von Kindern und Jugendlichen zu erinnern. Zugleich steht hinter diesem Gedenktag die öffentlich kaum wahrgenommene Tatsache, dass die Wertschätzung, die den Kindern und Jugendlichen erst in einem langen historischen Prozess zugesprochen wurde, vor allem als eine Errungenschaft mit jüdisch-christlichen Wurzeln gelten muss. Hubertus Lutterbach

Tatsächlich verfügt die Sorge um Kinderschutz und Kinderförderung – bezogen auf junge Menschen bis zum Alter von 18 Jahren – in der sozialen Praxis über eine lange Tradition. Das gilt ungeachtet der Tatsache, dass der Unicef-Report 2016 trotz aller erzielten Erfolge besonders für die Mehrheit der weltweit 2,2 Milliarden Kinder und Jugendlichen in den Entwicklungs- und Schwellenländern noch immer bedrückende Lebensverhältnisse dokumentiert.

Allein die aktuelle Zahl der minderjährigen Kinder auf der Flucht hat sich seit 2010 verfünffacht, wie das Unicef-Dokument „Ein Kind ist ein Kind“ (2017) mahnt. – Im Vergleich zum Mühen um Kinderschutz und Kinderbildung ist die öffentlich gestellte Frage nach einer altersgemäßen Partizipation junger Menschen am gesellschaftlichen Leben erst seit den 1970er Jahren virulent.

Unter diesem Fokus fehlt es noch vielfach an institutionalisierten Mechanismen, damit sich junge Leute bürgerschaftlich engagieren können: „Die aktive Beteiligung von Jugendlichen am familiären und gesellschaftlichen Leben fördert dieses Engagement auch im späteren Leben als Erwachsene“, unterstreicht der Unicef-Report 2016.

Zur vertieften – auch historisch fundierten – Einschätzung dieser Gegenwartssituation möchte dieser Aufsatz sich drei entscheidenden Fragen widmen: Wie hat sich der gegenwärtige Einsatz zugunsten von Kindern und Jugendlichen im Völkerrecht niedergeschlagen? Wie lief der historische Prozess ab, der zu einer heute unstrittigen Wertschätzung von Kindern und Jugendlichen führte, und welche Inkulturationsprozesse fanden dabei statt? Welches provokative Potential birgt die christentumsgeschichtliche Vergewisserung über die Ursprünge der Wertschätzung für die Gestaltung von Kirche und Gesellschaft in der Gegenwart?

Hubertus Lutterbach

Dr. Dr. habil., Professor für Christentums- und Kulturgeschichte (Historische Theologie) an der Universität Essen.

KINDERSCHUTZ, KINDERFÖRDERUNG UND KINDERPARTIZIPATION IN DER UN-KINDERRECHTSKONVENTION (1989)

Im Vergleich zu ihren Vorläufer-Erklärungen von 1924 und 1959 ist die Annahme der UN-Kinderrechtskonvention durch die UN-Generalversammlung am 20. November 1989 als ein bahnbrechender Erfolg zu bewerten, wie viele im Völkerrecht ausgewiesene Juristen herausstellen. Der Vatikan hat diese vom neutestamentlichen Menschenbild mitgeprägte Konvention übrigens als erster europäischer Staat unterzeichnet. Schließlich ist die UN-Kinderrechtskonvention so zügig ratifiziert worden wie keine andere Menschenrechtskonvention.

- Unter den Verpflichtungen zum Kinderschutz wird jedem Kind grundlegend das Lebensrecht zugesprochen (Artikel 6). So ist für die Staatsangehörigkeit eines Kindes ebenso Sorge zu tragen wie für seine familiären Bindungen. In diesen Zusammenhang gehören auch die Vorschriften zum Schutz der Gesundheit, zur Ernährung und zur körperlichen Unversehrtheit des Kindes bis hin zu dessen Schutz vor Genitalverstümmelung, sexueller Gewalt und Drogenmissbrauch (Artikel 24-34) sowie vor Kinderhandel, Ausbeutung, Folter und körperlicher Gewalt unter anderem innerhalb militärischer Konflikte (Artikel 35-39).

- Zu den Kernanliegen der Kinderförderung zählt die UN-Kinderrechtskonvention das Mühen um eine kindgemäße Bildung für jedes Kind (Artikel 28): „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf Bildung an.“ Näherhin verpflichtet sich die Staatengemeinschaft zur lückenlosen Ermöglichung einer Elementarschulbildung, überdies dazu, für jedes Kind „weiterführende Schulen allgemeinbildender und berufsbildender Art“ zugänglich zu machen (Artikel 28).

- Die Selbstverpflichtung der Staaten zur Kinderpartizipation zielt darauf, die „volle Beteiligung des Kindes am kulturellen und künstlerischen Leben“ zu gewährleisten (Artikel 31). „Die Vertragsstaaten achten das Recht des Kindes auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.“ Um diese Partizipationsrechte wahrnehmen zu können, gestehen die Staaten dem Kind schließlich ein Recht auf Versammlungs- und Informationsfreiheit zu.

Fassen wir mit dem Politologen Hartmut Ihne das Bahnbrechende der Vereinbarung noch einmal knapp zusammen: „Die Kinderrechtskonvention wendet erkennbar die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf die besonderen Lebens- und Entwicklungssituationen von Kindern an. Damit kann sie als eine auf Kinderrechte bezogene Präzisierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verstanden werden“ (Ihne, 8f.).

DIE WURZELN DER WERTSCHÄTZUNG VON KINDERN IN DER ANTIKEN WELT

Da die führenden theologischen Lexika einen Artikel „Kinderrechte“ nicht enthalten, soll es in der folgenden religions- und sozialgeschichtlich ausgerichteten Vergewisserung als erstes darum gehen, die 1989 formulierten UN-Kinderrechte auf deren frühe Wurzeln hin zu analysieren.

Gemäß dem Alten Testament steht das Leben der Kinder nicht zur Disposition der Eltern. Es ist in dem von Gott gegebenen Recht der Tora von gleicher Dignität und Unantastbarkeit wie das der Eltern. In diesem Schutz der Kinder vor der Tötung durch die Eltern oder zugunsten der Eltern besteht die Anwaltschaft des biblischen Gottes für die Kinder nach den Rechtssätzen der Tora. Damit ist ausgesagt, dass jedes Kind über eine den Eltern ebenbürtige Würde verfügt und ihm ein ebenso grundsätzliches Recht auf Leben zukommt; diese Dignität galt den Israeliten als Ausdruck jener Unmittelbarkeit, in der Gott zu jedem Menschen – unabhängig von dessen Alter oder Sozialsituation – steht.

Es verdient Beachtung, dass die im Alten Testament vorgezeichnete Linie in den Schriften des Neuen Testaments aufgegriffen und weitergeführt wird. Maßgeblich ist als erstes das neutestamentliche Vater- bzw. Gottesverständnis, als zweites die in einigen Evangelienperikopen überlieferte Zuwendung Jesu gegenüber den Kindern.

Die von der griechisch-römischen Überlieferung abweichende christliche Sonderentwicklung zugunsten der Kinder wurde möglich durch einen hintergründigen ‚argumentativen Trick‘: So gingen die Christen in der Spur jüdischen Gedankengutes rechtskonkret in der Weise vor, dass sie zwar den in der zeitgenössischen heidnischen Umwelt wohlbekannten Grundgedanken des Hausvaters (pater familias) übernahmen, diesen aber in seiner Bedeutung nicht auf den irdischen Hausvater begrenzten. So übertrugen sie die Hausvaterschaft – also unter anderem die rechtliche Verfügungsgewalt über die Kinder – exklusiv auf den christlichen Vatergott als den Schöpfer allen Lebens.

Damit war den Menschen jedwede Verfügungsgewalt über das Leben von vornherein abgesprochen. Das geborene wie das ungeborene Leben unterstand allein der Hausvaterschaft Gottes. Grundlegender noch: Weil alle Menschen aus göttlichem Samen hervorgegangen seien, hätten alle Menschen auch Gott als ihren gemeinsamen Vater (Mt 23,9). Unter eben diesem Vorzeichen interpretierte man die Kinderbegegnung Jesu (Mk 10,15-16; Lk 18,15-17) als Ausdruck der Wertschätzung Jesu gegenüber den Kindern.

Kurzum: Die Auswirkungen der neutestamentlichen Verpflichtung zur Nächstenliebe sollten sich mit Blick auf die Kinder historisch besonders anhand der christlichen Initiativen zugunsten von Kinderschutz und Kinderförderung zeigen.

KINDERSCHUTZ UND KINDERFÖRDERUNG ZWISCHEN SPÄTANTIKE UND GEGENWART

Zahlreich sind die christlich (mit-)initiierten Beispiele, die sich sowohl für den Kinderschutz als auch für die Kinderförderung anführen lassen: vom Verbot der Kindstötung bis hin zur Waisen- und Findelkindsorge, vom Kampf gegen die Abtreibung bis hin zum Verbot sexueller Gewalt gegenüber Kindern; von der Förderung behinderter Kinder bis hin zur Verbreitung der Fabrikschule, von den neuzeitlichen Entwürfen einer christlich mit beeinflussten „existentiellen Pädagogik“ bis hin zur „Erfindung“ der Kindergärten (vgl. Lutterbach).

Das einsatzfreudige Mühen zahlreicher Einzelpersönlichkeiten und christlicher Gruppen steht hinter diesen großen entwicklungsgeschichtlichen Linien, die humanisierend gewirkt haben, selbst wenn ihre Impulse längst nicht immer zur Gänze realisiert werden konnten.

Nur zwei Beispiele seien stellvertretend für eine große Tradition erinnert: So stemmte sich der nordafrikanische Bischof Augustinus von Hippo († 430) – gewiss nicht ohne alltagskonkrete Anhaltspunkte – mit dem Argument gegen die Tötung behinderter Kinder, dass doch alle Menschen von gleicher Abkunft seien: „Wer immer irgendwo auf Erden als Mensch, also als sterbliches vernunftbegabtes Lebewesen geboren ist, er mag eine für unsere Begriffe noch so ungewohnte Körperform haben, an Farbe, Bewegung, Stimme, Kraft und Teilen seiner natürlichen Eigenschaften noch so sehr von anderen abweichen; kein Gläubiger soll zweifeln, dass er seinen Ursprung aus jenem einen zuerst gebildeten Menschen herleitet“ (De Civitate Dei 16,8).

Nicht weniger engagiert hörten seit dem 14. Jahrhundert Pädagogen wie Johannes Gerson († 1429) den Bibelvers „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“ auf gänzlich neue Weise. Während man Kinder bis dahin für kleine Erwachsene hielt (und sie auch entsprechend kleidete), gelangten diese spätmittelalterlichen Erzieher – inspiriert durch das genannte Schriftwort – zu einer bis dahin unbekannten Sicht auf die Kinder, indem sie sie in ihren Besonderheiten mit den Erwachsenen und deren Verhalten verglichen.

 

Im Ergebnis legten diese Pioniere die Basis für eine seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert mehr denn je altersspezifische Pädagogik. Auf dieser Einsicht, die besonders die Reformpädagogen unter den Aufklärern mit zuvor unbekannter Breitenwirkung propagierten, ruhte fortan das Mühen um den Schutz, die Förderung und die Partizipation der Kinder, wie es in der UN-Kinderrechts-Gesetzgebung schließlich aufgipfeln sollte.

„KINDER UND CHRISTENTUM“ IN DER GEGENWART – PARTIZIPATION ALS DESIDERAT?

Nachdem die Christen – auf der Basis jüdischer Traditionen – im Bereich des Kinderschutzes und der Kinderförderung wesentliche Impulse in die Geschichte einbringen konnten, hinken sie in puncto „Kinderpartizipation“ aktuell um einiges hinter der gesellschaftlichen Entwicklung her.

Der hier zugrunde gelegte Begriff von Partizipation orientiert sich am Stufenmodell des amerikanischen Psychologen Roger Hart. Er unterscheidet zwischen Teilhabe, Mitwirkung, Mitbestimmung, Selbstverwaltung und Selbstbestimmung von Kindern. Bei der Teilhabe können sich Kinder an Aktivitäten von Erwachsenen mit einem bestimmten Ziel beteiligen. Mitwirkung von Kindern liegt dann vor, wenn sie ihre Meinung kundtun, ohne allerdings mitentscheiden zu können. Mitbestimmung meint, dass die Initiative zwar auch von Erwachsenen ausgeht, aber eine Entscheidungsfindung gemeinsam mit den Kindern geschieht. Um Selbstverwaltung handelt es sich, wenn die Kinder als Gruppe völlige Entscheidungsfreiheit haben und es in ihrem Belieben steht, Erwachsene hinzuzuziehen oder nicht. Selbstbestimmung liegt vor, wenn Kinder ein Projekt initiieren, dessen Gestaltung von Erwachsenen mitgetragen wird (vgl. Hard, 185 f.).

Wie stark die Partizipation und die Wahrnehmung von Partizipationsrechten mittlerweile die öffentliche Diskussion mitbestimmen, zeigt sich aktuell heilsam daran, dass Menschen, die vor einigen Jahrzehnten noch Kinder waren, heutzutage ihre Stimme erheben und sich zu Opferverbänden zusammenschließen, ja dass sie die ihnen auch in kirchlichen Einrichtungen widerfahrene Gewalt inklusive ihrer damaligen Macht- und Wortlosigkeit inzwischen vernehmlich anklagen.

An anderer Stelle habe ich historisch umfassend ausgeführt, welche Tragik dahintersteckt, wenn ausgerechnet die Kirchen die Kinder erstens zu Opfern von körperlicher oder gar sexueller Gewalt werden ließen und mit ihrer hierarchischen Struktur dazu beitrugen, dass sich Kinder zweitens nicht gegen die Gewalt wehren konnten, weil sie kaum gelernt hatten, sich zu widersetzen und für ihr Recht auf körperliche wie geistige Unversehrtheit selber einzutreten bzw. sich mit anderen Menschen in diesem Kampf zu verbünden.

Tatsächlich wird an dem Beispiel der sexuellen Gewalt von Klerikern gegenüber Kindern sowie an dem Umgang mit diesen Vergehen deutlich, dass die Kirche sich im Bereich des Kinderschutzes und der Kinderpartizipation Versagen vorzuwerfen hat!

Grundsätzlich ist die Partizipation auch in der Bundesrepublik Deutschland inzwischen zur zentralen Forderung der Kinderkulturarbeit und der Kinderpolitik geworden. Allerdings werden Christen und Kirchen in der Öffentlichkeit gemeinhin offenbar in der Weise wahrgenommen, dass sie ihr in vielen gesellschaftlichen Bereichen wirkungsvolles Schutz- und Förderengagement auf Kosten der Partizipation von Kindern verwirklichen, so dass man diese Position mit der britischen Kindheitsforscherin Gerison Lansdown in folgender Weise charakterisieren könnte:

„Es ist das Vorherrschen eines schutzbetonten Modells in der Konstruktion unserer Beziehungen zu Kindern, das die Entwicklung einer angemessenen Anerkennung der tatsächlichen Partizipationsfähigkeit von Kindern oft verhindert hat. […] Und es ist der kindliche Bedarf an Schutz, der benutzt worden ist, um den fortdauernden Widerstand dagegen zu rechtfertigen, den Kindern eigene Entscheidungen über ihr Leben einzuräumen.“

Insofern sich die christlichen Kirchen offensiver als bislang an die Verwirklichung der Partizipation und der Partizipationsrechte zugunsten der Kinder heranwagten, könnten sie in Deutschland auch einen substantiellen Beitrag leisten, um die Kinderrechte endlich im Grundgesetz zu verankern.

Ebenso wäre die kirchliche Beteiligung an Netzwerken und Forschungseinrichtungen zugunsten von Kinderrechten und Kinderpolitik hilfreich; denn bislang finden sich keine Kirchen oder kirchliche Vereinigungen unter den Mitgliedern bedeutender Kinderrechtsorganisationen.

DIE ACHTUNG GEGENÜBER DEN KINDERN – INKULTURATIONSPROZESS OHNE ENDE?

Die Wichtigkeit einer christlich-kirchlichen Öffnung gegenüber der Partizipation und den Partizipationsrechten von Kindern zeigt sich hervorragend daran, dass ansonsten auch die übrigen, gegen vielerlei Widerstände durchgesetzten Inkulturationsleistungen von Christen und Kirchen – Kinderschutz und Kinderförderung – weiter noch als bisher in Vergessenheit geraten und allein als Errungenschaften der Aufklärung angesehen werden.

Freilich: Wichtiger als die rückblickend korrekte Zuschreibung von christlich-kirchlichem Engagement in der Öffentlichkeit ist die Notwendigkeit, dass möglichst viele kompetente Akteure zugunsten der Kinderrechte, nicht zuletzt für die Partizipationsrechte von Kindern eintreten, um deren Rolle in der gegenwärtigen Welt zu kräftigen.

Christen und Kirchen sind erstrangige Inkulturationspartner zugunsten einer Wertschätzung der Kinder.

Im skizzierten Rahmen dürften Christen und Kirchen aufgrund ihrer internationalen Vernetzungen erstrangige Inkulturationspartner zugunsten einer alltags- und gesellschaftskonkreten Wertschätzung der Kinder sein. So könnten Christen und Kirchen von heute einerseits die eigene lange Tradition des Kinderschutzes und der Kinderförderung als Provokation zum fortdauernd-humanisierenden Engagement in den Bereichen von Kinderschutz und Kinderförderung dienen.

Andererseits sollte sich auch der christlichkirchlich bisher allzu sporadische Einsatz im Bereich der Kinderpartizipation als Provokation auswirken, um hier die Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen Gruppen im Dienste der UN-Kinderrechtskonvention zu suchen.

Vielleicht bietet es sich als kleiner Anfang auf lokaler Ebene beispielsweise an, wenn sich auch christlich getragene Schulen an dem von UNICEF Deutschland und zahlreichen Abgeordneten des Deutschen Bundestages seit 2010 anlässlich des Jahrestages der UN-Kinderrechtskonvention am 20. November abgehaltenen „Aktionstag Kinderrechte“ beteiligen. Ziel der Aktion ist es, Entscheidungsträger aus der Bundespolitik mit Kindern und Jugendlichen im jeweiligen Wahlkreis zusammenzubringen und einen Dialog über die Rechte von Kindern zu fördern.

So ergibt die vorgelegte christentumsgeschichtliche Vergewisserung wie nebenbei zugleich neue Perspektiven sowohl für das religiös mitgeprägte Verständnis als auch für die alltagspraktische Ausrichtung von christlich mitgetragener Kinder- und Jugendarbeit. Immerhin: Seit Jahrzehnten zeigt die „Pfadfinderschaft St. Georg“ oder die „Katholische Junge Gemeinde“ mit ihrem jeweils demokratiefördernden Engagement exemplarisch, wie sich Kinderschutz, Kinderbildung und Kinderpartizipation als ein stimulierender und gesamtgesellschaftlich vernehmbarer Dreiklang verwirklichen lassen.

LITERATUR

Hart, Roger, Children’s Participation. From Tokenism to Citizenship, Florence 1992. (Erläuternd auch Liebel, Manfred, Partizipation und Gleichberechtigung, in: Liebel, Manfred, Wozu Kinderrechte. Grundlagen und Perspektiven (Reihe Votum o. Nr.), Weinheim/München 2007, 183-197).

Ihne, Hartmut, Menschenwürde und Kinderrechte in der Einen Welt, in: Jahrbuch für biblische Theologie 17 (2002) 3-20.

Lansdown, Gerison, Children’s Rights to Participation. A Critique, in: Cloke, Christopher/Murray, Davies (Hg.), Participation and Empowerment in Child Protection, Chichester 1995, 19-38.

Lutterbach, Hubertus, Kinder und Christentum. Kulturgeschichtliche Perspektiven auf Schutz, Bildung und Partizipation von Kindern zwischen Antike und Gegenwart, Stuttgart 2010.

Partizipation ohne Leiter

Die Replik von Heinz Hengst auf Hubertus Lutterbach

Auf das, was Hubertus Lutterbach als „christentumsgeschichtliche Vergewisserung“ und als „historische Fundierung“ seiner Überlegungen zur Wertschätzung von Kindern und Jugendlichen in Gegenwartsgesellschaften anführt, möchte ich hier nicht eingehen. Das Thema ist zu komplex, als dass man ihm mit ein paar Sätzen gerecht werden könnte. Ich konzentriere mich auf die Ausführungen zu seinem wichtigsten Stichwort: Partizipation.

Beginnen möchte ich allerdings mit ein paar Sätzen zum Verhältnis von katholischer Kirche und UN-Kinderrechtskonvention. Von Herrn Lutterbach erfahren wir, dass der Vatikan „diese vom neutestamentlichen Menschenbild mitgeprägte Konvention […] als erster europäischer Staat unterzeichnet“ hat. Das klingt nach mehr Übereinstimmung und Harmonie als tatsächlich gegeben ist.

Der UNO-Bericht zu Kinderrechten in der katholischen Kirche, der Anfang 2014 der Weltöffentlichkeit vorgestellt wurde, in dem es nicht nur um den Kindesmissbrauch ging, den ja auch Hubertus Lutterbach anspricht, sondern der auch den Umgang der katholischen Kirche mit Homosexualität und Abtreibung anprangert, ist vom Vatikan harsch als grundsätzliche Kritik an der katholischen Sittenlehre, als Einmischung in die Ausgestaltung der katholischen Lehre, abgewiesen worden. Die UNO, das wird hier deutlich, setzt, anders als der Vatikan, die Kinderrechte absolut.

In meiner Interpretation ist die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 nicht zuletzt ein Dokument, aus dem die Zeit spricht, in der es konzipiert wurde. Eines ist allerdings unbestreitbar: Die Konvention hat ein neues Kapitel in der Geschichte der Kindheit aufgeschlagen. Zum ersten Mal wird Kindern der Status von Rechtssubjekten zuerkannt, wird auf diese Weise die generationale Ordnung von Gesellschaften und Nationen grundsätzlich infrage gestellt.

Aber die Konvention hat auch Mängel. Als Ergebnis diplomatischer Verhandlungen in einem Zeitraum von 10 Jahren enthält sie eine Reihe von Kompromissen und lässt viel Interpretationsspielraum. Vor allem muss man sich klarmachen, dass die Konvention in den Achtzigerjahren, und damit zu einer Zeit erarbeitet wurde, in der das Verständnis von Kindheit noch ganz entscheidend von den traditionellen Kinderwissenschaften und dem Entwicklungsparadigma dominiert wurde, sowohl in der Forschung als auch in adultistischen, paternalistischen und familistischen Haltungen, in der Politik und im Handeln.

Schon deswegen ist die Ratifizierung, die inzwischen, mit Ausnahme der USA, alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen geleistet haben, zwar ein entscheidender Schritt, aber doch nicht alles. Mindestens so wichtig ist die Umsetzung, die Implementierung der in 54 Artikeln fixierten Inhalte, deren Gestaltung den Einzelstaaten obliegt. Es leuchtet ein, dass jeder Staat, der die Konvention ratifiziert hat, alle paar Jahre einer Prüfung durch die UNO unterzogen wird. (Im Fall der katholischen Kirche monierte das UN-Komitee 2014, dass trotz aller Absichtserklärungen und Zusagen bei der ersten Überprüfung im Jahre 1996 praktisch nichts geschehen sei.).

Die Kritik von Kinderrechtlern und sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschern betrifft nicht nur Probleme der Implementierung, sondern entzündet sich vor allem an den bereits angesprochenen paternalistischen Elementen in verschiedenen Artikeln der Konvention.

In aller Regel erfolgt die Auseinandersetzung mit den Inhalten entlang der „drei Ps“ (protection, provision, participation). Die Begriffe in der Überschrift von Lutterbachs Beitrag kann man – trotz kleiner Unterschiede – als Synonyme dieser Termini betrachten.

Ich teile die Sicht der Beziehung von Schutz und Partizipation, die er, Gerison Landsdown zitierend, geltend macht. Die Anerkennung von Kindern als selbständig handelnden und partizipationsfähigen Subjekten ist keine Absage an ihren Schutzbedarf: Schutz ohne Geltendmachen von Rechten öffnet dem sozialen und politischen Paternalismus Tür und Tor.

Skeptischer bin ich, wenn es um Konkretionen von Partizipation geht. Ich werde hier nicht auf Partizipationsstufen und -modelle eingehen. Diese Diskussion wird auf nationaler und internationaler Ebene seit den Neunzigerjahren intensiv geführt.

Partizipation ist fester Bestandteil der Sozial- und Kulturarbeit, der Kinder- und Jugendpolitik. Ein Blick ins Internet zeigt, dass hierzulande kein Mangel an Partizipationsprojekten herrscht. Und diese Projekte werden nicht selten – wie auch von Hubertus Lutterbach – Roger Harts „ladder of participation“ zugeordnet. Das ist keineswegs im Sinne des Erfinders. Hart hat sich (2008) in einem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel „Stepping back from ‘The Ladder’…“ ausdrücklich von denen distanziert, die seine „Leiter“ als fertiges Konzept betrachten, an dem man die partizipative Arbeit mit Kindern „messen“ kann. Er versteht die Leiter, die er zuerst 1992 bei UNICEF vorgestellt hat – zu einer Zeit, in der Kinderpartizipation noch wenig erforscht war –, als „jumping-off point“, als bloßen Denkanstoß für eigenes Nachdenken.

 

Interessant ist, wie bereits angedeutet, immer das Kinderbild, auf dem das Nachdenken über und die Praxis von Partizipation basiert. Bei Hubertus Lutterbach fallen mir Wendungen wie die von einer „altersgemäßen Partizipation junger Menschen am gesellschaftlichen Leben“, „kindgemäße Beteiligung“ und „Entwicklungssituationen von Kindern“ auf, Wendungen, die durchaus im Einklang mit Formulierungen der UN-Kinderrechtskonvention sind, aber zum Beispiel mit Gerison Landsdowns Plädoyer für die Anerkennung der „tatsächlichen Partizipationsfähigkeit von Kindern“ nicht ohne Weiteres vereinbar sind.

Die tatsächliche Partizipationsfähigkeit von Kindern kann man nämlich nicht einfach an deren Alter ablesen. Sie ist immer ein Ergebnis von Erfahrungen in und mit spezifischen sozialen, kulturellen und materiellen Kontexten. Die Sozialforscherin Priscilla Alderson (2003) notiert als wichtigstes Ergebnis ihrer Forschungen, dass sich „Kompetenz und Autonomie von Kindern in der Hauptsache nicht abhängig vom Alter oder den intellektuellen Fähigkeiten entwickeln, sondern durch direkte persönliche Erfahrung“, und dass Kompetenz und Autonomie bei Kindern ebenso schwanken wie bei Erwachsenen, dass die Ausprägung von Kompetenzen sehr viel mehr vom Kontext und den jeweiligen Vorerfahrungen abhängt als von Eigenschaften wie Alter oder Intelligenz.

Der Philosoph Nida Rümelin sagt zu den Erfahrungen in seinem „Sokrates-Club“: „Viele Kinder tun sich schwer mit abstraktem Denken und kommen im Grunde immer wieder auf das, was sie gerade erlebt haben, zurück. Und andere Kinder im selben Alter sind schon in der Lage, ein ernsthaftes philosophisches Argument zu entwickeln. Diesen Unterschied hatte ich so groß nicht erwartet“ (Interview Deutschlandfunk Kultur, 27.9.2012).

Da die UN-Kinderrechtskonvention globale Geltung beansprucht, möchte ich diese Beispiele ergänzen und meine Replik mit einem Blick auf Kinderarbeit in der Dritten Welt abschließen. Im Entwicklungsmodell ist Kinderarbeit nicht vorgesehen. Sie ist, wie Norbert Blüm gesagt hat, „eine Schande für die zivilisierte Menschheit, ohne Abstriche“ (Kampagne gegen Kinderarbeit in der Teppichindustrie, Nr.12, S.1).

Eine solche, im Kern weit verbreitete, Auffassung universalisiert die spezifischen Merkmale des europäischen Kindheitskonzepts. Notwendig ist stattdessen größere Offenheit gegenüber spezifischen Konstitutionsmerkmalen der Dritten Welt, und, damit verbunden, die Verabschiedung der starren Orientierung am vorherrschenden Kindheitsbild der Ersten Welt.

Unabdingbar ist eine Auseinandersetzung mit arbeitenden Kindern. Deren Interessen sind nur aus ihren Erfahrungen und ihrer Experten-Sicht heraus verstehbar. Es geht um ihre Lebenswelt und ihre Vorstellungen von einem besseren Leben. Es geht um mehr Einfluss der Kinder bei der Konstruktion von Kindheit und bei der Interpretation von Arbeit, als ihnen gemeinhin zugestanden wird.

Die Propagierung der Kinderrechtskonvention durch Kinderrechtsgruppen und NGOs hat dazu geführt, dass die Kinder sich zunehmend als eigenständige Rechtssubjekte verstehen. Die Kinderbewegungen, so kann man in einschlägigen Erfahrungsberichten lesen, gehen selektiv mit den Inhalten der Konvention um. Sie greifen die Rechte auf, die Bezug zu ihrer Realität haben…

Eines sollte deutlich geworden sein: Dies ist kein Plädoyer für Kinderarbeit, sondern ein Beispiel für erfahrungsbasierte und kontextsensible Partizipation an der Gestaltung der eigenen Lebenswelt.

LITERATUR

Alderson, Priscilla, Die Autonomie des Kindes – über die Selbstbestimmungsfähigkeit von Kindern in der Medizin, in: Wiesemann, Claudia u.a. (Hg.), Das Kind als Patient, Frankfurt/New York 2003, 28–47.

Hart, Roger, Stepping back from ‘The Ladder’: Reflections on a model of participatory work with children, in: Jensen, Reid A. u. a. (Hg.), Participation and learning, Dordrecht 2008, 19–31.

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