Handbuch Jüdische Studien

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Ich hoffe, hier bewiesen oder zumindest plausibel dargelegt zu haben, dass es irreführend ist, die jüdische Kulturgeschichte der Antike vor dem Hintergrund einer Vermutung zu betrachten, es habe eine „Religion“ gegeben, die „Judentum“ genannt wurde und gesondert war vom säkularen Bereich und der Politik. Wir täten gut daran, die Kultur insgesamt zu betrachten, ohne sie in Kategorien zu zwingen, die von anderen Kulturen, besonders unserer christlich geprägten, übernommen wurden.

Übersetzung aus dem Englischen: David Ajchenrand

______________

1Dieser Beitrag ist eine leicht geänderte und gekürzte Version eines Kapitels in meiner sich in Arbeit befindenden Studie Judaism/Jewish Religion im Rahmen der Reihe „Key Words for Jewish Studies“, die demnächst in der Rutgers University Press erscheinen wird.

2Davies, Philip R.: On the Origins of Judaism, Bible World, London; Oakville 2011.

3Ebd., S. 1.

4Ebd., S. 4.

5Ebd., S. 9.

6Ebd., S. 11.

7Ebd., S. 12.

8Thiessen, Matthew: Contesting Conversion: Genealogy, Circumcision and Identity in Ancient Judaism and Christianity, Oxford; New York 2001.

9Flavius Josephus: Jüdischer Krieg. Aus dem Griechischen übersetzt von Dr. Philipp Kohout, Linz 1901, S. 488.

10Schwartz, Daniel R.: Jewish Background of Christianity (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, Bd. 60), Tübingen 1992, S. 13.

11Davies: Origins of Judaism, S. 13.

12Batnitzky, Leora: How Judaism Became a Religion: An Introduction to Modern Jewish Thought, Princeton 2011.

13Amir, Yehoshua: The Term Ιουδαϊσμός: On the self-understanding of Hellenistic Judaism, in: Peli, Pinchas (Hg.): Proceedings of the Fifth World Congress of Jewish Studies, the Hebrew University of Jerusalem, Mount Scopus-Givat Ram, Jerusalem 1969, S. 264.

14Ebd., S. 265.

15Ebd., S. 266. Vgl. Schwartz, Daniel R.: More on Schalit’s Changing Josephus: The Lost First Stage, in: Jewish History 9/2 (1995), S. 9–20.

16Mason, Steve: Jews, Judaeans, Judaizing, Judaism: Problems of Categorization in Ancient History, in: Journal for the Study of Judaism xxxviii/4–5 (2007), S. 465.

17Unter anderem in Boyarin, Daniel: Semantic Differences: Linguistics and „the Parting of the Ways“, in: Becker, Adam H.; Reed, Annette Yoshiko (Hg.): The Ways That Never Parted: Jews and Christians in Late Antiquity and the Early Middle Ages (= Texte und Studien zum antiken Judentum, Bd. 95), Tübingen 2003, S. 65–85. Diese Behauptung zu Ioudaismos findet sich zudem bereits bei Goldstein, Jonathan A. (Übers. und Hg.): II Maccabees: A New Translation with Introduction and Commentary, The Anchor Bible 41a, New York 1983. Mason hat das Argument aber zweifellos weiterentwickelt und es in seiner gründlichen Arbeit entscheidend gestärkt.

18Vgl. Himmelfarb, Martha: Judaism and Hellenism in 2 Maccabees, in: Poetics Today 19 (1998), S. 196. Meines Erachtens versteht Himmelfarb diesen Sachverhalt genau verkehrt. Von Ioudaismos als gegeben ausgehend und es als „Judentum“ übersetzend geht sie davon aus, dass Hellenismos hier „Hellenismus“ und nicht „Hellenisieren“ bedeuten muss. Vgl. auch ihre meinen Thesen diametral entgegenlaufende Bemerkung, dass „‚Die Gesetze‘ (hoi nomoi), oder weniger häufig, ‚Das Gesetz‘ (ho nomos), im 2. Buch der Makkabäer als Bezeichnung für die jüdische Lebensart ist, die anderswo als Ioudaismos bezeichnet wird und den Gegensatz zu ‚Hellenismos‘ bildet“. (ebd., S. 196). Vgl. nachfolgend die Argumente bei Josephus, die u. a. gegen diese Interpretation sprechen.

19Dover, Kenneth James: Aristophanic Comedy, Berkeley 1972, S. 214.

20Schwartz, Daniel R.: 2 Maccabees: Commentaries on Early Jewish Literature, Berlin; New York 2008, S. 465.

21Schwartz, Seth: How Many Judaisms Were There? A Critique of Neusner and Smith on Definition and Mason and Boyarin on Categorization, in: Journal of Ancient Judaism 2/2 (2011), S. 225.

22Ebd., 226.

23Vgl. „In der immer noch lebendigen Erinnerung der Griechen von den Perserkriegen des 6. und 5. Jahrhunderts v. u. Z. werden jene, die sich von den Griechen abwandten und mit ihren Feinden kollaborierten, ‚Medisierer‘ genannt, […] die implizierten Antonyme von ‚Medisierer‘ und ‚Medismus‘ wären ‚Hellenisierer‘ und ‚Hellenismus‘, was ‚der griechischen Sache loyal sein‘ bedeuten würde.“ Goldstein: Maccabees, S. 230, Fn 13. Ich erkenne bei Ioudaismos genau denselben Ursprung und dieselbe Semantik.

24Mason: Jews, Judaeans, Judaizing, Judaism, S. 467.

252. Buch der Makkabäer 2:21, Bibelübersetzung von Hermann Menge http://www.bibelwissenschaft.de/online-bibeln/menge-bibel/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/46/20001/29999/ch/bc17a5c06f734ff3a1b95350290ff329/, letzter Zugriff: 10. 01. 2017.

26Goldstein stellt enthusiastisch fest: „Unser Vers enthält die früheste bekannte Erwähnung des griechischen Wortes Ioudaismos (‚Judentum‘). Der Autor benutzte vermutlich absichtlich ein Wort mit dieser Form im Sinne von ‚barbarisch‘, da er damit seinem gebildeten griechischen Publikum die Analogie zum Kampf der loyalen Hellenen gegen die ‚barbarischen‘ Perser und gegen den ‚Medismus‘ der griechischen Kollaborateure mit dem Perserreich nahelegen wollte.“ Goldstein: Maccabees, S. 192, Fn 21.

27Mason: Jews, Judaeans, Judaizing, Judaism, S. 463.

28Ebd., S. 464.

29Ebd., S. 469.

30Ebd., S. 468.

31MacRea, Duncan: Diligentissumus Investigator Antiquitatis? „Antiquarianism“ and Historical Evidence between Republican Rome and the Early Modern Republic of Letters, in: Smith, Christopher; Sandberg, Kaj (Hg.): Historical Evidence and Historiography in Republican Rome, im Erscheinen.

32Lowe, Malcolm: Concepts and Words, in: Marginalia. The Los Angeles Review of Books (August 2014).

33Goldstein: Maccabees, S. 302.

34Amir: On the self-understanding of Hellenistic Judaism, S. 266.

35Der Jüdische Krieg 2,119–166; Altertümer 13,171–173; 18,12–25; Autobiographie 10–12.

36Dieses Argument wurde bereits vorgebracht, wenn auch etwas weniger pointiert. Siehe Flavius, Josephus: Judean War 2. Translation and Commentary by Steve Mason with Honora Chapman [De Bello Judaico. Liber 2.], Josephus Flavius: Works, 2000 1B, Leiden 2008, S. 96, Fn 734.

37Himmelfarb: Judaism and Hellenism in 2 Maccabees, S. 201.

38Josephus, Against Apion, hg. von Steve Mason, ins Englische übersetzt und kommentiert von John Barclay, Leiden 2007, S. 262, Fn. 638.

39„Josephus fasst frühe Staats- und Rechtstheorie mit sozioreligiösen jüdischen Werten zu einem theokratischen Konzept als Alternative zu klassischen Staatsmodellen zusammen. Die Instabilität und tyrannische Tendenzen königlicher Herrschaft kritisierend legt Josephus dar, dass ein politisches System nur dann von Dauer sein kann, wenn es auf den Grundlagen des Gesetzes ruht. Indem es die Rolle der Menschen reduziert und sich an ihrer Stelle auf sakrale Gesetze stützt, bietet die Theokratie ein solches System. Ungeachtet der Verzerrungen, die dieser Begriff im Laufe der Zeit erfuhr, oder dessen späterer Transformation, repräsentiert die Theokratie für Josephus ein konstitutionelles Vorhaben, das sorgfältig darauf ausgelegt wurde, Freiheit und Recht zu erreichen.“ Vgl. Flatto, David C.: Theocracy and the Rule of Law: A Novel Josephan Doctrine and Its Modern Misconceptions, in: Dine Yisrael 28 (2011), S. 7. Zum Gedanken, dass theokratia heute das Gegenteil von dem bedeutet, was Josephus mit diesem Begriff vorschwebte, siehe ebd., S. 5.

40Josephus: 267, Anm. 677, zitiert in: Altertümer 2,28.

41Siehe zu dieser Verwendung Josephus Flavius: De Bello Judaico. Der jüdische Krieg, Bd. I u. II. Herausgegeben und mit einer Einleitung sowie mit Anmerkungen versehen von Otto Michel und Otto Bauernfeind, Darmstadt 2013, S. 116: „Nächst Gott ist bei ihnen der Name des Gesetzgebers der Gegenstand der größten Verehrung.“

42Amir: On the self-understanding of Hellenistic Judaism, S. 264.

43Vgl. die Diskussion zur Datierung bei Hengel, Martin: Die Synagogeninschrift von Stobi, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 57/3 (1966), S. 147–159.

44Ebd., S. 146.

45Ebd., S. 178.

46Siehe Hengels gesamte aufschlussreiche und wichtige Diskussion dieses Aspekts: ebd., S. 179 ff.

47Das ist zweifellos auch der Grund, weshalb er die Inschriften ignoriert.

Die rabbinische Literatur

Elisa Klapheck

Schriftliche und mündliche Tora

Die Rabbanan lehrten: Einst trat ein Nichtjude vor Schammai und sprach zu ihm: wie viele Torot [Plural von Tora] habt ihr? Dieser erwiderte: Zwei; eine schriftliche und eine mündliche. Da sprach jener: Die schriftliche glaube ich dir, die mündliche glaube ich dir nicht; mache mich zum Proselyten, unter der Bedingung, dass du mich nur die schriftliche Tora lehrst. Dieser schrie ihn an und entfernte ihn mit einem Verweise. Darauf trat er vor Hillel und dieser machte ihn zum Proselyten. Am ersten Tage lehrte er ihn Alef, Bet, Gimel, Dalet, am folgenden Tage aber lehrte er ihn umgekehrt. Das sprach jener: Gestern hast du mich ja anders gelehrt! Dieser erwiderte: Wenn du dich auf mich verlassest, so verlasse dich auch auf mich bezüglich der mündlichen Tora (siehe auch den Beitrag von Stefan Schreiner, S. 147).1

Nach der rabbinischen Vorstellung gab es von Anfang an eine „schriftliche“ und eine „mündliche“ Tora.2 Die fünf Bücher Mose in der Bibel, d. h. die „Tora“, aus der Juden am Schabbat in der Synagoge lesen, bzw. der Pentateuch, ist nach dieser Vorstellung die „schriftliche Tora“ (tora schebichtav). Ihr zur Seite gestellt ist jedoch noch eine zusätzliche, eine „zweite Tora“ – die „mündliche Tora“ (tora scheba’al peh). Letztere ist die Mischna. Das Wort Mischna bildet sich aus dem Verbstamm sch–n–h für „wiederholen“, aber auch „verändern“.3 Das allein lässt schon die große Spannung zwischen der schriftlichen und der mündlichen Tora erahnen. Die mündliche Tora wiederholt die schriftliche Tora und verändert sie zugleich.

 

Die schriftliche Tora wurde wahrscheinlich in der Zeit um Esra im 5. Jahrhundert v. u. Z. kanonisiert. Sie enthält die Bücher: 1. Genesis/Bereschit; 2. Exodus/Schemot; 3. Levitikus/Wajikra; 4. Numeri/Bemidbar und 5. Deuteronomium/Dewarim. Diese erzählen die Geschichte des Volkes Israel, beginnend mit der göttlichen Erschaffung der Welt, den Erzählungen über die ersten Generationen Adam, Noah bis hin zu Abraham, die Herausbildung der Kinder Israel, ihren Exodus aus Ägypten und die Gabe der Tora am Sinai, die Zehn Gebote sowie weitere Gesetze, etwa im Priesterkodex und im Heiligkeitskodex, außerdem Bestimmungen über das soziale Zusammenleben und den Umgang mit dem Land, ferner Geschichten während der 40-jährigen Wüstenwanderung und schließlich Moses große Reden an das Volk, bevor er selbst sterben sollte und das Volk in das von Gott versprochene Land ziehen würde.

Die „mündliche Tora“, d. h. die Mischna, wurde im 2. Jahrhundert u. Z. unter der Redaktion des in Palästina lebenden rabbinischen Oberhauptes Jehuda ha-Nasi (ca. 165–217) kodifiziert. Gegenüber den fünf Büchern Mose besteht sie aus sechs Ordnungen. Diese erzählen jedoch keine Geschichten, sondern enthalten Gesetzessammlungen für das Leben im heiligen Land. Die Ordnungen sind nach sechs Oberthemen strukturiert: 1. Landwirtschaft (Sera’im/„Saaten“); 2. Feste (Mo’ed/„Feiertag“); 3. Eheleben (Naschim/„Frauen“); 4. Gesellschafts- und Arbeitsrecht (Nesikin/„Schäden“); 5. Heiligtum (Kodaschim/„heilige Dinge“); 6. Rituelle Reinheit (Taharot/„Reinigungen“).4 Jede dieser Ordnungen enthält mehrere Traktate zu Unterthemen, etwa die Ordnung Seraim („Saaten“) über den Umgang mit dem Land, das Stehenlassen der Ecken, die Abgaben der Zehnten, das Beschneiden der Bäume usw.; oder die Ordnung Mo’ed mit Traktaten, die detaillierte Bestimmungen zu den einzelnen jüdischen Festen enthalten; oder die Ordnung Naschim mit Traktaten über Ehegesetze, Scheidungen, Umgang mit Ehebruch usw. Im Unterschied zur Tora ist hier jedoch nicht von „Gesetzen und Satzungen“ (chukim u-mischpatim) die Rede, sondern von der Halacha, dem rabbinischen Begriff für das jüdische Recht (siehe hierzu auch den Beitrag von Walter Homolka, S. 227).

Nur zu einem kleinen Teil decken sich die Gesetzessammlungen der Mischna mit den Gesetzen der schriftlichen Tora. In einem viel größeren Maß erweitern sie diese, erneuern sie und beziehen ganz neue Rechtsgebiete in den jüdischen Gesetzesradius ein. Anders als die Gesetze in der schriftlichen Tora sind die Bestimmungen in der Mischna nach dem rabbinischen Verständnis nicht unbedingt von Gott geoffenbart, sondern von den Rabbinen selbst formuliert und in Ansätzen auch schon in dem für den Talmud typischen, diskursiven Stil verfasst. So beginnt das erste Traktat in der Mischna, das Traktat Schabbat, mit einer Frage und mehreren möglichen Antworten:

Von wann an liest man das Schema [‚Höre Israel‘] am Abend? – von der Stunde an, da die Priester [in das Heiligtum] eintreten, von ihrer Hebe zu essen, bis zum Schluss der ersten Nachtwache – so R. Elieser. Die Weisen sagen, bis Mitternacht; R. Gamliel sagt, bis die Morgenröte aufsteigt.5

Der Talmud-Wissenschaftler Jacob Neusner bezeichnet die Beziehung zwischen der schriftlichen und der mündlichen Tora als das System der „dualen Tora“.6 Es entsteht aus einer Doppelspur, die die gesamte rabbinische Literatur durchzieht. Sie hat ein gigantisches Gebiet hervorgebracht, das auf einigen wenigen Seiten darzulegen kaum möglich ist und deshalb im Folgenden nur in groben Zügen skizziert werden kann.7

Den Autoren der rabbinischen Literatur war es wichtig, die Doppelspur von schriftlicher und mündlicher Tora bis auf die Offenbarung am Sinai zurückzuführen. Hierzu findet sich ein aufschlussreiches Kapitel mit dem Titel Pirke Avot/„Sprüche der Väter“ in der Mischna.8 Es liest sich wie ein Who is Who der Gründerväter des rabbinischen Judentums. Nacheinander zählt es die wichtigen Protagonisten auf und zitiert sie mit ihnen zugeschriebenen ethischen Aussagen. Gleich im ersten Satz wird deutlich, dass sich die Autoren des rabbinischen Schrifttums in direkter geistiger Nachfolge von Moses verstehen.

Moses empfing die Tora am Sinai und überlieferte sie dem Josua, Josua den Ältesten, die Ältesten den Propheten und die Propheten überlieferten sie den Männern der Großen Versammlung. Diese sagten drei Dinge: Seid überlegt bei euren gerichtlichen Entscheidungen; stellt viele Schüler auf; macht einen Zaun um die Tora.9

Die „drei Dinge“ – als Richter nach den Gesetzen der Tora zu entscheiden, als Lehrer viele Schüler zu unterweisen und als Mitglieder dieser geistigen Elite die Definitionsmacht (= „Zaun“) über die Tora auszuüben – drückt die rabbinische Selbstermächtigung aus. Der Passus lässt die einstige Kontroverse erahnen. Es geht um die Legitimation der Rabbinen, die Tora zu „empfangen“, sie nach ihrem Verständnis zu interpretieren und der nächsten Generation weiterzugeben. Gemeint ist danach jedoch nicht nur die schriftliche, sondern gerade auch die mündliche Tora.

Dass sich die rabbinische Vorstellung, nach der beide Versionen der Tora zusammen am Sinai gegeben wurden, nicht ohne Weiteres durchsetzte, wie die oben angeführte talmudische Anekdote erkennen lässt, liegt auf der Hand. Die Vorstellung von der Gleichzeitigkeit einer schriftlichen und einer mündlichen Tora war unter den Juden in der Antike lange umstritten. Denn die Herausbildung einer zusätzlichen „mündlichen“ Tora verknüpfte sich auch mit einer neuen religiösen Praxis: Text- und Gesetzesstudium in Lehrhäusern (Beit Midrasch), Gottesdiensten in Versammlungshäusern (Beit Knesset, Synagoge) sowie einer Rechtspraxis in rabbinischen Gerichtshäusern (Beit Din), die die Gerichtsbarkeit der Priester und des Tempels verdrängte. Demgegenüber hielten die „konservativen“ Sadduzäer am Privileg der Priester und dem althergebrachten Tempelsystem fest. Sie bekämpften die Pharisäer, die in Pirke Avot als die Vorläufer der Rabbinen aufgeführt werden. Mit dem verlorenen Krieg gegen das Römische Reich und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 setzte sich jedoch das rabbinische Judentum mit seinem besonderen Tora-Verständnis endgültig durch.

Der Paradigmenwechsel: Esra – Schriftgelehrter und Exeget

So wie die schriftliche Tora für Juden noch nicht die ganze Tora darstellt, ist es ebenso unverzeihlich zu meinen, das sogenannte Alte Testament sei schon das Judentum. Die Bibel hat für Juden immer die unsichtbare Gefährtin der rabbinischen Literatur. Erst in der Verbindung mit der rabbinischen Literatur, erst im Lichte ihrer Interpretation, erhält die Bibel ihre Bedeutung für die jüdische Tradition. Streng genommen müsste man jedoch im Plural sprechen. Hinter der Gefährtin der Bibel stehen tausende von Rabbinen, deren Stimmen quer durch die Generationen im rabbinischen Schrifttum vereinigt sind. Wo aber nahm diese Doppelspur von Bibel und rabbinischer Literatur ihren historischen Anfang?

Die rabbinische Darstellung der eigenen Ursprünge zieht, wie oben angeführt, eine Linie zurück bis zu Moses. Demgegenüber würde die historisch-kritische Methode der Bibelwissenschaft den Beginn der Doppelspur in die Zeit von Esra im 5. Jahrhundert v. u. Z. legen, als die exilierten Juden aus der babylonischen bzw. persischen Gefangenschaft zurückkehrten. Einige von ihnen hatten noch die Zerstörung des Ersten Tempels in Jerusalem erlebt. Erstaunlicherweise bedeutete der Verlust des einstigen zentralen Heiligtums, immerhin das Haus Gottes, in dem die regelmäßige kultische Begegnung des Volkes Israel mit seinem Gott praktiziert worden war, nicht das Ende dieser Begegnung. Der Talmud beschreibt die fortgesetzte Beziehung als die „Einwohnung“ Gottes, die Schechina,10 die stets mit den Israeliten ins Exil gezogen sei.11 Im Exil aber verlagerte sich der Ort der Begegnung vom einstigen Zentrum, dem Tempel in Jerusalem, in den heiligen Text. Die Begegnung sollte nunmehr stattfinden als der Umgang mit einer Tora, die Juden überall hin mitnehmen konnten und durch die sie miteinander verbunden blieben. Diese Politik des heiligen Textes, die sie aus dem babylonischen Exil zurückbrachten, sollte in den späteren Jahrhunderten das Überleben des jüdischen Volkes in der Diaspora möglich machen (siehe hierzu auch den Beitrag von Liliana Feierstein, S. 99).

Die beiden biblischen Bücher Esra und Nehemia bezeugen einen Paradigmenwechsel, der in seiner Tragweite kaum zu überschätzen ist. Schon Esras Titulierung verwies in die neue Epoche. Zwar wird er in der Bibel zunächst als kohen harosch/„Hauptpriester“ eingeführt, was ihn als Vertreter des alten Systems, des priesterlichen Tempelkultes zu bestätigen scheint.12 Doch sein persönlicher Titel im Buch Esra ist ein anderer: Nicht kohen, sondern sofer – „Schreiber“ oder „Schriftgelehrter“. „Dieser Esra war heraufgezogen von Babel, er war ein kundiger Schriftgelehrter (sofer) der ‚Tora von Moses‘, die der Ewige, der Gott Israels gegeben.“13 Im Folgenden changieren Esras Titel: „Und das ist die Abschrift des Briefes, den der König Artachschascht gegeben Esra, dem Priester (ha-kohen), dem Schriftgelehrten (ha-sofer), Schreiber (sofer) der Worte der Gebote Gottes und seiner Satzungen für Israel.“14

Die „Tora von Moses“, die Esra dem biblischen Bericht zufolge nach Jerusalem mitgebracht hatte, könnte im Großen und Ganzen dem Text der Tora entsprochen haben, der heute in den Synagogen gelesen wird. Vermutlich war er unter Esras Redaktion oder in seinem Umfeld zusammengestellt worden. Sicherlich spiegelte sich aber in seiner Zusammenstellung Esras Auffassung von dem wider, was er als heiliger Text fortan geistig und politisch für die jüdische Gemeinschaft leisten sollte.15 Mit Hilfe eines gemeinsamen Dokuments sollten die vormals konfligierenden Traditionen auf ewig vereinigt und auf diese Weise die einstigen Gräben zwischen dem Nordreich Israel und dem Südreich Judäa mit ihren verschiedenen Priestergruppen überwunden sein. Der zusammengewirkte Text der Tora enthielt dadurch jedoch zahlreiche unterschiedliche Akzente, wenn nicht Widersprüche, bis hin zu konträren Weltanschauungen. Das machte ihn für alle Zukunft erklärungsbedürftig. Vielleicht war es von Esra so gewollt. In jedem Fall manifestierte sich in der inneren Spannung der Tora ein neues Paradigma: Die religiöse Tradition ließ sich nicht mehr nur als Befolgung der Gebote verwirklichen, sondern verlangte zunächst vor allem eine Auslegung ihres Textes.

Seit dem 18. Jahrhundert hat die historisch-kritische Bibelanalyse mindestens fünf miteinander verwobene Texttraditionen in der Tora unterscheiden können: Die elohistische Tradition (E) und die Tradition des Tetragramms JHWH (J) sowie eine zusätzliche Tradition, die beide Gottesbezeichnungen als JHWH Elohim (JE) kombiniert, ferner die Priesterschrift (P), die die gesamte Schöpfung durch die Strukturzahl Sieben erklärt, sowie eine deuteronomistische Tradition (D), die auf ein zentralisiertes System mit dem Tempel in Jerusalem als Mittelpunkt abzielt.16 Für sich genommen und gegeneinander gelesen offenbaren die fünf Texttraditionen große inhaltliche Unterschiede. Fast unvereinbar erscheinen vor allem die Bücher Levitikus und Deuteronomium.17 Im Buch Deuteronomium spiegelt sich ein „deuteronomistischer“ Kanon innerhalb der Bibel. Dieser reflektiert die Transformation der israelitischen Stämme zu einem Königeich und besteht neben Deuteronomium aus den historischen Büchern Josua, Richter, Samuel (I. u. II) sowie Könige (I. u. II.). Eines der treibenden Anliegen des deuteronomistischen Kanons ist die Frage nach dem Status des Königs unter den Bedingungen einer Weltanschauung, nach der allein Gott König über sein Volk ist.18 Demgegenüber kommt die Institution eines Königs in Levitikus nicht vor, was sich sowohl in einer oppositionellen Spannung zu Deuteronomium lesen lässt, als auch die nachexilische Situation widerspiegeln könnte, in der Juden zwar nach Jerusalem zurückgekehrt waren und ihren Tempelkult ausüben durften, jedoch keine politische Souveränität besaßen. Einen anderen politischen Akzent setzt wiederum das vierte Buch/Numeri als Schauplatz von Konflikten zwischen verschiedenen levitischen Eliten. Sie werden in mythischen Erzählungen verarbeitet, die während der 40-jährigen Wüstenwanderung stattgefunden haben sollen, aber durchaus an das Ringen um die religiöse Vormachtstellung in der Zeit der Königreiche erinnern – etwa der Bericht über den Aufstand der „Rotte Korach“ zusammen mit den Familien von Datan und Abiran,19 oder aber die Kritik von Aaron, dem Hohepriester, und seiner Schwester, der Prophetin Miriam, gegen die Alleinstellung ihres Bruders Moses als Vermittler des göttlichen Wortes.20 Fraglich ist auch der historische Horizont der Bücher Genesis und Exodus. Ebenso wie die anderen Bücher bezeugen sie kulturelle Berührungen mit den Gesellschaften Babyloniens und Persiens aus einer nachexilischen Perspektive, obwohl sie Dinge erzählen, die lange vor dieser Zeit stattgefunden haben sollen.

 

Der vermutete Text jener „Tora von Moses“, die Esra nach Jerusalem mitgebracht hat, – sollte er im Großen und Ganzen dem bis in die heutige Zeit überlieferten Text entsprechen – wurde jedoch nicht erst für die moderne kritische Bibelwissenschaft erklärungsbedürftig.21 Bereits die Formulierungen in den Büchern Esra und Nehemia zeigen, dass die erneute Annahme der Tora inhaltliche Erklärungen, ja ein tieferes Verständnis des Textes erforderte. Nicht der heilige Text für sich, sondern erst in der Verbindung mit einer Auslegung gab ihm seine konstitutive Wirkung. Das hebräische Wort für „Auslegung“ oder „Interpretation“ leitet sich vom Verbstamm d–r–sch ab. An bezeichnender Stelle taucht es bei der Charakterisierung Esras auf: „Denn Esra hatte sein Herz darauf gerichtet, die Tora des Ewigen auszulegen – und herzustellen und zu lehren in Israel Gesetze und Recht.“22

Vielleicht wird mit dem hier auftretenden Verb lidrosch von d–r–sch auch die Ahnung ausgedrückt, dass die redaktionelle Zusammenstellung der Tora bereits Esras Interpretation der Tora darstellte.

Da versammelte sich das ganze Volk wie ein Mann auf dem Platze vor dem Wassertore, und sie sprachen zu Esra, dem sofer, dass er herbeibringe das Buch der Tora von Moses, die der Ewige Israel geboten. Und Esra, der Priester, brachte herbei die Tora vor die Versammlung, Mann und Frau und jeglichen, und erläuterte alles, dass man es verstehe, am ersten Tag des siebenten Monats, und las darin auf dem Platze vor dem Wassertore, vom lichten Morgen bis zum Mittage, vor den Männern und den Frauen und den Lehrern; und die Ohren des ganzen Volkes waren gerichtet auf das Buch der Tora.23

Im Weiteren bekommen die Leviten, d. h. die ehemaligen Tempeldiener, die nunmehr neue Aufgabe, das Buch zusammen mit der Bevölkerung zu lesen, zu verstehen24 – und es auf den tieferen Sinn hin auszulegen.25 „Und sie lasen in dem Buche, in der Tora Gottes, mit Auslegung des tieferen Sinns (meforasch), so dass sie das Gelesene verstanden.“26

Das Volk schloss daraufhin einen neuen Bund auf die Tora. Im Unterschied zum Bund, den Gott im Buch Exodus/Schemot mit dem Volk Israel geschlossen hatte,27 ist es hier jedoch das Volk, dass die Initiative dazu nimmt: „Und bei all dem wollen wir einen festen Bund schließen und aufschreiben.“28

Anders als bei der im Buch Exodus/Schemot beschriebenen Offenbarung am Sinai, bei der das Volk Moses beauftragt, die Tora in Empfang zu nehmen, und den darin enthaltenen Bestimmungen gehorchen will – erfolgt die Annahme der Tora hier aufgrund von Unterweisung und Auslegung. Die Doppelspur von Text und Auslegung beginnt, ihren Lauf zu nehmen.

Der Tanach und seine Midraschim

Im Grunde genommen ist aber schon der Tanach ein exegetischer Kommentar zur Tora. TaNaKh ist die jüdische Bezeichnung für die Bibel bzw. das Alte Testament. Der Begriff ist ein Akronym der Anfangsbuchstaben Tora, Newi’im (= Propheten) und Khetuvim (= Hagiographen). Heute wird auch von „Hebräischer Bibel“ oder „Jüdischer Bibel“ gesprochen, die, abgesehen von leichten Abweichungen, vor allem in der Reihenfolge, dieselbe ist, die Christen lesen – freilich ohne das Neue Testament.

Der erste Teil, die „Tora“, sind die fünf Bücher Mose. Mit dem zweiten Teil, den „Propheten“/Newi’im ist ein historisches Zeitalter gemeint, in dem prophetisch begabte Menschen vom monotheistischen Standpunkt her die politischen Geschicke Israels begleiteten. Der gesamte deuteronomistische Kanon gehört zu diesem Teil, zusammen mit den drei großen Prophetenbüchern Jesaja, Jeremia und Ezechiel sowie den Schriften der zwölf kleinen Propheten. Eine differenzierte Lektüre all dieser Bücher führt in einen vielstimmigen Kommentar zur Tora. Die Propheten vertreten dabei sehr unterschiedliche Ansichten. Jesajas Prophetie etwa richtet sich kritisch gegen den Opferkult im Tempel29 und hebt die sozialen Gebote, die Befreiung von Unterdrückung und die Unterstützung der Armen, als die eigentlichen Aussagen der Tora hervor.30 Demgegenüber entwirft Ezechiel die Vision eines wiederaufgebauten Tempels mit der rituellen Wiedereinsetzung der Leviten und detaillierten Kultbestimmungen.31 Aber auch die Hagiographen/Khetuvim stehen in einem nach Deutungen rufendem Spannungsverhältnis zur Tora. Sie enthalten neben der Weisheitsliteratur – den Psalmen und Sprüchen sowie dem Buch Hiob – vor allem die fünf Megillot, die fünf „Rollen“. Über diese wurde im späteren rabbinischen Zeitalter gestritten, ob sie überhaupt in die Bibel gehören.32 Die bekannteste Rolle ist die Megillat Esther, das Buch Esther, das deshalb umstritten war, weil Gott darin nicht vorkommt. Auch das pessimistische Weltbild im Buch Prediger/Kohelet sowie die Erotik des Hoheliedes/Schir Haschirim erschienen manchen Rabbinen zweifelhaft. Trotzdem wurden sie in den biblischen Kanon aufgenommen. Zusammen mit den anderen Megillot, den Büchern Rut und den Klagelieder Jeremias/Echa werden sie über das Jahr an den jüdischen Festen Purim, Chanukka, Pessach, Schawuot und Tischa b’Aw gelesen und stehen somit in einem kontrapunktischen Verhältnis zu den Fünf Büchern Moses, aus denen jeden Schabbat in der Synagoge vorgetragen wird. Als Bestandteile eines vielfältigen heiligen Kanons erzeugen sie eine innere Spannung gegeneinander, die sich nur durch Auslegung vereinbaren lässt.

Verschiedene jüdische Gruppierungen – die Sofrim (Schriftgelehrten), die Peruschim (Pharisäer, auch Niwdalim genannt) oder die Anhänger der Qumran-Sekte – entwickelten in den auf Esra folgenden Epochen einen jeweils unterschiedlichen exegetischen Umgang mit der Tora.33 Sie ebneten zugleich die Herausbildung des rabbinischen Schriftverständnisses, das sich allein in der Dialektik des Textes und seiner Auslegung erschließt. Auf dieser Doppelspur schufen die Rabbinen in der späten Antike ein neues Genre – die Midraschim. Es ist das schier unendliche Feld rabbinischer Auslegungen.

Die Midrasch-Literatur enthält eine sowohl aggadische (erzählerische) als auch halachische (religionsgesetzliche) Dimension. Im 2. Jahrhundert erschien die wohl älteste rabbinische Midraschsammlung, die Rabbi Jischmael zugeschriebene Mechilta, ein Kommentar zum 1. Buch Mose.34 Es folgten bis zum 5. Jahrhundert umfangreiche Midrasch-Sammlungen unter dem Titel Raba zu jedem Buch der Tora sowie zu den Megillot, den Psalmen und Sprüchen.35 Eine prägnante Auswahl der damaligen homiletischen Midraschim schuf der Tanchuma im 8. Jahrhundert.36 Parallel erschienen die halachischen Midraschim Sifra/Sifre.37

Der bereits erwähnte Verbstamm für „auslegen“ – d–r–sch – bildet auch den Begriff Midrasch (Singular für Midraschim). Midraschim überbrücken Brüche im Text, heben Widersprüche im Wege von Deutungen auf, überwinden Unklarheiten für die Praxis und erkennen unvermutete neue Themen in den einzelnen biblischen Versen. Ihre literarische Besonderheit liegt darin, gerade nicht zu einer einzig gültigen Interpretation gelangen zu wollen, sondern möglichst viele Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Indem die Rabbinen in den Midraschim jeden Vers, ja jedes Wort der Tora nicht nur im Kontext der ganzen Textpassage lasen, sondern für sich nahmen, schufen sie ganz neue Kontexte. Dies führte zu einem neuen Tora-Bewusstsein. Ein Beispiel hierfür ist die rabbinische Deutung der zwei Gottesbezeichnungen Elohim und JHWH. Die Rabbinen entwickelten aus den beiden Begriffen die Lehre von den „zwei Maßen“. Die jeweilige Gottesbezeichnung bedeutete für sie jeweils ein göttliches Attribut. Elohim stehe für midat hadin/„Maß des Gesetzes“; JHWH stehe für midat harachamim/„Maß der Barmherzigkeit“. Wo immer von Elohim die Rede sei, wirke das „gesetzgebende“ Attribut Gottes; bei JHWH gestalte sein „barmherziges“ Attribut den Verlauf.