Handbuch Jüdische Studien

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Als ich jedoch sah, dass sie nicht den rechten Weg in Übereinstimmung mit der Wahrheit der Heilsbotschaft wandelten, sagte ich zu Kephas offen im Beisein aller: ‚Wenn du, der du doch ein Jude bist [Ioudaios], nach heidnischer [ethnikos] und nicht nach jüdischer Weise [Ioudaikos] lebst, wie kannst du da die Heiden zwingen wollen, die jüdischen Bräuche (= Lebensform) zu beobachten [zu judaisieren]’?

Hier ist also klar gemeint: Es soll nach judäischen und nicht nach heidnischen Bräuchen gelebt werden. Ioudaismos, das von diesem Verb abgeleitete Nomen Judaisieren bedeutet dann entsprechend: nach judäischen/jüdischen Bräuchen zu leben und nicht Mitglied einer Institution zu sein, die „Judentum“ genannt wird.

Ein weiterer Grund, dass Ioudaismus bei Paulus nicht eine jüdische Religion bezeichnen konnte, ist folgender: Paulus betrachtete sich zeit seines Lebens als Jude. Wenn also mit Ioudaismos die Gesamtheit des judäischen Brauchtums und des judäischen Glaubens oder die jüdische Religion gemeint wäre, würde sich Paulus in diesem Vers selbst davon ausschließen. Wenn aber Paulus davon ausgeschlossen wäre, könnte Ioudaismos schlicht nicht als die vermeintliche jüdische Religion oder selbst als Bezeichnung für die Gesamtheit der Verrichtungen der Juden interpretiert werden. In seinen Schriften muss damit also die (von ihm abgelehnte) Befolgung der Gebote der Bibel gemeint sein. Ioudaismos, das „Judäisieren“ scheint also bei all diesen Erwähnungen zu bedeuten: sich (mit Eifer) der Praxis (der Traditionen der Vorväter) der Judäer hingeben. Jede andere Interpretation (wovon einige nur im jeweiligen Kontext möglich sind) würde heißen, die spätere Bedeutung von -ismus-Begriffen, wie etwa die Bezeichnung von Institutionen, zu adoptieren und sie anachronistisch auf Ioudaismos anzuwenden.

Kein Wort – kein Konzept

Mason schlussfolgert damit richtig:

Die Tatsache, dass die fünf Erwähnungen von Iουδαϊσμός in den jüdisch-judäischen Schriften weitgehend auf einen einzigen kreativen Autor zurückgehen, entweder Jason von Kyrene oder der Verfasser seiner Epitome, die das Wort als ironisches Gegenstück zu Eλληνισμός prägten, sollte uns davor warnen, das Wort so zu verwenden, als ob es sich um eine generelle Bezeichnung der gesamten Kultur, des gesamten Rechtssystems und der „Religion“ der Judäer handelte. Abgesehen vom Kontext der Bedrängnis durch die Hellenisierer und späterer christlicher Kreise, sahen antike Autoren keinen Anlass für dessen Verwendung, teilweise offenbar wegen des abschätzigen Nachklanges der Medismos-Familie, der Iουδαϊσμός auch angehaftet hätte, wenn es nicht im Kontrast zum klar negativ belegten Eλληνισμός benutzt worden wäre.30

Das überzeugendste von Masons Argumenten scheint das Argument der Seltenheit zu sein. Gäbe es eine verbreitete Bezeichnung für die Gesamtheit der judäischen „Verhaltensweisen, die der Tatsache geschuldet sind, dass jemand jüdisch ist und dass diese Verhaltensweisen einen Wert darstellen, für den es sich zu kämpfen und sogar zu sterben lohnt“, dann ist nicht einzusehen, weshalb es nur in so wenigen und so speziellen Kontexten wie im 2. Buch der Makkabäer und in sehr wenigen und sehr spezifischen anderen Kontexten zu finden ist.

Dieses gewichtige Argument der Nichterwähnung kann gewissermaßen noch positiv verstärkt werden. Der Historiker Duncan MacRea, der sich mit römischer Geschichte befasst, untersucht ein ähnliches (oder zumindest analoges) Problem der römischen Historiographie, nämlich die angebliche Tradition des Antiquarianismus, die einigen römisch-republikanischen Schriftstellern – besonders Varro – im Widerspruch zur antiken Historiographie zugeschrieben wird. Nachdem er gezeigt hat, dass es im antiken Latein keinen Terminus für Antiquarianismus gibt und dass ein solcher Begriff erst im 15. Jahrhundert bei frühen modernen Gelehrten auftaucht, bemerkt MacRea: „[…] doch die These, dass es keinen römischen Antiquarianismus gab, ist nicht nur nominalistischer Art, nämlich dass die Römer kein Wort dafür hatten. Hier soll vielmehr dargelegt werden, dass sie auch kein Konzept dieser Art hatten.“31 Eine nähere Betrachtung von MacReas deutlicher Behauptung wird uns helfen, die These dieses Abschnitts zu verdeutlichen.

Zunächst sei darauf hingewiesen, dass MacRea den Begriff „nominalistisch“ hier sehr weit fasst, wenn nicht gar metaphorisch verwendet. Man muss kein Nominalist sein und behaupten, dass sämtliche Kategorien nur dann existieren, wenn sie auch entsprechend benannt sind (z. B. „Hunde“, „Bäume“), um darzulegen, dass es für die Welt des Menschen, die Welt der menschlichen Klassifikationen menschlicher Dinge schwer vorstellbar ist, wie ein Konzept ohne Bezeichnung existieren kann. Genau das möchte ich im nächsten und letzten Abschnitt darlegen. Im vorliegenden Abschnitt soll aber, gestützt auf MacReas zweites Argument, erläutert werden, dass das Konzept „Religion“, und damit des „Judentums“, auch bei den griechischjüdischen Autoren nicht existierte.

Bevor ich weiterfahre, möchte ich mich kurz mit einem Irrtum und einer falschen Fährte in diesem Zusammenhang beschäftigen. Der Philosoph Malcolm Lowe behauptet, dass, trotz des Fehlens des Begriffs „Religion“ im Judäisch-Griechischen, das Konzept dennoch existiert:

Hier liegt das größte Problem von Masons Ansatz. Der zweite Abschnitt seines Aufsatzes von 2007 trägt den Titel „Auf der Suche nach Religion in der Antike [Searching for Ancient Religion] und ist der These gewidmet, dass ‚das Konzept der Religion, das unserer Perspektive und unserer Geschichtsforschung zugrunde liegt, keine taxonomische Entsprechung in der Antike aufweist‘. Ja, es gibt kein Wort dafür in der Antike. Doch Mason übersieht eine ebensolche taxonomische Entsprechung in seinem Zitat aus Josephus’ Gegen Apion auf derselben Seite. Die Formulierung, die Josephus benutzt ist: tois oikeiois nomois peri eusebeian. Eine ähnliche Terminologie ist bei antiken Autoren sehr verbreitet; anstelle von oikeios mag ein anderes Adjektiv stehen (und manchmal steht nomina statt nomoi). Solche Sätze können als ‚die althergebrachten Frömmigkeitsregeln‘ übersetzt werden, wobei ‚Frömmigkeit‘ das ‚Verhältnis der Menschen zu den Göttern‘ bedeutet, ‚Regeln‘ kann durch ‚Bräuche‘ und ‚althergebracht‘ durch eines von mehreren anderen Adjektiven ersetzt werden, das eine Volkszugehörigkeit bezeichnet. Die Apologie des Sokrates in den ersten Kapiteln von Xenophons Memorabilia basiert auf demselben Religionskonzept.32

Das klingt fast überzeugend. Es trifft selbstverständlich zu, dass eine Sprache ein Konzept nicht unbedingt mit einem einzigen Wort benennen muss, eine Wortgruppe oder ein Satz genügen auch. Nur stützt das Josephus-Beispiel von Lowes Interpretation in keiner Weise. Josephus schreibt in einer hinlänglich bekannten Passage:

[…] dass er [Moses] sich auch in der Art der Gesetzgebung zum bleibenden Nutzen von allen anderen sehr unterschied, war: Er machte nicht die Frömmigkeit zu einem Teil der Tugend, sondern als einen Teil der Frömmigkeit fasste er das andere zusammen und setzte es fest; ich meine aber die Gerechtigkeit, die Besonnenheit, die Selbstbeherrschung, die Einstimmigkeit der Bürger untereinander in allem [Gegen Apion, 2,170].

Mit anderen Worten, gerade diese angestammten Frömmigkeitsregeln klauben nicht irgendeinen speziellen Teil des judäischen Brauchtums heraus und nennen ihn Religion, sondern sie fassen alles zusammen: die Gerechtigkeit, die Besonnenheit, die Selbstbeherrschung und die Übereinstimmung der Bürger miteinander. Da für Josephus Frömmigkeit und mit dieser einhergehende Regeln zahlreiche Elemente umfassen, die wir als Gegenteil von „Religion“ auffassen würden, wäre es auch nicht sinnvoll, seinen Satz als Bezeichnung des Konzepts ‚Religion‘ in seiner Sprache zu verstehen.

Judentum ohne Namen? – Josephus

Es scheint kaum möglich, dass ein verbreiteter lexikalischer Begriff, der einen für Judäer/Juden obligatorischen Verhaltenskomplex bezeichnet, nicht in der umfangreichen Literatur judäogriechischer Autoren auftaucht, die ebendiesen Komplex darlegen und rechtfertigen. Die beiden bekanntesten griechisch-jüdischen Schriftsteller, in deren Schriften wir Ioudaismos erwartet hätten, sind zweifellos Philon und Flavius Josephus. Beide schildern ausführlich das Wesen des jüdischen Volkes sowie dessen Bräuche, und hätte es einen Oberbegriff für dieses Wesen gegeben, hätten sie diesen bestimmt angewandt. Dabei kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass Josephus das 2. Buch der Makkabäer kannte.33 Wenn er Ioudaismos als „Judentum“ verstanden hätte, also die angebliche jüdische Religion, oder auch als einen Begriff für jüdische Kultur und Brauchtum im Allgemeinen verwendet hätte – warum hat er dann den Begriff nicht in seinem Werk benutzt? Dieses Argument bestärkt Masons These beträchtlich. Und es geht hier um mehr als nur die Nichterwähnung. Nachfolgend soll am Beispiel des Josephus gezeigt werden, dass die Worte, die er benutzt, um den gesamten Komplex des judäischen Brauchtums zu beschreiben, diesen Komplex auf die Ebene anderer Völker stellen. Er begreift somit die Judäer nicht als singuläre Gemeinschaft, ganz im Gegensatz zu Amir, der behauptet: „Im gesamten hellenistisch-römischen Kulturraum gibt es, soweit uns bekannt ist, keine andere Nation, Gemeinschaft oder Gruppe, die sich veranlasst sah, eine übergeordnete Bezeichnung für das gesamte praktische und kognitive Brauchtum, zu dem sich die Mitglieder der Gruppe bekennen müssen, zu prägen, außer das Volk Israel.“34

Politeia; Nomos; Ta Patria Ethē bei Josephus

Josephus wurde oft dafür kritisiert, dass er seinen Lehrer Bannus, die Pharisäer, die Sadduzäer sowie die Essener als philosophische Schulen darstellte,35 und das basierend auf unserer modernen Annahme, dass es sich um religiöse Gemeinschaften gehandelt haben muss. Doch Josephus standen keine derartigen Begriffe zur Verfügung, die sein Publikum hätte verstehen können. Er sagte lediglich, dass diese Gruppen oder Individuen sich mit Gottesfurcht, Bescheidenheit und einer gewissen Jenseitsvorstellung beschäftigen. Und genau damit beschäftigten sich philosophische Schulen, weshalb er sie auch Philosophien nannte. Es gab keinen Genus „Religion“, deren Spezies sie sein konnten.36

 

In keiner Schrift des jüdischen Historikers Josephus aus dem Palästina des 1. Jahrhunderts findet sich ein Wort, das sich auf „Judentum“ oder „Religion“ bezieht. Spricht er über Ideen, Gedanken und Ideologien der Tora, dann bezeichnet er sie als „die Philosophie der heiligen Bücher“. Erwähnt er die in diesen Büchern und im jüdischen Brauchtum kodierten Gebote und Verbote, nennt er diese „Regeln/Bräuche der Vorväter“. Das entspricht auch dem Usus im 2. Buch der Makkabäer, das Josephus gelesen hatte. Martha Himmelfarb bemerkt hierzu: „Für das 2. Buch der Makkabäer ist Jerusalem eine Polis, die Juden ihre Bürger und ihre Lebensphilosophie die Politeia.“37 Die Nomoi oder, seltener, der Nomos, sind die Bräuche der Vorväter, denen die Bürger verpflichtet sind – genau wie bei Josephus.

Nomos und Narrativ: Gegen Apion

Wie bezog sich also ein auf Griechisch (bzw. im vorliegenden Fall auf Hebräisch oder Aramäisch) schreibender jüdischer Chronist auf den judäischen Lebenswandel, ohne einen übergeordneten Begriff wie Ioudaismos oder eine Bezeichnung für „Religion“ zu verwenden? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich zunächst einen Blick auf ein belastetes Wort werfen, das Josephus (und die hellenistischen Juden generell) verwenden, nämlich auf nomos und seinen Plural nomoi. Diese Begriffe werden in der Regel als „Gesetz“ und „Gesetze“ übersetzt, doch soll hier gezeigt werden, dass diese Übersetzung den Sinn bei Josephus verfehlt. In seiner bemerkenswerten Apologie der jüdischen Lebensweise, in Gegen Apion, dient einzig nomos zur Beschreibung dieser Lebensweise. Für Josephus und für antike Autoren allgemein sind Abstraktionen und Kategorien wie „Gesetz“, „Politik“ und „Religion“ keine hilfreichen analytischen Kategorien. Josephus verwendet den Ausdruck nomos für das „Buch“ und die gesamte judäische Lebensart, ein Begriff, der der hebräischen Tora und der aramäischen orayta entspricht. Das mag trivial sein, wird doch bereits in der Septuaginta „Tora“ in der Regel mit nomos übersetzt. Entscheidend ist aber nicht, dass die griechischen Übersetzer den Sinn der Tora falsch verstanden haben und den Begriff deshalb so übersetzten, sondern dass das griechische Wort nomos eine andere Bedeutung erhielt, indem es von den Juden als Entsprechung von Tora genutzt wurde.

Am deutlichsten ist dieser Umstand in Josephus’ Schilderung und Apologie des judäischen nomos in Gegen Apion zu erkennen, ein Text, in dem er den judäischen nomos ausdrücklich gegen Angriffe einiger „heidnischer“ Autoren verteidigt, unter ihnen der alexandrinische Grammatiker und Homerphilologe Apion. An dieser Stelle schreibt Josephus ausführlich, was nomos/Tora in seinen Augen bedeutet:

Weil aber auch Apollonius Molon und Lysimachus und manch andere teils aus Unkenntnis, größtenteils aber aus Feindschaft über unseren Gesetzgeber Mose und über die Gesetze [nomoi] weder gerechte noch zutreffende Äußerungen gemacht haben, indem sie jenen als einen Zauberer und Betrüger verleumdeten, von den Gesetzen aber behaupteten, sie seien für uns Lehrer der Schlechtigkeit, aber keiner einzigen Tugend, will ich kurz sowohl über die Verfassung [politeuma] unseres Gemeinwesens als ganze als auch über sie in ihren Teilen sprechen, wie ich es dann vermag.

Ich glaube nämlich, dass offensichtlich sein wird, dass wir zur Frömmigkeit und zur Gemeinschaft miteinander und zur Menschenliebe allgemein, darüber hinaus aber zur Gerechtigkeit und der Ausdauer in Mühen und der Verachtung des Todes die am besten niedergelegten Gesetze haben. Ich bitte aber, dass die, welche die Schrift lesen, die Lektüre nicht missgünstig machen. Denn nicht ein Enkomium auf uns selbst zu schreiben hatte ich mir vorgenommen, sondern ich meine, dass uns, die wir oft und falsch angeklagt werden, diejenige Apologie am meisten gerecht wird, die von den Gesetzen ausgeht, nach denen wir beharrlich leben. [2,145–147]

Obwohl hier Josephus für die fünf Bücher Mose den Terminus politeuma benutzt, der in etwa Verfassung bedeutet, also ein Begriff, den wir dem Politischen bzw. der Staatsgewalt zuordnen, sind es die nomoi, aus denen sich die politeuma zusammensetzt. Häufig verwendet er nomos auch im Sinne des gesamten übergeordneten Objekts, der politeuma. Innerhalb der politeuma gibt es zwar Gesetze, doch man beachte deren Wesensarten: Es handelt sich um Gesetze, die sich auf Frömmigkeit, Gemeinschaft und Menschenliebe beziehen, auf Gerechtigkeit, auf Ausdauer in der Arbeit sowie auf die Todesverachtung. Bei näherer Betrachtung stellen wir fest, dass der gesamte Komplex – gleichgültig wie er ihn nennt, er hat mehrere Begriffe dafür – aus etwas besteht, das wir als „rituelle Gesetze“ oder „Führungsstrukturen“ einstufen könnten. Sie erzeugen wiederum eine gemeinschaftliche Verbundenheit und Nächstenliebe – und auch Gesetze im engeren Sinne (Recht) sowie einen vorgeschriebenen Ritus zur Verinnerlichung individueller moralischer Charakteristiken. Wir können weder einen Bestandteil dieses Ganzen herauslösen und ihn Gesetz, Politik oder Religion nennen, noch kann das Ganze mit einem solchen Oberbegriff benannt werden. Der Begriff nomoi hingegen umfasst all diese Kategorien und Praktiken und noch einiges mehr.

In einer längeren Passage postuliert Josephus die Totalität des judäischen Gesetzeswerks sowie den Umstand, dass dieses allen Judäern zugänglich ist. Zu den griechischen Philosophen, darunter Platon und die Stoiker, die er alle als Schüler des wahren Gottes erkennt, schreibt er:

Aber die, die vor Wenigen philosophierten, wagten nicht, der in ihren Meinungen voreingenommenen Masse die Wahrheit der Lehre zu veröffentlichen. Unser Gesetzgeber aber hat, weil er ja Taten vollbrachte, die mit den Worten übereinstimmten, nicht nur seine Zeitgenossen überzeugt, sondern pflanzte auch denen, die in Zukunft aus jenen hervorgehen würden, den unabänderlichen Glauben über Gott ein. Der Grund dafür ist, dass er sich auch in der Art der Gesetzgebung zum bleibenden Nutzen von allen anderen sehr unterschied, war: Er macht nicht die Frömmigkeit zu einem Teil der Tugend, sondern als einen Teil der Frömmigkeit fasste er das andere zusammen und setzte es fest; ich meine aber die Gerechtigkeit, die Besonnenheit, die Selbstbeherrschung, die Einstimmigkeit der Bürger untereinander in allem. Alle Taten und Beschäftigungen und alles Denken führen uns hin auf die Frömmigkeit zu Gott. Denn nichts von diesen ließ er unbeachtet oder undefiniert. [2,169–171]

Wir stellen also Folgendes fest: Zunächst einmal werden die Vorstellungen Platons und der Stoiker als „Philosophien“ bezeichnet, die er nicht im Gegensatz zu den fünf Büchern Mose sieht, sondern auf derselben Ebene. Die Gesetzgebung der Tora sei im Gegensatz zu jener der großen Griechen so perfekt aufgebaut, dass ihre Empfänger auch den Gottesglauben verinnerlicht hätten, was den anderen aufgrund ihres esoterischen Charakters (nicht ihrer „Säkularität“) nicht habe gelingen können. In dieser Passage beginnt Josephus ‘ umfassender Vergleich der fünf Bücher Mose mit dem Brauchtum anderer Völker im Hinblick auf die Verinnerlichung von Werten ihrer Lehre. Zuvor bezeichnet er die judäische Gemeinschaft [politeuma] mittels eines Neologismus bereits als Theokratie [theokratia], als Prinzipat Gottes [2,165], also Gott, wie er sich in der Tora präsentiere – nicht als die Herrschaft der Priester, wie John Barclay in seinem Kommentar schreibt.38 Wie David Flatto gezeigt hat, handelt es sich praktisch um das Gegenteil von dem, was wir heute unter dem Begriff „Theokratie“ verstehen.39 Josephus erklärt hier den Mechanismus der Theokratie anhand seiner Theorie, dass die Tora die Tugenden durch eine Kombination von „Worten“ und „Riten“ vermittle und damit anderen Kulturen überlegen sei, weil diese versuchten, ihre Werte entweder allein durch Worte (Athen) oder durch Taten (Sparta) zu vermitteln. Für die Judäer sei eusebeia gegenüber Gott nicht nur eine von vielen Tugenden, sondern die wichtigste Tugend, die alle anderen Tugenden mit einschließe und präge. „Worte“ bedeuten hier wohlgemerkt nichts anderes als die geschriebenen „Gesetze“, die es zu studieren gilt, wie Josephus im nächsten Satz erläutert, während für „Taten“ steht, „durch Sitten erzogen [werden], nicht durch vernünftige Belehrungen [Worte]“ [ἔθϵσιν ἐπαίδϵυον, οὐ λόγοις] [2,172]. Josephus bezieht sich somit deutlich auf die Doppelpraxis, die sich später für das rabbinische Judentum als so charakteristisch erweisen wird, nämlich auf die Hingabe sowohl zum Tora-Studium, logois, als auch zur Ausübung der Gebote, erga.

Wie Barclay ausführt, aktiviert Josephus hier antike Topoi und Stereotype. So zitiert er Dionysios von Halicarnassos, der über die römische Tugend schreibt: „[…] es sei jetzt nicht um schöne Worte […], sondern um Taten zu tun, wenn sie was auszurichten gedächten.“40 Josephus äußert sich hierzu explizit:

Unser Gesetzgeber aber fügte beides ineinander mit viel Bedacht. Weder ließ er nämlich stumpfsinnig die Einübung der Sitten, noch ließ er die Lehre aus dem Gesetz unausgeübt, sondern sofort, beginnend mit der ersten Nahrung und der häuslichen Lebensweise aller überließ er nichts, auch nicht das Geringste, selbstbestimmt dem Willen derer, die unter den Gesetzen leben sollten. Sondern auch über Speisen, welcher man sich enthalten muss und welche man zu sich nehmen kann, über die, die diese Lebensweise teilen sollten, über Arbeitszeiten und andererseits Ruhezeiten setzte er als Bestimmung und Richtschnur das Gesetz, damit wir unter diesem wie unter einem Vater und Herrscher leben und weder willentlich noch aus Unwissenheit etwas Sündiges tun. Denn er ließ nicht einmal die Entschuldigung wegen Unwissenheit als Möglichkeit, sondern als schönstes und notwendigstes Erziehungsgut bestimmte er das Gesetz für sie, damit sie es nicht nur ein einziges Mal anhören oder zweimal oder öfter, sondern er hieß sie, jeden siebten Tag von allen anderen Werken abzulassen und sich zum Anhören des Gesetzes zu versammeln und dieses genau auswendig zu lernen. Das haben anscheinend alle [anderen] Gesetzgeber versäumt. [2,173–175]

Josephus ist hier so weit davon entfernt, die Tora mit „Religion“ gleichzusetzen, dass er Moses als Gesetzgeber [nomothetēs] bezeichnet.41 Seine Beschreibung des Gemeinwesens als theokratia freilich hat er nicht vergessen. Die Tatsache, dass Moses das Gesetz Gottes gestiftet hat, verleiht ihm den Status eines göttlichen Menschen [theion andra]. Mehr noch, der Hauptzweck der Schabbatruhe soll das Tora-Studium sein. Moses verband die Unterweisung der Israeliten in die Tugenden zu einem perfekten Ganzen, indem er weder die Lehre unausgedrückt noch Worte als Theorie oder unausgeübt ließ. Der nomos ist somit der perfekte Ausdruck und Lehrmechanismus judäischer Werte. Die Verbindung zwischen ständigem Hören der Worte und Ausübung der darin erwähnten Taten ist die besondere Qualität: „Für uns aber, die wir überzeugt sind, dass das Gesetz von Anfang an gemäß dem Willen Gottes gegeben wurde, wäre es nicht fromm, dieses nicht einzuhalten.“ [2,184]

An diesem Punkt führt Josephus die vom nomos vermittelten Werte und Tugenden aus, unter denen sich auch solche befinden, die wir in unserem modernen Denken dem „Politischen“, dem „Religiösen“ und dem „Gesetzlichen“ zuordnen, wobei Josephus diese drei neuzeitlichen Abstraktionen nicht voneinander unterscheidet. Der nomos hat also zu einer übereinstimmenden Gottesauffassung unter den Judäern geführt. Zudem trägt auch ihr gemeinsamer Lebensstil [bios] zur Übereinstimmung bei. Der nomos entwirft eine Welt, über der Gott als Gebieter des Universums thront, der die Priester zu Verwaltern und Aufsehern und zu Richtern der in Streit Geratenen bestimmt [2,187]. Josephus schließt daran einen Gedanken an, der zunächst unlogisch erscheinen mag, nämlich, dass eine der Tugenden des judäischen Volkes die Fähigkeit sei, das Leben jederzeit als Ritus und Mysterium zu bewahren [2,188 f.]. Als wäre die ganze Verfassung wie ein mystischer Ritus [telete] aufgebaut.

Alles in der Tora – das Zivilrecht, die Herrschaftsregeln, die Riten, Ethik und Moral, die gesamte „Verfassung“ [politeia] – gestaltet sich wie ein Mysterieninitiationsritual. Die Mysterien waren ein essentieller Bestandteil des Lebens der Athener und der Hellenen. Während uns über die Initiation nicht viel bekannt ist (genau das macht ja die Mysterien aus), wissen wir dennoch, dass diese Rituale aus gemeinsamen Handlungen und Sprüchen bestanden. Laut Josephus ist es ja genau das, was die Tora als judäische Verfassung gegenüber den Verfassungen der hellenischen poleis besonders auszeichnet. Er scheint also darzulegen, dass während die Athener durch ihre Mysterien zwar lehrten und die Lehre durch eine Worte und Handlungen umfassende Praxis transformierten, kann das von der Athener Verfassung als Ganzes nicht gesagt werden. Die judäische Konstitution hingegen verkörpere solches Handeln und Reden in ihrer gesamten Existenz und sei somit wie eine Mysterieninitiation für alle aufgebaut.

 

Zunächst erwähnt Josephus die Gebote, die von Gott sprechen: das Verbot anderer Götter und das Verbot, sich ein Ebenbild von Gott zu machen. Dann erwähnt er die Opfer, die Regeln des Opferns, Gebete sowie Rituale der Reinigung, und er schließt diesen Abschnitt mit dem Hinweis ab, dass es sich um feste Bestandteile des nomos handle [2,198]. Diesem folgt eine Diskussion über Sexualpraktiken und Heiratsgesetze, Reinigungs- und Bestattungsrituale und das Ehren der Eltern. Anschließend erfahren wir, dass das Gesetz vorschreibt, wie wir uns gegenüber Freunden zu verhalten haben und welche Anforderungen Richter erfüllen müssen. Des Weiteren erläutert er Gesetze, etwa zum Umgang mit Kriegsgefangenen [2,212], mit Tieren [2,213] und zu redlichem Geschäftsverhalten. Josephus’ Ausführungen fassen also all das, was wir unter Staat, Ritualen, Religion, Politik und Gesetz verstehen, unter einer Rubrik zusammen – nomos.

Dieser Punkt kann am besten mit Josephus’ eigener Zusammenfassung abgeschlossen werden:

Über die Gesetze bedurfte es keiner längeren Ausführung. Sie selbst nämlich wurden erkennbar durch sich selbst, dass sie nicht Gottlosigkeit, sondern wahrhaftigste Gottesfurcht lehren, nicht zum Menschenhass, sondern zur Gemeinschaft mit allen Lebewesen auffordern, feind der Ungerechtigkeit, besorgt um Gerechtigkeit sind, Trägheit und Luxus ausschließen, lehren, selbstgenügsam und bereitwillig in Mühen zu sein. Von Kriegen zum Machtgewinn halten sie fern, sie ordnen aber an, tapfer für sich selbst zu sein, unerbittlich gegenüber den Strafen, unsophistisch in der Anordnung der Worte, durch Taten immer bekräftigt. Denn diese Taten bieten wir stets dar, augenfälliger als Buchstaben. Deshalb möchte ich kühn sagen, dass wir die ersten Lehrer der meisten und zugleich schönsten Dinge für die anderen geworden sind. Denn was ist schöner als unwandelbare Gottesverehrung? Was ist gerechter als den Gesetzen zu gehorchen?

Oder was ist förderlicher als miteinander übereinzustimmen und weder in schlimmen Zeiten sich zu entzweien noch in glücklichen Zeiten gegeneinander aufzustehen aus Übermut, sondern im Krieg den Tod zu verachten, sich im Frieden aber den Handwerken oder der Landwirtschaft zu widmen und überzeugt zu sein, dass Gott überall auf alles schaut und alles regiert? [2,291–294]

Im Gegensatz zu der stereotypen Vorstellung, die griechisch-jüdischen Schriftsteller hätten die Tora zum „Gesetz“ reduziert, wird bei Josephus deutlich, dass er nomos auf eine Art und Weise interpretiert, die weit über unser heutiges Verständnis von „Gesetz“ hinausgeht. Für ihn schließt der Begriff Zivil- und Strafgesetz, die Staatsform und zusätzlich den Kultus, inklusive Glaubensausübung im Tempel und als Individuum, sowie Gottesglaube mit ein, also weit mehr als „Gesetz“, „Politik“ oder „Religion“.

An diesem Punkt könnte man sagen: Entscheidend ist nicht der Name. Obwohl Josephus ganz andere lexikalische Begriffe verwendet, um die judäische Lebensart zu beschreiben, sieht er sie dennoch als Einheit. Warum sollte sie also nicht „Judentum“ genannt werden? Entscheidend ist hier die Frage, ob Josephus diese judäische Lebensart als Spezies des Genus interpretiert, zu dem er die Griechen, Assyrer, Römer und Skyten zählt, oder als etwas Singuläres, sui generis. Der Umstand, dass Josephus den Begriff Ioudaismos nicht anwendet, zeigt meines Erachtens, dass Amir genau falsch liegt: Die Juden/Judäer haben kein singuläres Selbstverständnis als Volk, das sich von dem anderer Völker als separater Genus abhebt. Wie Josephus bezeugt (und in Übereinstimmung mit Masons Standpunkt) sehen sie sich gleichsam als Teil der „Völkerfamilie“.

Ioudaismos in Inschriften

Zwei epigraphische Funde scheinen diese Sichtweise (entgegen Amirs Darstellung42) ebenfalls zu bestätigen. Eine Inschrift von Stobi (spätes 3. bis 4. Jahrhundert)43 bezieht sich auf eine Person (oder vielmehr bezieht sich die in dieser Inschrift genannte Person auf sich selbst) als „πολιτϵυσάμϵνος πᾶσαν πολιτϵίαν κατ τὸν Iουδαισμον“.44 Amir übersetzt das erwartungsgemäß mit „verhielt sich in der Öffentlichkeit nach den Regeln des Judentums“ und fügt folgenden Kommentar hinzu: „Die Bedeutung scheint einfach, dass er die Gebote streng beachtete.“ Ich stimme zwar Amirs Interpretation zu, doch ist seine Übersetzung irreführend. Wie erwähnt ist „Judaisieren“, d. h., wie ein Judäer zu handeln, sich zu verhalten, wie es Judäer tun (gut oder schlecht, in diesem Fall Ersteres) viel näher am erstrebten Sinn als „Judentum“, das die Bedeutungen des modernen -ismus-Begriffes impliziert. Hengel übersetzt es als „jüdische Sitte“,45 was der Sache viel näherzukommen scheint.46 Doch selbst wenn jemand behaupten möchte, dass bei dieser Inschrift eine Interpretation wie „Judentum“ plausibler wäre, ist das vermutlich späte Datum der Inschrift an sich aufschlussreich und könnte somit leicht als Verwendung unter christlichem Vorzeichen gedeutet werden.

Ähnliches wäre zur letzten – meines Wissens – noch erhaltenen Erwähnung in einer Inschrift zu sagen. Eine Inschrift in Porto enthält folgende Passage: καλῶς βιώσασα ἐν το Iουδϊσμῷ (sie führt ein geruhsames Leben [mit ihrem Ehemann], indem sie den jüdäischen Bräuchen nachgeht), also indem sie die Gebote beachtet/praktiziert (genau wie in der Inschrift von Stobi), aber nicht zwingend im Rahmen einer Institution, die in der Moderne „Judentum“ genannt wird. Es gilt zu beachten, dass diese beiden epigraphischen Erwähnungen sich nicht vollständig mit Masons Interpretation vereinbaren lassen, doch ich glaube, dass sie, gestützt auf meine Korrektur dieser Interpretation, sehr gut ins Bild passen und in keiner Weise die Art von semantischer Entwicklung nahelegen, die wir sonst nur in christlichen Quellen finden. Sollten die Inschriften einen christlichen Bezug haben, sind Masons Argumente allerdings völlig irrelevant.47 Jedenfalls handelt es sich um die einzigen jüdischen Verwendungen von Ioudaismos (sozusagen aus der inneren Perspektive), abgesehen von den Makkabäerbüchern.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der überaus seltene Terminus Ioudaismos keine Bezeichnung für eine damit angeblich verbundene „Religion“ ist, sondern einen Lebenswandel benennt, der sich (mit Eifer) der Einhaltung der Gebote verschrieben hat. Er kann also genauso als „Judaisieren“ bezeichnet werden, wie etwa das fehlerfreie Schreiben der griechischen Sprache als „Hellenisieren“. Wie Amir mit Bezug auf Hellenismos bemerkt: „In diesem Sinne ist es ein ersehntes Ideal, dem der Mann des Geistes sein Leben lang nachstrebt, denn der linguistische ,Hellenismus‘ erfordert die genaue Einhaltung tausend kleiner und großer Regeln.“ Ersetzt man „linguistischer Hellenismus“ mit „die Lebensart der Vorväter (oder der Tora), dann erschließt sich der perfekte Sinn für Ioudaismos: „In diesem Sinne ist es ein ersehntes Ideal, dem der Mann des Geistes sein Leben lang nachstrebt, denn das Ausüben des ‚Judentums‘ erfordert die genaue Einhaltung tausend kleiner und großer Regeln.“ Diese Deutung passt sowohl in den paradigmatischen Kontext des grammatikalischen und lexikalischen Systems des Griechischen als auch zu den syntagmatischen Kontexten der Erwähnung des Begriffs im Jüdisch-Griechischen. Dieser Sinn erschließt sich auch, wenn wir dem Judäischen keine Sonderrolle einräumen. Nicht nur im Jüdisch-Griechischen, sondern auch im Hebräischen, im Jüdisch-Aramäischen und sogar im Jiddischen gab es jahrhundertelang keinen Ausdruck für die „jüdische Religion“.