Handbuch Jüdische Studien

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Gab es in der griechisch-römischen Epoche ein „Judentum“?

Daniel Boyarin

Heute stellt sich oft die Frage, ob der Begriff „jüdisch“ eher einer Religion oder eher einer kulturellen Gemeinschaft (mit eigenen Gesetzen und Zugehörigkeitsmerkmalen) zuzuordnen ist. In den modernen Gesellschaften lässt sich der Begriff „jüdisch“ auf vielfache Weise auffächern: So gibt es „religiöse Juden“ (unterschiedlicher Ausrichtungen), „kulturelle Juden“ (die nicht in die Synagoge gehen, sich jedoch der Gemeinschaft der Juden zugehörig fühlen) oder auch „psychologische Juden“, wie der Historiker Yosef Hayim Yerushalmi am Beispiel von Sigmund Freud dargestellt hat (siehe hierzu auch den Beitrag von Christina von Braun, S. 15). Für die Antike ist eine solche Auffächerung schon aus dem Grund nicht möglich, weil für diesen Zeitraum kaum zwischen Religion und Kultur unterschieden werden kann. Seit etwa einem Jahrzehnt stellt sich die Forschung auf den Standpunkt, dass es nicht möglich ist, moderne euro-amerikanische Kulturinstitutionen auf antike oder nichtwestliche Gesellschaften zu projizieren. Als Paradebeispiel dafür gilt die „Religion“. Es wird immer deutlicher, dass das Konzept „Religion“ als eine von der „Politik“ getrennte, eigenständige Institution zu vollkommen irreführenden Interpretationen der genannten Kulturen führt. Der folgende Beitrag soll deutlich machen, dass es genauso falsch ist, den Juden der Antike eine „Religion“ zuzuschreiben wie den Römern, den antiken Griechen oder den Indianern. Diesem Gedanken folgend soll weiterhin gezeigt werden, dass es in der Antike kein „Judentum“ in unserem heutigen Sinne gegeben hat, da die Juden selbst zu jener Zeit kein Konzept dieser Art hatten.1 Die Verwendung des Terminus „Judentum“ für jene oder jede andere vormoderne Epoche ist ausgesprochen irreführend, da er unweigerlich suggeriert, es hätte eine separate „religiöse“ Sphäre gegeben, abgetrennt von dem, was wir heute „Politik, Wirtschaft und Gesetz“ nennen.

Das antike Judentum und seine Widersprüche

Ich beginne mit einer kurzen Analyse von Philip Davies’ Standardwerk On the Origins of Judaism,2 schicke aber voraus, dass durch die Annahme dessen, was nachfolgend verworfen werden soll, nämlich die Existenz eines wie auch immer gearteten „antiken Judentums“, übersehen wird, was die bedeutendsten Erkenntnisse dieses Werks sein könnten. Doch beginnen wir mit Davies’ Eröffnungsthese:

Das antike Judentum ist die religiöse Matrix der drei monotheistischen (oder monarchistisch-theistischen) Weltreligionen und neben der klassischen griechisch-römischen Kultur einer der beiden Ursprünge der westlichen Zivilisation.3

Das Problem liegt meines Erachtens bereits bei der Matrix dieses Satzes an sich, nämlich am Konzept „antikes Judentum“. Meint Davies hier den Kult des Alten Israel, wie er im Zweiten Tempel praktiziert wurde, also den Kult des Tempelstaates, den Jahud? Wenn das wirklich das „Judentum“ war, wie ist es dann möglich, dass dieses „Judentum“ sowohl die Matrix des „Judentums“ als auch einiger anderer Gemeinschaften ist, die nicht „Judentum“ genannt werden? Haben wir es hier mit einem ehelichen und zwei unehelichen Kindern zu tun? Diese Position vertritt Davies eindeutig nicht, denn schon im nächsten Satz merkt er an: „Nur weil das Judentum den Namen der Mutter annahm, ist es seinen Vorgängern deshalb nicht typologisch näher.“ (Das Samaritertum seiner Meinung nach hingegen schon.) In diesem Fall stellt sich die Frage, weshalb die „Mutter“ überhaupt als „Judentum“ bezeichnet werden soll, erscheint doch dieser Begriff in keiner der Quellen, die das Alte Israel erwähnen. Der Versuch, dessen angebliche „Religion“ als Judentum zu bezeichnen und somit zu suggerieren, dass die rabbinischen, mittelalterlichen sowie die modernen Arten des Judentums (selbst moderne Konstrukte) die direkten, echten (also typologisch nächsten) Nachkommen dieses Vorläufers sind, ist zweifellos ein legitimes apologetisches Unterfangen, doch hält es auch einer wissenschaftlichen Untersuchung stand? Schließlich scheint mir auch problematisch, das Samaritertum auf das „antike Judentum“ zurückzuführen, bezeichnen sich die Samariter doch nicht einmal selbst als Ioudaioi, sondern als Israeliten.

Natürlich ist Davies’ Darstellung viel zu komplex, als dass nach seiner Vorstellung das antike Judentum nur eine einzige Entität gewesen wäre (so spricht er mit Verweis auf das äthiopische Henochbuch von „Arten des Judentums“), doch die Frage bleibt: Weshalb sollte überhaupt von Judentum gesprochen werden? In der Tat führt die Verwirrung, die diese Spurensuche stiftet, zu folgenden Äußerungen: „Wenn man das ‚frühe Judentum‘ definieren will, muss man sich auch fragen, ‚wer war Jude‘“?4 Indem Davies die Frage so formuliert, ändert der Terminus „Judentum“ seine Bedeutung in seinem Text – von der Bezeichnung einer angeblichen „Religion“, aus der andere angebliche „Religionen“ hervorgegangen sind, zu einer wie auch immer gearteten Volkszugehörigkeit. Am Schluss kommt er zudem zu folgender (bahnbrechender) Erkenntnis:

Das Ergebnis dieser […] Entwicklungen ist die nunmehr breit (wenn auch zugegebenermaßen nicht einstimmig) akzeptierte Wahrnehmung, dass das „Judentum“ in dem Zeitabschnitt vor dem Fall des Zweiten Tempels (und faktisch auch noch lange danach) in Wirklichkeit eine Zusammenstellung kultureller und religiöser Einstellungen war. Diese überschnitten sich zuweilen oder standen zueinander im Wettstreit; sie reichten von dem, was Soziologen heute „Zivilreligion“ nennen, bis zu ziemlich isolierten Sekten.5

Von „Judentum“ kann also nur in Anführungsstrichen gesprochen werden – oder könnte es sich um einen Hinweis darauf handeln, dass diese Bezeichnung von anderen verwendet wurde? Wenn diese Gruppe in der Antike nicht „Judentum“ genannt wurde (wie nachfolgend gezeigt werden soll, hatte Ioudaismos eine ganz andere Bedeutung sowohl in den Büchern der Makkabäer als auch bei Paulus, die einzigen beiden antiken Kontexte, in denen dieser Begriff auftaucht) – woher kommt dann der Name „Judentum“ für diese Gruppe? Die Frage, wann sich „eine Zusammenstellung kultureller und religiöser Einstellungen“ formierte, ist ein weiteres gewichtiges analytisches Problem, besonders, wenn zumindest einige dieser Einstellungen im Widerstreit zu den anderen stehen.

Davies ist sich dieser Probleme wohl bewusst: Moderne Wissenschaftler, die das Konzept des einzig wahren, ewigen Judentums zweifellos de-essentialisieren und von „Judaismen“ sprechen, sieht er als feste Bestandteile eines Systems von „Judaismen“, die miteinander konkurrieren, oder eines Genus, der sich aus verschiedenen „judaistischen Spezies“ zusammensetzt. Gleichzeitig wirft er denselben Wissenschaftlern vor, sich nicht die Mühe gemacht zu haben, den Begriff „Judentum“ zu definieren. Wie Davies selbst anmerkt, ist die Definition des Judentums als Genus mit verschiedenen judaistischen Spezies ebenso problematisch wie die Bedeutung, die sich aus der Vorstellung ergibt, dass ein einziges Judentum individuelle Spezies hervorbrachte, die dann die Gemeinschaften bildeten. Im Hinblick auf eine andere Studie, die scharf zwischen dem Judentum als ungebrochener „religiöser Tradition“ und den „Hellenisierern“ unterscheidet, bemerkt Davies zu Recht: „Sind die Judentümer des Philon oder im 2. oder 4. Buch der Makkabäer traditioneller oder hellenistischer Art? Wenn solche Mischungen in Ägypten möglich waren, warum dann nicht in Palästina?“6

Die Frage, ob „das Judentum“ die Religion des „jüdischen Volkes“ sei oder ob zum „jüdischen Volk“ gehöre, wer sich zu dieser Religion bekennt, beantwortet Davies dahingehend, dass viele Juden in der Antike Konvertiten gewesen seien, die freiwillig oder unter Zwang zu einer „bereits bestehenden Religion“ übertraten.7 Die Ansatzpunkte, auf die sich diese Feststellung stützt, werfen eine ernsthafte Frage auf. Wie jüngst dargestellt, war die Frage der Konversion in der Zeit des Zweiten Tempels und selbst noch einige Zeit später alles andere als geklärt.8 Für bedeutende Gruppen (wie etwa für den Autor des Buchs der Jubiläen) trifft keiner dieser Ansätze zu: Jude ist, wer als Jude geboren ist, nicht mehr und nicht weniger (wenn auch für einige dieser Gruppen ein Junge, der nicht am achten Tag nach der Geburt beschnitten wurde, kein Jude war und auch nie einer werden konnte!). Überdies, was soll man sich unter einer Religion vorstellen, die „bereits existiert hat“, wenn sie von niemandem im Volk je so benannt wurde, und wie können Konvertiten ein Teil davon sein, wenn ein Großteil der Gläubigen die Möglichkeit der Konversion gar nicht anerkannte?

Davies kennt die Problematik, die Existenz einer kulturellen Einheit vorauszusetzen, wenn diese behauptete Einheit weder direkt noch indirekt in der Sprache der Mitglieder dieser Gemeinschaft benannt wird: „Erst wenn ein Konzept wie ‚Judentum‘ ins Bewusstsein rückt, das heißt in Begriffe gefasst wird, kann auch erklärt werden, was diese Begriffe bedeuten […] Doch das bewusste ‚-tum‘ ist eine Vorbedingung oder zumindest ein Symptom für den Eintritt von ‚Judentum‘ in das historische Bewusstsein.“ Die Frage ist also eine philologische: Davies legt dar, dass dieses bewusste Konzept in einem Werk entwickelt wurde bzw. belegt ist, das als das 2. Buch der Makkabäer bekannt wurde. Insofern könne von einer Einheit gesprochen werden, die „Judentum“ genannt wird. Wie aber kann man feststellen oder behaupten, dass der extrem seltene, kaum belegte hellenistische Begriff Ioudaismos„Judentum“ bedeutet und nicht „Loyalität gegenüber dem Gemeinwesen und den Bräuchen des Volkes von Judäa“?

Ioudaismos ist nicht gleich „Judentum“

Steve Mason hat zweifellos Recht, wenn er behauptet, dass die sogenannte Konversion zum sogenannten Judentum (sofern sie überhaupt anerkannt wurde) ein – wie gesagt freiwilliger oder erzwungener – Aufnahmeprozess in ein der Nation analoges Gebilde war – ein Genos oder Ethnos (alle diese Begriffe in ihrer antiken Bedeutung). Was hat Religion damit zu tun? Mason schreibt dazu Folgendes:

 

Es gibt ein simples Modell der Ethnizität (Athener sind Athener, Tyrianer sind Tyrianer etc.), aber in diesem Fall – wie es Josephus auch in Gegen Apion betont – sind die Judäer anders als die Athener und Spartaner, die streng auf ihre Staatsbürgerschaft achteten. Im Gegensatz dazu nahm Moses bereitwillig jeden auf, der bereit war, unter judäischen Gesetzen zu leben. Philo macht dieselbe Aussage: Wer seine Familie, seine Polis, seine Gesetze und seine Bräuche gegen unsere eintauscht, sollte als unser Fleisch und Blut angenommen werden. Andere zeichnen nach, wie die Idumäer zu Judäern wurden, weil sie die judäischen Gesetze annahmen. Epiktet, Tacitus und Juvenal kommentieren dieselbe Erscheinung als Außenstehende: Leute anderer Ethnizität werden merkwürdigerweise zu Judäern, indem sie den ganzen Satz ihrer normalen Identitätsmerkmale aufgeben (was aus der Sicht von Tacitus nicht wünschenswert ist). Es geht hier nicht um religiöse Konversion, sondern um den Wechsel der Ethnie, was in der Tat bemerkenswert ist (man hätte dasselbe tun können, indem man Römer wurde, außer dass die römische Staatsangehörigkeit die ursprüngliche Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft nicht in dem Maße gemindert hätte, wie man die Traditionen der eigenen Vorväter hätte aufgeben müssen, um Judäer zu werden).

Wie Mason weiter ausführt, zeigt auch der folgende Text von Josephus Flavius (Der Jüdische Krieg 7,45), dass der Autor die Konversion nicht im christlichen Sinne interpretierte:

Ferner übte auch ihre Religion [thrēskeiai im griechischen Original] stets eine große Anziehung auf viele Griechen aus, die durch deren Annahme in gewisser Hinsicht selbst wieder ein Stück jüdischen Volksthums wurden.9

Zunächst beweist der Plural thrēskeiai, dass es sich hier nicht um Judentum handelt, also nicht um eine Religion, sondern um die Ausübung von Kulten verschiedener Art (einschließlich möglicherweise auch der Einhaltung von Speisegesetzen wie Kaschrut, des Schabbat u. ä.). Noch deutlicher schließt die Aussage „die durch deren Annahme in gewisser Hinsicht selbst wieder ein Stück jüdischen Volksthums wurden“ jede Vorstellung einer religiösen Konversion aus, ganz im Gegensatz zu einer „ethnischen“ Verbindung, da man bei der Konversion zu einer „Religion“ nicht in gewisser Hinsicht, sondern ganz Teil der Gruppe und der Institution wird, der man sich anschließt.

Es gab also Mason zufolge kein „Judentum“, zu dem man konvertieren konnte. Was also ist dann im 2. Buch der Makkabäer (und in einigen verwandten Texten) mit Ioudaismos gemeint? Mason zeigt, dass dieser Begriff weder die angebliche jüdische Religion noch die Ausübung des Kults der Juden benennt. Diese These zur Bedeutung des seltenen hellenistischen-jüdischen Wortes Ioudaismos, das nur in einem Kontext erscheint, ist jedoch entscheidend, da Davies sein äußerst anspruchsvolles System der Suche nach den Ursprüngen des „Judentums“ genau auf diesen Ioudaismos aufbaut. In seinen Augen ist Jüdischsein vor dem Auftritt des Ioudaismos (und hier schließt er sich Daniel Schwartz an) „[…] grundsätzlich eine Frage der Lokalität oder der Rasse [Ethnos oder Genos, DB]. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass es unter ihnen mehr Übereinstimmung bei einem Glauben oder einem Brauch gab als etwa unter allen Franzosen oder allen Frauen“.10 Doch nach dieser angeblichen Transformation gebe es durchaus Grund zu genau dieser Annahme. Davon leitet Davies drei Phasen der Entwicklung des „Judentums“ ab: 1. eine vorreflektive Zeit, in der „die judäische Kultur […] weder homogen war noch konzeptualisiert wurde“; 2. „‚Judentum‘ als judäisches Kulturkonzept“; 3. „‚Judentum‘ neu definiert als Religion, Kult oder Philosophie – Glauben und Ausübung, nicht Bräuche“.11 Er löst also das Logikproblem, denn nun wird klar, dass das Juden-tum der Vorläufer der ohne Bindestrich geschriebenen Judaismen ist. Dazu gehört auch das Samaritertum, das dem Judentum mit Bindestrich näher ist als der späteren Definition von „Judentum“. Dasselbe gilt für das Christentum und den Islam.

Wenn jedoch Ioudaismos nicht „Juden-tum“ bedeutet, wie Mason bereits festgestellt hat – von „Judaismus“ ganz zu schweigen – und wie nachfolgend ausführlich dargelegt werden soll, dann kann nach Davies’ eigenen methodologischen Schlussfolgerungen vor einem bestimmten Zeitpunkt in der Moderne nicht von einem „Judentum“ gesprochen werden (oder zumindest wären damit nicht die Juden gemeint!),12 denn erst dann „trat das Konzept des ‚Judaismus‘ ins Bewusstsein, also wurde erst konzeptualisiert“, und „der bewusste ‚-ismus‘ ist die Voraussetzung oder zumindest das Symptom des Auftauchens des ‚Judaismus‘ im historischen Bewusstsein“. Es kann somit kein Judentum geben, solange es nicht konzeptualisiert und benannt wurde. Damit bleibt uns nur noch der philologische Disput.

Der Fall des 2. Buches der Makkabäer

Vor einigen Jahren trug der Rabbiner und Religionsforscher Yehoshua Amir Quellenmaterial zum Begriff Ioudaismos zusammen, wie er von Juden benutzt wurde. Angesichts der insgesamt sieben belegten Erwähnungen, davon vier in ein und demselben Kontext, meint Amir: „Gestützt auf die erste Durchsicht des Materials kann behauptet werden, dass das Wort Iουδαϊσμός den Komplex von Verhaltensweisen repräsentiert, der sich durch die Tatsache des Jüdischseins ergibt, und dass dieses Verhalten einen Wert darstellt, für den es sich zu kämpfen und sogar zu sterben lohnt.“13 Amir beleuchtet die hinlänglich bekannte Tatsache, dass Nomen mit der Endung -ismos als von Verben mit der Endung -izō abgeleitete Verbalnomen recht häufig im Griechischen vorkommen. Die wichtige Frage wäre dann, was das Verb bedeutet, von dem das Nomen abgeleitet wurde. Es gibt zahlreiche izō-Verben, die von eigentlichen Substantiven abgeleitet sind und bei denen das Verb das Verhalten des Mitglieds einer Gruppe bezeichnet oder die Identifizierung mit einer Gruppe. So würde etwa mēdizō bedeuten, sich wie ein Medäer zu verhalten oder für die Medäer Partei zu ergreifen. Amir legt dar, dass damit in der Regel jemand gemeint ist, der selbst nicht Medäer ist, und dass es sich häufig um einen herabsetzenden Begriff handelt.14

Hellenismos hingegen bezeichnet etwas, das die Griechen anstreben, nämlich die korrekte Verwendung der griechischen Schriftsprache, während mit barbarismos das Gegenteil gemeint war (eine Verwendung, die im Englischen noch geläufig ist, indem etwa ein Irrtum als „barbarism“ bezeichnet wird). Der jüdische Gebrauch dieses Terminus ist dagegen ein anderer: Im 2. Buch der Makkabäer bezeichnen Juden andere Juden, die sich wie Griechen verhielten und sich der griechischen Sache verschrieben hatten, als Hellenismos,ähnlich wie Griechen den Ausdruck Medismos verwenden. Amir zufolge ist die Entwicklung dieser Verwendung von Hellenismos darauf zurückzuführen, dass der jüdische Autor einen Ausdruck benötigte, der „sämtliche Merkmale der hellenistischen Kultur zu einem Ganzen verbindet“, da er Ioudaismos für die Judäer verwenden wollte und ein Wort brauchte, der das Gegenteil von Ioudaismos bezeichnet. Ioudaismos ist, laut Amir, ein singulärer Begriff dafür, dass ausschließlich die Judäer als einziges Volk im gesamten Mittelmeerraum es für notwendig hielten, einen Begriff für sämtliche Merkmale ihrer eigenen Kultur zu prägen. Mit anderen Worten stand also am Anfang das Bedürfnis nach einem Wort, das „Judaismus“ bedeutet und daher Hellenismos zum Gegenstück hatte.15

Amirs Rekonstruktion wirft einige Zweifel auf. Zunächst einmal lehnt Steve Mason Amirs Behauptung ab, bei Iuodaismos handle es sich um einen Begriff mit singulärer Bedeutung. Iuodaismos unterscheide sich in seiner Bedeutung nicht von den andere Ethnien betreffenden-ismos-Verbalnomen. Amirs Behauptung, wonach Ioudaismos insofern allein dastehe, als es sich um das einzige Nomen in der gesamten Antike handle, das eine ganze Kultur oder Religion bezeichne, beanspruche etwas viel für ein Wort, das außer im 2. und 4. Buch der Makkabäer in keinem einzigen hellenistisch-judäischen Text vorkomme. Griechisch-römische Beobachter der Ioudaioi hätten den Begriff zudem nie benutzt, und selbst im Hebräischen und im Aramäischen der damaligen Zeit habe sich keine Parallele dazu gefunden. Eine bessere Erklärung für die Seltenheit des Begriffs besteht, angesichts der (oben erwähnten) Verwendung paralleler Formen, darin, dass die besonderen Umstände nur selten eintraten, die nach der Verwendung dieses stets zu negativen Konnotationen neigenden Wortes verlangten.16 Im Gegensatz zu Amir versteht Mason Ioudaismos als Rückbildung von Hellenismos. Seiner Interpretation zufolge bedeutet Ioudaismus schlicht, sich wie ein Judäer zu verhalten.

In der vorchristlichen Antike taucht der Terminus Ioudaismos im Wesentlichen nur in einem literarischen Kontext auf, nämlich in den Berichten über den Widerstand der Makkabäer gegen den Hellenismos. Auf eine frühere These17 aufbauend, legt Mason dar, dass das Wort Ioudaismos nur in diesem spezifischen literarischen und historischen Kontext erscheint, weil es auch nur in diesen und keinen anderen Kontext der jüdischen Antike hineinpasst. Zudem passt es zu einem Paradigma anderer griechischer Ausdrücke, die sich auf dieselbe Weise als Verbalnomen von bestimmten Verben ableiten und nichts mit der Bezeichnung einer Religion zu tun haben.18 Ioudaizō würde dann entsprechend bedeuten, „sich wie ein Judäer zu verhalten“, und das daraus gebildete Verbalnomen Ioudaismos wäre dann schlicht die substantivierte Form dieses Verbs, also das „Sich-wie-ein-Judäer-Verhalten“, genau wie Hellenismos bedeutet, wie ein Grieche zu handeln, zu sprechen und zu schreiben. Um einen Eindruck davon zu bekommen, wie oft diese Wortkreation damals im Griechischen verwendet wurde, genügt das folgende humoristische Beispiel: Kenneth Dover erwähnt die Entstehung des Worts „euripidaristophanizein“ („wie Euripides und Aristophanes handeln“), das von einem Komödiendichter erdacht wurde, der sich über den intellektuellen Anspruch von Aristophanes lustig machte.19 Das hypothetische Verbalnomen wäre dann euripidaristophanismos, was wohl kaum eine Institution bezeichnet. Mason stützt sich also auf eine solide lexikalische komparative Grundlage, wenn er die Übertragung dieses höchst produktiven griechischen Paradigmas auf eine einzelne Form – Ioudaismos – ablehnt.

Wie Seth Schwartz zutreffend bemerkt, trifft Masons Interpretation in Kontexten wie in 14,37 durchaus zu. Im folgenden Zitat sollte nur der von Schwarz verwendete Begriff „Judentum“ durch den fraglichen Begriff Ioudaismos ersetzt werden:

Es ward aber dem Nikanor angezeigt einer aus den Ältesten zu Jerusalem, mit Namen Razis, dass er ein Mann wäre, der das väterliche Gesetz lieb und allenthalben ein gutes Lob und solche Gunst unter seinen Bürgern hätte, dass ihn jedermann der Juden Vater hieße. Auch war er vor dieser Zeit darum verklagt und verfolgt gewesen, und hatte Leib und Leben männlich gewagt für den Ioudaismos.20

In diesem Ausschnitt ist deutlich zu erkennen, wie eine Entscheidung für den Ioudaismos einem Bekenntnis zur Lebensart der Judäer und deren Gemeinwesen, ja selbst zu einer Erneuerungsbewegung, die solche Gefühle bei den Abtrünnigen neu entfachen soll, gleichkommt. In 8,1 heißt es hingegen: „Aber Judas Makkabäus und seine Gesellen gingen heimlich hin und wieder in die Flecken, und riefen zuhauf ihre Freundschaft und was sonst bei der Juden Glauben geblieben war […].“

Seth Schwartz warnt davor, den Begriff als Bekenntnis zur Erneuerungsbewegung zu interpretieren.21 Daraus sollte jedoch nicht geschlossen werden, dass Ioudaismos „etwas sehr stark wie Judentum“ bedeutet,22 denn das würde eine lexikalisch und grammatikalisch singuläre Entwicklung der Vokabel und des ihr zugrunde liegenden Paradigmas ausschließlich in diesem Kontext der gesamten griechischen Literatur voraussetzen. Wenn überhaupt, können sie in beiden Fällen schlicht als „der Lebensweise und der Sache der Juden treu ergeben“ übersetzt werden. Im ersten Fall riskiert Razis Leib und Leben für die jüdische Lebensweise. Im zweiten Fall sind mit Personen, die im Ioudaismos verblieben, diejenigen gemeint, die dem politischen und kulturellen Leben der Juden treu geblieben sind. Ioudaismos bedeutet also die Ausübung einer solchen Loyalität. Die korrekte Übersetzung wäre „sind beim Judaisieren geblieben“ oder vielleicht besser „beim Jüdischsein“. Das hat mit „Religion“ nicht mehr zu tun als etwa das „Attikaisieren“, also „sich zum Verhalten und zu den Bräuchen auf Attika“ zu bekennen. Einmal mehr sei hier betont, dass es sich nicht um ein abstraktes, eine Institution bezeichnendes Nomen handelt, sondern um ein Verbalnomen, das für eine Handlung oder eine Gruppe von Handlungen steht (wie etwa die „Barbaren“ austreiben oder die Gebote beachten).

 

Gegen Amirs These spricht auch ein weiterer Grund: Die Annahme, dass Ioudaismos als singulärer Ausdruck zuerst geprägt wurde und sich davon dann die geläufige Wortprägung Hellenismos ableitete, erscheint unlogisch. Viel eher dürfte Masons Vermutung zutreffen, dass der Begriff Hellenismos zuerst existierte und Ioudaismos von diesem abgeleitet wurde. Der semantische Effekt ist aber ein anderer, als von Mason postuliert. Wenn nämlich davon ausgegangen wird, dass Judäer Hellenismos als Charakterisierung ihrer Landsleute in Analogie zur griechischen Verwendung von Medismos in Bezug auf andere Griechen nutzen, dann wird deutlich, dass es sich hier um den primären Ausdruck einer binären Gegenüberstellung handelt. Angeblich abtrünnigen Juden wurde Hellenismos vorgeworfen, genau wie abtrünnigen Griechen Medismos vorgehalten wurde. Hellenismos bedeutet also, sich wie ein Grieche zu verhalten und dem Griechentum gegenüber loyal zu sein. Ioudaimos wäre dann das davon abgeleitete Gegenteil, also sich loyal zur jüdischen Lebensweise und der jüdischen Gemeinschaft zu verhalten.23 Diese Verwendung schien nur den Judäern vorbehalten zu sein, doch es handelt sich um eine natürliche Entwicklung der besonderen Umstände der makkabäischen Konflikte. Statt also davon auszugehen, dass Hellenismos von den Juden als Gegenstück zu Ioudaismus geprägt wurde, behaupte ich, dass Ioudaismos als Gegenstück zur hellenisierenden Abtrünnigkeit die judaisierende Loyalität bezeichnete. Dies ist aber gewiss kein Beweis für ein angeblich neues Bewusstsein der Juden von dieser Institution des „Judentums“. Der Begriff passt gut in sämtliche (vorchristlichen) Kontexte und umgeht auch die Einschränkungen von Schwartz, der die Loyalität gegenüber dem Jüdischen (dem Judäischen) bzw. das Festhalten daran nicht auf die Religionsangehörigkeit reduziert, die wir heute Judentum nennen. Da sämtliche Vertreter des Paradigmas solcher Nomen, wie etwa der oben genannte Medismos – „das den Persern Zuneigende“ –, sowie der Attikismos – „das den Athenern Zuneigende“ – Gerundien und keine abstrakten Substantive sind, gibt es keinen Grund, Ioudaismos nicht auch als solches Gerundium aufzufassen. Im Griechischen sind zwar nur Ioudaismos und Hellenismos (im Sinne von „Schreiben wie ein Grieche“) positiv belegt, aber sie sollten dennoch als „Judaisieren“ verstanden und übersetzt werden.

Der antike Ioudaismos muss also als Glied dieses semantischen und morphologischen Paradigmas verstanden werden. Die seltene Verwendung des Begriffs in den jüdischen Quellen hängt mit der Tatsache zusammen, dass es sich eben nicht um eine allgemeine Bezeichnung für etwas Zusammenfassendes wie das moderne Judentum handelt. Diese Interpretation stützt sich auf alle Erwähnungen in den Büchern der Makkabäer. Masons Ansatz, den Begriff „Judaismus“ bei keiner dieser Erwähnungen als Abstraktion, System oder Institution zu sehen, ist schlüssig, doch wird dabei aus Judaisieren eine „Rückführung jener, die fremde Wege gegangen sind“. Ein ‚Judaisieren‘ oder eine ‚Judaisierung‘, die der Autor des 2. Buches der Makkabäer programmatisch als ‚Iουδαϊσμός‘ bezeichnet.24 Allerdings ist das nicht die einzige Alternative zur Interpretation von ‚Iουδαϊσμός‘ als Bezeichnung für eine Religion. Vermutlich führte einfach das „Sich-dem-Hellenismos-Verweigern“ zur Ableitung Ioudaismos.

Die letzte Verwendung des Wortes im 2. Buch der Makkabäer bestätigt diese Behauptung. Zum ersten Mal überhaupt taucht das Wort in Abschnitt 2:21 auf: „[…] die himmlischen Erscheinungen, die denen zuteil wurden, die für das Judentum [Ioudaismos] ruhmvoll und als Helden stritten.“25 Jenen, die miteinander um das Judentum [Ioudaismos] wetteiferten, sollen also himmlische Erscheinungen zuteil geworden sein. Ioudaismos meint demnach das Wetteifern um die Hingabe zur Lebensweise der Judäer und die Parteinahme für ihren Kampf gegen ihre Unterdrücker, die „Barbaren“.26 Nur ein vorgefasstes Konzept des Ioudaismos als Abstraktum oder die Bezeichnung einer Institution könnte hier dazu führen, sich ihn als „Judentum“ vorzustellen.

Das „Judentum“ des Paulus

Diese Interpretation erklärt auch die Verwendung von Ioudaismos in den Paulusbriefen. Wenn der Apostel behauptet, er sei früher sehr im Ioudaismos fortgeschritten gewesen, meint er sicher keine abstrakte Kategorie oder eine Institution, sondern die jüdische Treue zum traditionellen Brauchtum der Juden, das von seinem Zeitgenossen Josephus als „das Angestammte [die Traditionen] der Ioudaioi“ beschrieben wird (τὰ πάτρια τῶν Iουδαίων; [Ant 20.41 und passim]). Auch das könnte schlicht als jüdische Religion gedeutet werden, wäre da nicht die Tatsache, dass auch Thucydides diesen Begriff verwendet. Er schreibt, die medezierenden Platäer wurden beschuldigt, „ihre angestammten Traditionen aufzugeben“ (παραβαίνοντϵς τὰ πάτρια; [Thucydides 3.61.2]).27 Dass auch Paulus den Begriff in diesem Sinne verwendet, zeigt Masons Beobachtung, wonach „Paulus Petrus verurteilt, weil Petrus wie ein Fremder und nicht wie ein Judäer lebe (έθνικῶς καὶ οὐχὶ Iουδαϊκῶς), dadurch zwinge er die Fremden, sich zu judaisieren“ (τὰ ἔθνη ἀναγκάζϵις Iουδαΐζϵιν; [Gal 2,14]) – also einer Kulturbewegung anzugehören, die Paulus eng mit der Beschneidung und der Beachtung der judäischen Gesetze verbindet (2.12,21).28 Da Ethnisierung gewiss nicht mit der Ausübung einer Religion gleichzusetzen ist, kann das hier auch nicht für das Judaisieren gelten und somit auch nicht für das oft von diesem Verb abgeleitete Nomen Ioudaismos.

Die vorliegenden Verwendungen von Ioudaismos scheinen die Interpretation von Ioudaismos als Verbalnomen, also als Praxis und nicht als Institution, ebenfalls zu bestätigen. Paradoxerweise wurde die Verwendung, die Paulus davon in den Galaterbriefen macht, in der Regel als Beweis für das genaue Gegenteil gewertet. Die zentrale Stelle ist der Brief an die Galater, Kap. 1,13–14, wo Folgendes steht [die Worte, die im Folgenden diskutiert werden, bleiben unübersetzt]:

Ihr habt ja von meinem einstmaligen anastrophe im Ioudaismos gehört: dass ich nämlich die Gemeinde Gottes maßlos (= wütend) verfolgt habe und sie zu vernichten suchte und dass ich es an Leidenschaft für den Ioudaismos vielen meiner Altersgenossen in meinem Volk zuvorgetan habe, indem ich ein ganz besonderer Eiferer für die von meinen Vätern überkommenen Überlieferungen war.

Das Wort anastrophe wird gewöhnlich mit „Leben“, hier mit „einstmaligem Leben“ übersetzt. Mason behauptet: „In Anbetracht dessen, dass das begleitende Nomen ἀναστροϕή stärker ist als ‚[mein einstmaliges] Leben‘, wie es oft übersetzt wird, sollte es eine gewisse Form von ‚Hang‘ oder ‚Hinwendung‘, eine ‚Rückbesinnung‘ auf etwas oder eine Beschäftigung mit etwas andeuten. Der in 1,14 erwähnte Eifer bestätigt diese Bedeutung.“29 „Einstmaliges Leben“ gibt in der Tat eine vorgefasste Meinung wieder und stimmt nicht mit den häufigsten Verwendungen dieses Wortes im Griechischen überein. Meines Erachtens eignet sich die Übersetzung „Benehmen“ besser, wie sie beispielsweise bei Tobias 4,14 zu finden ist: πρόσϵχϵ σϵαυτῷ, παιδίον, ῶν πᾶσι τοῖς ἔργοις σου καì σθι πϵπαιδϵυμένος ἐν πάση ὰναστροϕῇ σου, wobei der letzte Satz gut als „Benimm dich wohlerzogen in deinem ganzen Wandel“ übersetzt werden kann, was wiederum dem ersten Satz entspricht, dessen Übersetzung „Gib’ acht auf dich, […], in allem, was du tust“ lauten würde. Paulus meinte demnach sein früheres Solidarisieren mit den Judäern, namentlich die Verfolgung der Gemeinde Gottes. Die Verwendung von Ioudaismos im zweiten Vers hebt diesen Punkt noch stärker hervor. Man zeichnet sich nicht durch Leidenschaften aus in einer Institution, etwa religiöser Art (außer vielleicht, um darin aufzusteigen, was hier offensichtlich nicht passt), sondern durch die Praxis des Judaisierens, in der sich Paulus besonders hervortat, weil er größeren Eifer zeigte als andere. Schließlich muss die Verwendung, die Paulus vom Verbalnomen Ioudaismos macht, auch mit Blick auf seine Verwendung des Verbs interpretiert werden. Wie oben erwähnt, schimpft Paulus in den Galaterbriefen 2,14: