Handbuch Jüdische Studien

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1. Grundsatzfragen

Die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft

Christina von Braun

„Jude ist, wer eine Jüdin zur Mutter hat“ – die Gleichsetzung jüdischer Identität mit einer matrilinearen Deszendenz kannte das Alte Israel nicht.1 Die Geschichten der Bibel erzählen von einer langen Kette von Vater-Sohn-Erbschaften, wie sie auch bei den anderen Völkern der Antike üblich war. Auch der in den christlichen Evangelien aufgeführte „Stammbaum“ Jesu mit seinen 78 Generationen in rein männlicher Erbfolge ist ein typisches Beispiel für eine agnatische Linie. Weil König David laut Hebräischer Bibel von Gott die Zusage der „ewigen Thronfolge“ erhalten hatte (2 Sam 7,12f ), konstruieren das Lukas- und Matthäus-Evangelium für Jesus einen Stammbaum in rein männlicher Erbfolge, die ihn – der Weissagung entsprechend (Jes 11,1) – zum späten „Wurzelspross“ des königlichen Hauses David macht. Die vier „Stammmütter“, die in dieser Genealogie auftauchen, verdanken ihre Erwähnung nur dem Aussterben einer agnatischen Linie. Eine Ausnahme bildet einzig die unmittelbar letzte Generation, wo Jesus „aus dem Schoß einer Jungfrau“ geboren, also „unbefleckt“ gezeugt worden ist. Hier handelte es sich um eine Unterbrechung der Vater-Sohn-Erbfolge, die allerdings erst ab dem 3. Jahrhundert konstruiert wurde und letztlich ein Mittel darstellte, mit dem die Christen einerseits an der biblischen Patrilinearität festhalten, andererseits aber auch der rabbinischen Matrilinearität Rechnung tragen wollten und den Widerspruch schließlich durch eine neue göttliche Herkunft lösten.

Der Gegensatz von Judentum und Christentum, manchmal auch die Gemeinsamkeiten von Judentum und Hellenismus für die Antike, spielten ab dem 1. Jahrhundert eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft. Deshalb müssen bei der Beschreibung der Gemeinschaftsmerkmale und ihrer Veränderungen auch andere religiöse und kulturelle Entwicklungen berücksichtigt werden. Das Jahrhundert, in dem das Christentum geboren wurde, markiert auch den Beginn der jüdischen Diaspora. Von diesem historischen Moment an musste die jüdische Gemeinde nach ganz neuen Formen des Zusammenhalts suchen. Viele der Entscheidungen, die nun getroffen wurden, waren wiederum beeinflusst von der Abgrenzung gegen das Christentum wie auch vom Dialog mit der anderen Religion (siehe hierzu auch die Beiträge von Liliana Feierstein, S. 99 und Joachim Valentin, S. 125).

Die erste Basis des jüdischen Gemeinschaftszusammenhalts bildete die Hebräische Bibel, der heilige Text, der ab dem 6. Jahrhundert v. u. Z. allmählich kanonisiert, d. h. endgültig stillgelegt wurde. Der Prozess begann mit Josija, König von Juda (638–608 v. u. Z.), wurde dann im babylonischen Exil um 587 v. u. Z. fortgesetzt und verwandelte die dann entstehende jüdische Gemeinschaft allmählich in die weltweit erste „textual community“2: Eine Volksgruppe definierte sich weder durch ein bestimmtes Territorium noch durch eine erbliche Herrscherdynastie, sondern durch eine heilige Schrift. Die hohe Bedeutung, die dem Text beigemessen wurde, schlug sich auf unterschiedliche Weise nieder: zunächst dadurch, dass mit den „Erzählungen“ der Bibel zugleich Gesetze formuliert wurden. Die fünf Bücher Mose, die Tora, hatten als erste einen normativen Charakter. Ihnen wurden prophetische und weisheitliche Schriften zur Seite gestellt. Um etwa 100 u. Z. wurde endgültig festgelegt, welche hebräischen Schriften zum dreiteiligen Tanach gehörten (siehe hierzu auch den Beitrag von Elisa Klapheck, S. 81). Zunächst blieben noch griechisch übersetzte Bibelversionen neben dem Tanach bestehen, sie wurden später jedoch verworfen. Die Schrift war in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: einerseits als heiliger Text, andererseits setzten die Mystiker, vor allem die Kabbalisten des Mittelalters, die Tora aber auch mit Gott gleich (siehe hierzu auch den Beitrag von Karl Grözinger, S. 191). Andere sahen im heiligen Text „das Leben“ repräsentiert. Eine Tora, selbst wenn sie zerlesen und zerrissen ist, darf nie „weggeworfen“ werden; sie wird bestattet wie ein menschlicher Körper. Die Gleichsetzung von Tora und Leben findet auch darin ihren Ausdruck, dass manche kinderlose Paare der Gemeinde zum Ersatz eine Torarolle spenden: Durch diesen Beitrag soll das „Fortleben“ der Gemeinde in der Schrift gesichert werden.

Der zweite Faktor des Zusammenhalts waren die Ritualgesetze: Sie lassen die vielen einzelnen Körper zu einem „Gemeinschaftskörper“ zusammenwachsen. Viele der 613 Vorschriften richten sich an die Leiblichkeit: Das gilt insbesondere für die Beschneidung, die für die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft von zentraler Bedeutung ist. Es gilt aber auch für die Speisegesetze, den Umgang mit Sexualität, Niederkunft, Krankheit und Tod, und es gilt für die nidda-Gesetze, die sich auf das weibliche Blut (während der Menstruation und nach der Niederkunft) beziehen. Manche der Regeln (z. B. die zur Beschneidung und zur Reinheit) haben eine hochaufgeladene Symbolik, mit der sich Anthropologen wie Mary Douglas,3 Kulturhistoriker wie David Biale4 und viele Religionswissenschaftler auseinandergesetzt haben. Einige Vorschriften – vor allem die Sexualgesetze – zielen auf die Regulierung der Fortpflanzung und den physischen Erhalt der Gemeinschaft ab: Das Regelwerk der Sexualität unterstand dem wachsamen Auge der Priester, später der Rabbinen (siehe hierzu auch den Beitrag von Tamara Or, S. 255).

Der dritte Faktor des Zusammenhalts war die Bestimmung der Herkunft. In dieser Hinsicht setzte sich mit dem Beginn der Diaspora im 1. Jahrhundert u. Z. ein grundlegender Wandel durch, der den meisten sonstigen Entwicklungen in der antiken Welt konträr war: Das Judentum entschied sich für das Prinzip der Matrilinearität, d. h. eine Form von Vererbungskette, die in weiblicher Linie – von Mutter zu Tochter – verläuft. Um zu begreifen, wie es zu diesem Wandel kommen konnte, sind mehrere Stränge zu berücksichtigen, die hier zusammenwirkten: 1. die Rolle der Kommunikationsmittel für die Entstehung von Gemeinschaftskohäsion; 2. die Charakteristika patrilinearer Erblinien und die sich davon abgrenzenden Eigenschaften jüdischer Matrilinearität; 3. das Verhältnis von Judentum und antiker Welt: Die Abgrenzung gegen Hellenismus und Rom ging später über in die Abgrenzung gegen das Christentum. Da bei jeder Form von Identitätskonstruktion – ob sie normiert ist oder nicht – die Abgrenzung gegen andere Identitäten von zentraler Relevanz ist, muss die Zugehörigkeitsdefinition auch immer das, was außerhalb der eigenen Grenzen angesiedelt wird, im Blick behalten. Was für die Reinheit gilt – es gibt keine positiven Reinheitsbestimmungen, sondern nur solche, die definieren, was „unrein“ ist5 – gilt auch für Zugehörigkeitsregeln.

Kommunikation

Entscheidend für den Faktor Kommunikation war das Schriftsystem. Die Heiligen Schriften aller drei monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam (Der Koran nennt sie die „Religionen des Buches“) – sind in alphabetischen, also phonetischen Schriftsystemen geschrieben: Im Gegensatz zu logographischen Schreibweisen, bei denen Bilder Worte oder Ideen repräsentieren, überträgt diese Schriftart gesprochene Laute in visuelle Zeichen. Der Vorgang impliziert einen kaum zu überschätzenden Abstraktionsschub, weil das Alphabet die gesprochene Sprache dem Körper entreißt und den „Lebenssaft“ der gesprochenen Sprache, der nicht nur eine Gemeinschaft zusammenhält, sondern auch die psychische, emotionale und intellektuelle Verfasstheit des Einzelnen prägt, auf eine körperferne Weise zirkulieren lässt. Nicht durch Zufall entstand mit diesem Schriftsystem, das im semitischen Alphabet seine früheste Ausgestaltung fand, auch zum ersten Mal ein Gott, der jenseits der physischen Welt verortet wird und der sich einzig in den Buchstaben der Schrift offenbart. Die Entwicklung des Alphabets begann um ca. 1500 und war um 1000 v. u. Z. voll entwickelt. In der Bibelforschung gelten die Geschichte von Moses und Exodus heute als „Erzählungen“, mit denen nicht reale historische Ereignisse, sondern eine neue Weltinterpretation angeboten – oder ein Mentalitätswandel vollzogen – wurde. Trotz intensiver Forschung gibt es weder für eine Versklavung des jüdischen Volkes in Ägypten noch für eine Massenauswanderung archäologische Belege. (An Orten wie auf Elephantine, einer Flussinsel des Nil, gab es jüdische Siedlungen innerhalb Ägyptens, aber sie umfassten eine kleine Bevölkerungsgruppe, die auch nicht versklavt war.) Auch für die historische Existenz der Gestalt von Moses gibt es keine Belege, was noch dadurch befördert wird, dass er laut der Bibel an einem „unbekannten Ort“ begraben wurde. Aber auch wenn sie keine historische Realität beschreiben, so können die „Erzählungen“ der Bibel dennoch von einem historisch relevanten Sachverhalt handeln – und ein Faktor, an den Exodus erinnert, ist die Herauslösung eines neuen phonetischen Schriftsystems, des Alphabets, aus dem piktoralen System der ägyptischen Hieroglyphen und anderer antiker Schriftsysteme. Das hebräische Alphabet war das erste überhaupt und stellte einen radikalen Bruch mit den bis dahin bestehenden Schreibsystemen dar. Zwar war die Keilschrift ebenfalls eine Lautschrift (sie wurde um 3300 v. u. Z. von den Sumerern entwickelt, von Akkadern, Babyloniern, Assyrern, Hethitern und Persern verwendet und hielt sich bis ins 1. Jahrhundert) und auch die ägyptische Kursivschrift umfasste phonetische Zeichen, aber beide Schriftsysteme hatten den Nachteil, mit sehr vielen Zeichen zu operieren, während das Alphabet mit 20 bis 40 Zeichen auskam. Das machte es leichter erlernbar und hatte zudem den Vorteil, dass so gut wie jeder lesen und schreiben lernen konnte und somit Zugang zu Wissen hatte. Heute ist das Alphabet (in unterschiedlicher Gestalt) das weltweit meist verwendete Schriftsystem; die eigentliche „Mutter“ aller anderen Alphabete ist jedoch semitisch.

 

Das Erstaunlichste am Alphabet ist zweifellos, daß es nur ein einziges Mal erfunden wurde. Ein semitisches Volk oder semitische Völker schufen es um das Jahr 1500 v. Chr. im selben geographischen Raum, in dem auch die erste aller Schriften, die Keilschrift, auftauchte, allerdings runde 2000 Jahre später. […] Jedes existierende Alphabet – das hebräische, ugaritische, griechische, römische, kyrillische, arabische, tamilische malaysische, koreanische – rührt in irgendeiner Weise von der originären semitischen Entwicklung her.6

Zwar leiteten sich die Zeichen des neuen phonetischen Schriftsystems von den ägyptischen Hieroglyphen ab, aber sie verwendeten deren Bilder, um den Lauten visuelle Gestalt zu verleihen.7 Natürlich ist das Alphabet nicht die einzige Wirkmacht, die zur Entstehung einer neuen Religionsform führte, aber seine Bedeutung für einen grundlegenden Mentalitätswandel der alten Welt ist kaum zu überschätzen.

Allerdings ist Alphabet nicht gleich Alphabet: Das semitische Alphabet schrieb nur die Konsonanten. Das bedeutet, dass dieses Schriftsystem nur lesen kann, wer auch die Sprache spricht. Das hat zur Folge, dass im Judentum der gesprochenen Sprache, neben der Heiligen Schrift, eine hohe Bedeutung beigemessen wird – ob in der Liturgie oder in der Exegese, die im Gespräch zwischen Gelehrten oder Lehrer und Schüler stattfindet. Der Text ist eine „Botschaft“ aus dem Transzendenten, doch wie diese Botschaft ausgelegt wird, wird auf Erden und zudem oft mündlich ausgefochten, wenn auch einige der Erläuterungen später verschriftet wurden (siehe hierzu auch die Beiträge von Elisa Klapheck, S. 81 und Stefan Schreiner, S. 147). Eine kleine „Geschichte“ aus dem Babylonischen Talmud illustriert auf anschauliche Weise dieses Verhältnis von Text und Sprechen: Mehrere Rabbinen streiten sich über die Auslegung einer Textstelle in der Heiligen Schrift. Rabbi Elieser sagt zu den anderen:

„Wenn die Halacha meiner Meinung entspricht, so werden sie es vom Himmel her beweisen. Da ging eine Hallstimme hervor und sprach: was habt ihr mit Rabbi Elieser? Die Halacha ist auf jeden Fall wie er sagt. Da stellte sich Rabbi Jehoschua auf seine Füße und sagte: ‚Nicht im Himmel ist sie‘. Rabbi Jirmeja sagte: daß die Weisung schon am Berg Sinai gegeben worden ist. Wir kümmern uns nicht um eine Art Stimme, denn schon am Berg Sinai hast du in die Weisung geschrieben: ‚Sich zur Mehrheit neigen‘.“8

Mit anderen Worten: Gott hat zwar die Gesetze geschrieben, aber ihre Auslegung bleibt den Menschen vorbehalten.

Ganz anders das griechische Alphabet, das 200 Jahre nach dem semitischen entstand und das über Hellenismus und das lateinische Alphabet Roms schließlich auch zum Schriftsystem des Christentums wurde: In Griechenland wurde im 8. Jahrhundert v. u. Z. das sogenannte volle Alphabet eingeführt, das je eigene Zeichen für Vokale und Konsonanten bietet. Dieses Schriftsystem bedurfte nicht der Oralität; folglich verlor die orale Kommunikation an Bedeutung: Sie wurde abgewertet und zugleich an die Normen der Schrift angepasst.

Dieser Unterschied zwischen den beiden Alphabeten hatte indirekt Einfluss auf Patrilinearität und Matrilinearität. In allen drei Religionen, deren Heilige Schriften in alphabetischen Schriftsystemen geschrieben sind, findet das jeweilige Verhältnis von Oralität und Schriftlichkeit in der Geschlechterordnung sein Spiegelbild: Die geschriebene (unvergängliche) Sprache wird der Männlichkeit zugeordnet, während der weibliche Körper die (flüchtige und wandelbare) gesprochene Sprache repräsentiert. Das volle Alphabet Griechenlands machte daraus eine grundsätzliche Dichotomie. Die christlichen Gelehrten des Mittelalters bezeichneten die (zumeist lateinischen) Schriften als „Vatersprache“, während sie die gesprochenen, regionalen Sprachen „Muttersprache“ nannten. Da dank des vollen Alphabets das Schrifttum das gesamte theologische Lehrgebäude umfasste, wurde „dem Vater“ so die alleinzeugende Kraft zugewiesen. Das fand auch seinen theologischen Niederschlag. In den christlichen Lehren erzeugt ein Gottvater in Christus seinen „eingeborenen Sohn“. Dafür gibt es in der jüdischen Religion keine Parallelen: Gott ist der Schöpfer der Welt oder ihr „König“, der über die Menschen herrscht. Das Gottesbild der Hebräischen Bibel kennt auch einige anthropomorphe Beschreibungen – etwa die Hand oder das Auge Gottes. Aber Gott wird nicht als „Vater“ bezeichnet.9 Auch gilt der „Messias“, auf den der Gläubige hofft, nicht als „Sohn Gottes“, er ist bestenfalls sein Abgesandter, geschweige denn, dass Gott einen Sohn in Menschengestalt zeugt. Eine solche Vorstellung ist für die jüdische Religion, in deren Zentrum die unüberwindbare Grenze zwischen Gottes Ewigkeit und menschlicher Sterblichkeit steht, undenkbar. Dieses theologische Konzept findet seine Parallele im Schriftsystem. Beim semitischen Alphabet blieb die geschriebene Sprache auf die gesprochene angewiesen, „um zur Welt zu kommen“.10 Diese Offenheit gegenüber der Oralität schuf einerseits die Voraussetzungen für die Flexibilität der Interpretation, war aber auch nicht irrelevant, als sich das Judentum in den ersten zwei Jahrhunderten für ein matrilineares Prinzip der Zugehörigkeit entschied. Dass die Schriftzeichen ohne eine (als weiblich) definierte Oralität nicht „funktionieren“ konnten, hat es zweifellos erleichtert, dem weiblichen Körper auch eine Bedeutung für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft beizumessen.

Die Septuaginta stellte die Unterscheidung zwischen griechischem und hebräischem Alphabet zunächst in Frage. Es handelt sich um die älteste Übersetzung der hebräisch-aramäischen Bibel in die griechische Alltagssprache; sie entstand ab ca. 250 v. u. Z. im hellenistischen Judentum. Zuerst befassten sich die Übersetzer nur mit der Tora, dann aber auch mit den anderen Büchern, deren Übersetzung bis etwa 100 u. Z. vorlagen. Handschriften, die frühere Versionen der jüdischen Bibel wiedergeben, sind nur in Fragmenten erhalten. War die griechische Bibelübersetzung einem innerjüdischen Bedürfnis entsprungen (viele Juden, vor allem die von Alexandrien, verorteten sich selbst in der Kultur des Hellenismus) und von den Rabbinen zunächst gerühmt worden, so änderte sich das: „Als manche ungenaue Übertragung des hebräischen Textes in der Septuaginta und Übersetzungsfehler die Grundlage für hellenistische Irrlehren abgaben, lehnte man die Septuaginta ab.“11 Nach der Spaltung zwischen Christentum und rabbinischem Judentum im 1. Jahrhundert wurde im Judentum ausschließlich das hebräische Alphabet verwendet.

Die alleinzeugende Macht, die das volle griechische Alphabet der Schrift zuwies – die gesprochene Sprache sollte „nach ihrem Ebenbild“ gestaltet werden – hatte nicht nur Rückwirkungen auf Philosophie und Wissenschaft, später auch auf die theologischen Lehren des Christentums; sie fand auch in den Zeugungstheorien der griechischen Klassik ihren Ausdruck. Laut Aristoteles enthält der männliche Samen alle Komponenten des Lebenskeims in sich, während der mütterliche Körper die „Materie“ (von mater, Mutter) liefert, die durch dieses Prinzip „geformt“ wird.12 Aus diesem Konzept entwickelte sich wiederum die Vorstellung einer männlichen Blutslinie, die vom Prinzip einer geistigen Zeugung bestimmt ist. Von Griechenland ging sie später aufs Christentum über. Während einerseits die Rabbinen das Prinzip jüdischer Matrilinearität auszuformulieren begannen, entwickelte Paulus die Grundlinien einer „christlichen Genealogie“. Zu diesen gehörte auch ein spezifisches Geschlechterverhältnis, das die Frau zur Schöpfung des Mannes erklärte. So lautete seine Begründung für die Forderung nach der Verschleierung der Frau im Gotteshaus: „Zwar darf der Mann seinen Kopf nicht verhüllen, denn er ist Abbild und Abglanz Gottes; die Frau aber [muß es tun, denn sie] ist Abglanz des Mannes. Es stammt ja [ursprünglich] nicht der Mann aus der Frau, sondern die Frau aus dem Manne.“13 Dass Paulus die biologische Realität derartig umkehren konnte, wird nur verständlich, wenn man an die Stelle von „Mann“ und „Frau“ die Begriffe „Schrift“ und „Mündlichkeit“ setzt: Im vollen, griechischen Alphabet ist die gesprochene Sprache nicht die Mutter der Schrift, sondern ihr „Abglanz“. Die Schrift ist es, die die Sprache gestaltet, und diese Umkehrung wird an den Geschlechterrollen exemplifiziert. Kurz, die männlich-zeugende Macht, die dem geschriebenen Wort beigemessen wurde, war einer der Gründe dafür, dass in Griechenland und Rom das patrilineare Prinzip dominierte und dann auch vom Christentum übernommen wurde, das seine Schriftkultur vom Hellenismus und der lateinischen Sprache ableitete.

Die Bedeutung des Sprechens, das von der Leiblichkeit nicht zu trennen ist, bewirkte im Judentum, dass die leibliche Fortpflanzung von zentraler Bedeutung war, während für das Christentum die geistige (väterliche) Genealogie in den Vordergrund rückte und die leibliche ihr nachgeordnet wurde. Die Kirche interessierte sich wenig für die biologische Fortpflanzung – oder nur insofern, als diese dem Geist Realitätsmacht verlieh. Sie galt bestenfalls als „Investition“ des Geistes.14 Auf beiden Seiten übten die Geistlichen, Rabbinen wie christliche Priester, eine strenge Kontrolle über Sexualität und Genealogie aus. Doch das geschah mit unterschiedlicher Zielsetzung. Die Rabbinen wollten auf diese Weise den Erhalt der Gemeinschaft sichern. Bei den christlichen Priestern ging es eher um die geistige Fortpflanzung: im theologischen und später auch im akademischen Sinn von Vätern, die geistige Söhne zeugen.15 Natürlich ist diese Darstellung „jüdischer“ und „christlicher“ Genealogien schematisch gedacht; die historische Realität war vielschichtiger. Entscheidend ist jedoch, dass diese Modelle eng mit den Schriftsystemen zusammenhingen und diese eine erhebliche Wirkmacht entfalteten.

Das Konsonantenalphabet war aber nur ein – und nicht einmal der entscheidende – Faktor bei der Entstehung jüdischer Matrilinearität. Wäre dies der Fall, hätte sich für den Islam eine ähnliche Entwicklung zur mütterlichen Abstammungslinie vollziehen müssen. Denn das arabische Alphabet schreibt ebenfalls nur die Konsonanten. Auch in der muslimischen Kultur spielt die Oralität eine wichtige Rolle und das hat auch einen gewissen Einfluss auf die Geschlechterordnung,16 führt aber nicht zu einer weiblichen Erblinie. Die jüdische Matrilinearität hing vor allem mit den Bedingungen der Diaspora zusammen.

Das Prinzip Patrilinearität

Patrilinearität ist nicht gleich Patriarchat, ebenso wenig wie Matrilinearität mit Matriarchat verwechselt werden darf. Im einen Fall geht es um die genealogische Folge und die Einordnung der Kinder in eine Genealogie mit einer väterlichen oder mütterlichen Erblinie, im anderen um die soziale oder politische Vorherrschaft des einen Geschlechts. In matrilinearen Gesellschaften, die ihre Verwandtschaftsverhältnisse nach dem Gesetz der „Mutterlinie“, „Mutterfolge“ oder „uterinen Deszendenz“ definieren, orientiert sich die Abstammung – mithin auch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft – an einer weiblichen Genealogie. Das Judentum, von dem die Hebräische Bibel erzählt, war patrilinear. Genau genommen handelte es sich bei der von den Rabbinen entwickelten jüdischen Matrilinearität auch um eine Mischform: Zwar wird die Zugehörigkeit zum Judentum seit der Diaspora in weiblicher Erbfolge bestimmt, doch die Familienzugehörigkeit orientiert sich an der väterlichen Seite. So etwa die Zugehörigkeit zum Stamm der „Kohanim“, der in der Nachfolge von Aaron, dem Bruder von Moses, steht. Ähnliches gilt für die Zugehörigkeit zu den „Leviten“, benannt nach dem Stammvater Levi, aus denen sich traditionell die Gelehrten der Gemeinde rekrutierten. Auch die Zugehörigkeit zum sephardischen oder aschkenasischen Judentum orientiert sich am Vater.

Im Fall der Patrilinearität werden Eigentum, soziale Eigenschaften (Ämter) und Familiennamen in väterlicher Linie vererbt. Diese definiert sich zwar als „Blutsverwandtschaft“, faktisch ist dies aber kaum möglich, denn der sichere Vaterschaftsnachweis ist erst seit den 1980er Jahren möglich, dank der Erkenntnisse der Genetik. Die Unsicherheit der Vaterschaft ist einerseits der Grund für die strenge Monogamie patrilinearer Blutslinien; sie impliziert die Forderung nach einer strikten Bewachung der Frau. Andererseits tendieren patrilineare Gesellschaften zu einer „Vergeistigung der Manneskraft“ oder zu Zeugungstheorien, wie sie von Aristoteles formuliert wurden. Im Rahmen der Patrilinearität entstehen so auch „genealogische Fiktionen“, die etwa einem Herrscher (Alexander dem Großen) eine göttliche Herkunft bezeugen oder ein Herrscherhaus (die christlich-europäischen Dynastien) von „sakralem Blut“ ableiten.17 Das Phänomen bewirkt auch sogenannte genealogische Amnesien im Interesse einer Legitimierung gegenwärtiger Machtstrukturen. Die „genealogische Fiktion“ erlaubt es, Idealmodelle zu entwerfen, die wiederum auf die realen Verwandtschaftsstrukturen zurückwirken. Das gilt etwa für die christliche Gesellschaft, der das Konzept einer „geistigen Zeugung“ Christi als Rechtfertigung für kirchliche Genealogien diente.18 Die „genealogische Fiktion“ kann sehr viel leichter in patrilinearen Kulturen entstehen: Da diese den Beweis der Vaterschaft nicht erbringen können, entstehen Freiräume für Imaginationen.

 

Allgemein lässt sich sagen, dass die Patrilinearität Ausdruck einer Dominanz der Kultur über die Natur darstellt. Diese war prä-alphabetisch, wurde aber durch die der phonetischen Schrift inhärente Abstraktion verstärkt. Sigmund Freud hat den Zusammenhang zwischen kultureller Dominanz und Patrilinearität deutlich formuliert. Er bezeichnet den Prozess des „Kulturfortschritts“ als „Wendung von der Mutter zum Vater“ und als „Sieg der Geistigkeit über die Sinnlichkeit“. Seine Erklärung für diese Parallelisierung: „Die Mutterschaft ist durch das Zeugnis der Sinne erwiesen, während die Vaterschaft eine Annahme ist, auf einen Schluß und auf eine Voraussetzung aufgebaut.“19 Der Vater repräsentiert also das „Prinzip Geist“ aus dem einfachen Grund, dass sich die Vaterschaft nicht feststellen lässt. Die Zuweisung des Geistigen an den männlichen Körper basiert damit auf dem Prinzip des pater semper incertus est, das schon das römische Recht kannte. Das ist ein Indiz, dass die Patrilinearität nur so lange aufrechtzuerhalten ist, als sich die Vaterschaft nicht feststellen lässt. Da also die Patrilinearität auf dem Unwissen über die leibliche Vaterschaft beruht, wird sie heute – mit einer genaueren Kenntnis der Zeugungsvorgänge – auch in Frage gestellt. Dieser Hintergrund des patrilinearen Prinzips ist wichtig, um zu verstehen, warum das Judentum bei der Frage der erblichen Zugehörigkeit eine Richtung einschlug, der dem Rest der antiken Welt und auch der eigenen Vorgeschichte konträr war. Es könnte aber auch erklären, warum heute – zumindest im Reformjudentum – das rein matrilineare Prinzip in Frage gestellt wird.

Judentum und Hellenismus

Die Entscheidung zu einer „anderen“ Erblinie hing eng mit der historischen Situation zusammen, in die das Judentum durch die Diaspora geriet. Diese begann schon lange vor der zweiten Zerstörung des Tempels, mit dem Exil in Babylon, wo nicht nur ein Teil der Bibeltexte formuliert und kanonisiert wurde, sondern auch ein Regelwerk entstand, durch das die jüdische Gemeinschaft in der Fremde zusammengehalten werden sollte. Die Kultur Babylons stellte eine geringere Bedrohung für die jüdische Gemeinschaft dar als der Hellenismus, dessen Kultur auf einem ähnlichen Schriftsystem und damit auf einem hohen Grad an Abstraktion basierte. Lange vor der Entstehung des Christentums war der spätere christlich-jüdische Konflikt im Gegensatz griechisch-jüdisch angelegt. Eines seiner Symptome waren die unterschiedlichen Rechtskulturen, die sich – wie später auch beim Verhältnis von Judentum und Christentum – sowohl in Parallele als auch in Konkurrenz zueinander herausbildeten.

Im 7. Jahrhundert v. u. Z. erklärte Josija das „Buch der Lehre“ von Moses, Grundstock von Deuteronomium, zum Gesetzbuch. Laut Israel Finkelstein und Neil A. Silberman erhielt das Buch Exodus in der zweiten Hälfte des 7. oder Anfang des 6. Jahrhunderts v. u. Z. seine endgültige Form.20 Das entspricht in etwa dem Beginn des babylonischen Exils (597 v. u. Z). Nur kurze Zeit später vollzog sich auch in Griechenland ein Prozess der Gesetzeskanonisierung: Ca. 575 v. u. Z. setzte Solon in Athen ein Regelwerk durch, das prägend werden sollte für die griechische Kultur. Josijas Kanonisierung der Tora markiert den Beginn eines praktizierten Monotheismus. Dieser war durchsetzbar, weil er auf der Wirkmacht der (bleibenden) Schrift basierte: Mit einem Buch des Gesetzes aus Mose Hand wurde es möglich, „ein für allemal vollendete Tatsachen zu schaffen, also jeden Versuch einer Kritik an den Maßnahmen bzw. einer Revision als gegen den erklärten und schriftlich nachprüfbaren Willen JHWHs zu brandmarken“.21 Nicht nur bestätigte die unvergängliche Schrift das ewige Wort Gottes, sondern als „Wort Gottes“ konnte die Schrift auch ihrerseits Anspruch darauf erheben, für eine unwiderlegbare Gültigkeit zu stehen. Ähnlich konnte sich Solons Gesetzesreform, die in derselben Epoche und zu einer Zeit formuliert wurde, in der das griechische Alphabet auf das Denken Athens Einfluss nahm,22 nur deshalb durchsetzen, weil sie schriftlich fixiert wurde.

Die Zerstörung des davidischen Tempels und der Beginn des Exils in Babylon – eine erste diasporische Erfahrung – trugen zur Entwicklung einer spezifisch jüdischen Kultur bei und bewirkten, dass jüdische und griechische Denkwelten schon bald in Konkurrenz zueinander gerieten. Im babylonischen Exil entstand etwas Neues: „Ein Volk und eine Religion, die ihre Identität nicht von einem Land und einem Staat ableiten, sondern von Normen wie Beschneidung, Schabbat, Speisegesetzen und einer allgemeinen gemeinsamen Tradition, die unabhängig von einem bestimmten Land ist und überall gelebt werden kann.“23 Gerade weil einige jüdische Gelehrte in der „Babylonisierung“ (Anpassung an Babylon) eine Gefahr sahen, verstärkten sie das von Josija geschaffene religiöse Regelwerk. Die jüdische Gemeinschaft erhielt so eine erste diasporakompatible Konstitution mit Verfassung, Richtlinien usw. (siehe hierzu auch den Beitrag von Liliana Feierstein, S. 99).

Noch im 5. Jahrhundert trat der Unterschied zum Griechentum deutlich zutage. Im Jahr 457 v. u. Z. entsandte der persische Großkönig Artaxerxes I. zwei hohe Staatsbeamte, die der jüdischen Priesteraristokratie angehörten, darunter Esra, nach Jerusalem. Die Perser wollten eine Region beruhigen, deren Aufständische von Athen und dem Attischen Seebund unterstützt wurden. Esra wurde erlaubt, mit einer „Anzahl von Israeliten, Priestern, Leviten, Sängern, Torwächtern und Tempeldienern nach Jerusalem“ zu reisen.24 Im Jahr 440 riefen er und Nehemia die Bevölkerung von Jerusalem vor die Tore der Stadt und ließen die Tora laut verlesen. Hatte es vorher die Propheten gegeben, so begann mit Esra die Epoche der „Schreiber“ und Schriftgelehrten. Sie legten den Grundstein für die Überlieferung der Schrift und machten sie zugleich verständlich.25 Diese Tradition wird seither von den „Bibellesern“ weitergeführt.

Bis zu dieser Aktion blieb die Heilige Schrift Insider-Wissen und ihr Inhalt den Priestern vorbehalten. Nun jedoch wurde die Tora nicht nur laut verlesen, sondern auch ausgelegt: Die Heilige Schrift wurde zum Allgemeinwissen der Gemeinde, und die Befähigung zum Lesen und Schreiben wurde zur Pflicht, zumindest für ihre männlichen Mitglieder. Bis dahin hatte keine andere Kultur oder Religion der alten Welt die allgemeine Schriftkundigkeit propagiert. Im Gegenteil: Je mehr sich die ägyptische Priesterkaste in ihrer Macht bedrängt fühlte, desto unzugänglicher machte sie die heiligen Texte – etwa durch die Vermehrung der Schriftzeichen.26 Ganz anders bei der jüdischen Gemeinschaft. Dort lebte von nun an Gottes Wort in jedem einzelnen Körper seines Volkes, nicht nur bei den Gelehrten und Geistlichen. Im Buch Exodus, das in eben dieser Zeit verfasst wurde, heißt es: Die Israeliten „sollen erkennen, daß ich der Herr, ihr Gott bin, der sie aus Ägypten herausgeführt hat, um in ihrer Mitte zu wohnen“.27 Das bedeutet, so Alfred Marx, dass Gott sein Volk nicht aus Ägypten herausgeführt hat, „um seinem heimatlosen und unterdrückten Volk ein eigenes Land zu geben“, sondern „um in seiner Mitte zu wohnen“. Das Novum gegenüber der vorexilischen Zeit bestehe darin, dass Gott nicht im Tempel, sondern „inmitten Israel“ wohnt. „Diese Wohnung wird jetzt zum Ort schlechthin der Begegnung zwischen Gott und seinem Volk.“28