Handbuch Jüdische Studien

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62„Antigonos, der Gelehrte aus Socho, empfing [die Tora] von Simon dem Gerechten. Er pflegte zu sagen: Seid nicht wie Diener, die ihrem Herrn dienen, um Lohn zu erhalten, sondern seid wie Diener, die ihrem Herrn (aus Liebe) dienen, nicht um Lohn zu erhalten, habt aber Ehrfurcht vor dem Himmel. Jossi, Sohn des Jo’eser, Gelehrter aus Zereda, und Jossi, Sohn des Jochanan, Gelehrter aus Jerusalem, [empfingen die Tora] von Antigonos.“ mAv 3–4.

63mAv 4–5.

64mAv 6–7.

65„Jehuda, Sohn des Tabai, sagt: Sei [du als Richter] kein Rechtsanwalt; stehen die beiden Gerichtsparteien vor dir, betrachte beide als Frevler, gehen sie [nach dem Urteil] von dir weg, betrachte sie als Schuldlose, falls sie das Urteil akzeptiert haben. Simon, Sohn des Schatach, sagt: Frage vermehrt die Zeugen aus, sei aber vorsichtig mit deinen Worten, damit sie [die Zeugen] daraus nicht etwas zum Lügen entnehmen können.“ mAv 8–9.

66„Schemaja sagt: Liebe die Arbeit und hasse das Herrschen, mache dich nicht bekannt mit den Herrschenden. Awtaljon sagt: Ihr Weisen, seid vorsichtig mit euren Worten, ihr könntet zur Verbannung verurteilt und an einen Ort mit schlechtem Wasser [Sitten] verbannt werden; die Schüler, die euch nachfolgen, würden dieses Wasser trinken und sterben, damit wäre der Gottesname entweiht.“ mAv 10–11.

67Ganze Textstelle: „Hillel und Schammai empfingen die Tora von ihnen. Hillel sagt: Sei von den Schülern Aharons, der Frieden liebt und ihm nachjagt, die Menschen liebt und sie der Tora näherbringt. Er pflegte zu sagen: Wer seinen Namen hervorhebt, verliert seinen Namen. Lernt man nichts dazu so nimmt [auch das bereits Gelernte] ab. Wer nicht lernt, macht sich todesschuldig. Wer sich der Tora-Krone [zum Eigennutz] bedient, schwindet dahin. Sorge ich nicht für mich, wer wird für mich sorgen? Sorge ich nur für mich allein, was bin ich dann? Wenn nicht jetzt, wann denn? Schammai sagt: Mache dir das Torastudium zur Hauptsache; versprich wenig, doch tue viel; empfange jeden Menschen mit freundlichem Gesicht.“ mAv 12–15.

68bEr 13b.

69Siehe Steinsaltz, Adin: Persönlichkeiten aus dem Talmud, Basel 1996.

70bNed 28a, Git 10b; BQ 113a; BB 54b–55a.

71bShab 31a.

72Jerusalemer Talmud in dt. Übersetzung, Tübingen, seit 1975.

73Babylonischer Talmud, ins Deutsche übertragen von Lazarus Goldschmidt, Frankfurt/Main 1996 (1967).

74Siehe Neusner, Jacob: Talmud Torah: Ways To God’s Presence Through Learning. An Exercise in Practical Theology, New York; Oxford 2002.

Diaspora

Liliana Ruth Feierstein

Einführung

Wenn ein Wort jüdische Geschichte und Erfahrungen evoziert, dann ist es „Diaspora“. Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet ein griechisches Wort diese Bedeutung in der jüdischen Kultur einnimmt. Darin kristallisieren sich einige wesentliche Züge der jüdischen Geschichte: eine komplexe und originelle Dialektik von Exil und Domizil,1 der Kontakt mit anderen Kulturen sowie die Übernahme und Adaptation einiger ihrer Elemente, sodass im Zusammenspiel etwas Neues entstehen kann, ohne dabei die kulturellen Unterschiede zu negieren oder gar aufzugeben.

Der Begriff Diaspora bezeichnet sowohl die Territorien außerhalb eines „Zentrums“ als auch die Menschen, die die dazugehörigen Gemeinden bilden, und schließt die conditio des diasporischen Lebens mit ein. Er umfasst somit – wie viele andere polysemische Begriffe im Judentum – mehrere Bedeutungsinhalte und verhält sich ähnlich wie der Name „Israel“, der laut der Tora dem Patriarchen Jakob nach seinem Ringen mit einem „Mann“ verliehen wurde (Gen 32,23–33) und später zum Namen eines Volkes (Jakobs Nachkommen, die zwölf Stämme, – im 2. Buch Mose 1,1 – zählten zu den bnei israel, den Kindern Israels) und eines Landes (eretz israel) erklärt wurde.

Emmanuel Lévinas hebt die Differenz zwischen der griechischen und der jüdischen Narrative hervor: Während sich Odysseus auf die Reise begibt, um nach Ithaka (und zu sich selbst) zurückzukehren, bricht Abraham – dem göttlichen Imperativ folgend – gleichzeitig mit zwei miteinander verbundenen Prinzipien: dem Götzendienst und dem konkreten Vater-Land. Der Hebräer kehrt nicht nach Hause zurück, sondern folgt dem Wort, dem Versprechen zum Gesetz, hin zur Abstraktion. Die jüdische Narration schöpft ihre Kraft aus dem lech lecha, Gottes Befehl an Abraham, das Land seiner Vorväter (und Götzendiener) zu verlassen, um in das „Gelobte Land“ zu ziehen – in die Zukunft. Das Land Israel ist demzufolge nicht als eretz moledet (Geburtsland) zu verstehen, sondern als ein Versprechen. Das Gelobte Land ist nicht gleich Vaterland.

Das vermutete „Zentrum“, das als Pendant zu „Diaspora“ fungiert, ist indes kein politisches, denn seit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 existierte kein an ein Land bzw. eine Stadt gebundenes religiöses oder politisches Zentrum mehr. Mit der Niederschlagung des Aufstands unter der Führung von Simon bar Kochba im Jahr 135 wurde das Versprechen bzw. die Hoffnung, in das „Land der Verheißung“ zurückzukehren, auf das messianische Zeitalter verschoben und somit von der politischen auf die religiöse Ebene verlagert.2 Parallel entwickelte sich eine Reihe von Praktiken und Ritualen, die die Opfergabe im Tempel ersetzen sollten, im Wesentlichen das Studium und das Ausführen der mitzwot. Auch die Gebete wurden in Anlehnung an die einstigen Opferzeiten von nun an dreimal am Tag verrichtet (schacharit, mincha und maariv). Die Schrift (der Tanach, etwas später der Talmud) wurde als neues „geographisches Zentrum“ gedeutet – eine Besonderheit, die das Judentum durch die Weisheit der Gelehrten in eine Buchstabengeographie gründen lässt.

In diesem Sinne hat Daniel Boyarin sein letztes Buch A Travelling Homeland: The Babylonian Talmud as Diaspora genannt (siehe auch den Beitrag von Daniel Boyarin, S. 59).3 Darin zeigt er, wie beide Talmudausgaben (Jerusalemer Talmud und Babylonischer Talmud) eine Diaspora für die jeweils andere bildet. Die Dynamik zwischen dem Zentrum und den Rändern variiert stetig: Während die Gelehrten in Babylon behaupteten, Zion sei aufgrund der dort versammelten Weisheit in Babylon zu finden, bekräftigten andere Stimmen weiterhin die Zentralität Jerusalems.

„Diaspora“ wird häufig als galut, golah oder tfutzot israel (die Zerstreuung des Volkes Israels) ins Hebräische zurückübersetzt. Die Komplexität der Sprachen und Narrative erfordert ein umfassendes Verständnis und eine Berücksichtigung verschiedener Konnotationen, historischer Sichtweisen und Gegendarstellungen, die aufgrund der Dialektik der Diaspora untrennbar miteinander verbunden sind.

Die „Entleerung“ eines Begriffes

Seit den 1970er Jahren wird in den Sozial- und Kulturwissenschaften ein zunehmend inflationärer Gebrauch des Diaspora-Begriffs festgestellt.4 Typologisierende Definitionen5 führen zu einer Missachtung der „diasporischen Bedingtheit“6 und gehen mit einem mangelnden Verständnis des theoretischen, historischen und kulturellen Hintergrunds des Diaspora-Begriffs einher. Dies bewirkt nicht nur seine Banalisierung, sondern nimmt ihm das Potential, dominante Ordnungen – wie das gegenwärtig in erster Linie territoriale Konzept des Nationalstaats – in Frage zu stellen. Durch die Ausdehnung auf alle möglichen Gemeinschaften, die sich außerhalb eines als ursprünglich vorgestellten Territoriums (oder „Zentrums“) befinden, wird die Originalität der Idee (die in der Möglichkeit einer extra-territorialen Kultur besteht, basierend auf der „Heimat in der Schrift“ bzw. der Sprache) neutralisiert. Stattdessen bedeutet sie die Rückkehr zu einem geographischen Denken, das die Idee einer kulturellen Gemeinschaft an die Logik eines fest umrissenen physischen Raums bindet. Entgegen der kulturwissenschaftlichen Intention verstärkt die Anwendung des Konzepts die territoriale Dimension eher, als sie kritisch zu hinterfragen, und trägt so zur Festigung eines dichotomen Denkens bei, indem sie als Rahmen den Gegensatz Zentrum/Peripherie setzt.

Die jüdische Geschichte des Konzepts Diaspora erlaubt hingegen, sie von einem anderen Ausgangspunkt zu denken. Schon bevor der Begriff zu einer „Mode“ wurde, hatten sich einige wenige Gruppen seiner bedient, um ihre Situation zu beschreiben – darunter Afro-Amerikaner, Armenier (nach dem Genozid) sowie Sinti und Roma. Ihnen ist die Erfahrung einer nichtterritorial gebundenen Kultur sowie das Überleben nach einer traumatischen Geschichte gemeinsam. Doch vielleicht liegt der Schlüssel zu einem besseren Verständnis des Diaspora-Begriffs nicht nur in der Geographie, sondern auch und insbesondere in der Sprache: Am Anfang stand eine Übersetzung.

Die Septuaginta

Das Wort Diaspora taucht erstmals in der Septuaginta auf, der ältesten, in Alexandrien verfassten griechischen Übersetzung der Tora. Der Legende nach, die im Aristeas-Brief bzw. im Meg 9a, Sof 1,8 festgehalten ist, wurde diese von 72 aus Jerusalem berufenen Rabbinen (je sechs aus den zwölf Stämmen Israels) in 72 Tagen angefertigt (einige Versionen erwähnen 70 Rabbinen, daher Septuaginta, andere wiederum nur fünf – für die fünf Bücher Mose). Es wird erzählt, dass die Gelehrten unabhängig voneinander zu einem identischen Übersetzungsergebnis gelangten, was wiederum als rhetorische Stilfigur zur Legitimation der Übertragung des heiligen Textes gedeutet werden kann.

Obwohl die Entstehung der Septuaginta historisch bis dato nicht exakt zu rekonstruieren ist (siehe auch den Beitrag von Stefan Schreiner, S. 147), handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich um eine kollektive Übersetzung: Die stilistischen Eigenheiten innerhalb des Textes sowie die in den einzelnen Passagen erkennbar unterschiedlichen Hebräisch- und Griechischkenntnisse lassen vermuten, dass der Text von mehreren Autoren verfasst wurde – vielleicht sogar zu verschiedenen Zeiten.

 

Die Septuaginta zählt zu den größten kulturellen Leistungen des hellenistischen Judentums. Im Rahmen dieser bemerkenswerten Übersetzung übertrugen jüdische Gelehrte den gesamten Tanach in die damalige Weltsprache. Sie ist zugleich als eine Transgression, eine Überschreitung des damaligen jüdischen Horizonts zu verstehen, als ein Umdenken und Umformulieren in eine andere Vorstellungswelt. Mit ihr fand das hellenistische Judentum seine Heimat in der hellenistischen Diaspora. Die Septuaginta leistete einen enormen Beitrag zur Verbreitung des Monotheismus, des Judentums und der Bibel (biblia – nochmals ein griechischer Begriff), als diese zusammen mit Jerusalem unterzugehen drohte. Dass im Griechischen das Nomen biblia gewählt wurde, womit eher „das Buch“ als „die Lehre“ (wie in der Tora) gemeint ist, erinnert an den Aristeas-Brief, der die Entstehung der Septuaginta auf die Anregung des königlichen Bibliothekars Demetrios von Phaleron zurückführt.

Das monumentale Werk ist selbst ein Diaspora-Phänomen – von Diaspora-Juden in Ägypten vollbracht. Der heilige Text wird nicht nur in eine andere Sprache, sondern auch in eine andere Zeit und Kultur übertragen: Er bleibt gleich und gleichzeitig verschieden. So wird z. B. aus Tora nomos (das Gesetz) – die hebräische (Be-)Deutung von Lehre oder Weisung ging dabei verloren, was u. a. Konsequenzen für die christliche Theologie und deren Verständnis vom Judentum als starrer Gesetzesreligion nach sich zog. Aus dem Versuch, tohu-wa-bohu (Chaos, Durcheinander) auf Griechisch zu denken, wurde etwa ahótatos kai akataskeuástos, was so viel wie „unbearbeitet“ (also noch nicht in den Erschaffungsprozess der Welt eingegangen) oder „unstrukturiert“ bedeutet – und somit nicht sichtbar bzw. visuell wahrnehmbar ist, da nur das Strukturierte, das Konturen aufweist, visuell zugänglich ist.

Die jüdischen Gelehrten, welche die Septuaginta erarbeiteten, gingen kreativ und souverän mit der griechischen Sprache um und entwarfen zahlreiche Neologismen – (Wort-) Neubildungen und -prägungen, die es in der Gräzität zuvor noch nicht gegeben hatte. Sie universalisierten die jüdische Bibel. Die griechischen Intellektuellen faszinierte vor allem der strenge Monotheismus ohne ein anthropomorphes Kultbild, da sich hierbei Berührungspunkte mit Ansätzen und Ideen der griechischen Philosophie ergaben – etwa bei Xenophanes, der die Geistigkeit und Unanschaulichkeit des Göttlichen hervorhob.

Erst als die Christen im griechisch-römischen Kulturkreis die Septuaginta zu ihrer Bibel erklärten, verlor sie an Bedeutung in der jüdischen Welt. Ohne die Übernahme durch das Christentum wäre sie vielleicht zu der maßgebenden jüdischen Bibel avanciert, samt ihrer hellenistisch-liberalen Interpretation des Judentums.

Galut, gerusch, tfutzot (Exil, Vertreibung, Zerstreuung)

Wie bereits erwähnt, existierte das Wort Diaspora vor der Septuaginta nicht im Altgriechischen und stellte eine (vielleicht die interessanteste) Neuprägung der Übersetzer dar: die Substantivierung des Verbes diaspeíro (zerstreuen bzw. säen). Gegenwärtig werden Diskussionen darüber geführt, ob dieser Neologismus damals positiv oder negativ konnotiert war und die Zerstreuung auch neues Leben mit sich bringen sollte, denn einige Philologen erkennen darin eine Verbindung zu dem Wort Samen.7

Aktuellere Abhandlungen trennen Diaspora häufig von dem hebräischen Wort galut (meist als „kollektives Exil“ übersetzt), mit dem Argument, dass an nahezu keiner Stelle, in der der Begriff Diaspora in der Septuaginta vorkommt, im Original galut steht. Mit dem Neologismus Diaspora übersetzten die Gelehrten verschiedene hebräische Begriffe – jedoch nicht galut bzw. Worte aus der hebräischen Wurzel glh.8 Einige Autoren bevorzugen Diaspora als Übersetzung von tfutzot (im Sinne von Zerstreuung, sowohl als Prozess, als conditio, als auch in Bezug auf die verstreuten jüdischen Gemeinden) und behaupten, es handele sich dabei um eine positive, freiwillige Entscheidung und einen Gegenbegriff zu galut als negativ konnotiertes Exil (und biblische Strafe) – wobei tfuzot in der Tora ebenfalls als Strafe für die Nichtbefolgung von Gottes Gebot genannt wird.9

Eine derartige Unterscheidung von galut und tfutzot wird indes weder der Vielfalt und Polysemie der Begriffe noch ihrer Genealogie gerecht. In dem monumentalen etymologischen Werk von Eben Shoshan sind interessanterweise u. a. folgende Bedeutungen unter golah aufgeführt:

1. Ausreise/Migration aus dem Geburtsland (eretz ha’moledet), Auszug in ein fremdes Land.

2. Tfutzot Israel in verschiedenen Ländern sowie die Länder, in die das Volk (ha’am) vertrieben wurde.

3. Die Kinder der golah (bnei ha’golah).10

Unter dem Eintrag tfutzot ist wiederum zu lesen: „Im übertragenen Sinn: golah, galut, makom (Ort) oder eretz (Land), wohin die Menschen vertrieben worden sind: tfutzat tejman (Jemen), tfutzat polin (Polen).“11 Hieran wird deutlich, dass die beiden Begriffe nicht klar voneinander abzugrenzen sind und sogar im Konzept des jeweils anderen erwähnt werden.

Verwirrend sind nicht nur die Vermischung von galut und tfutzot, sondern auch die Beschreibungen und Definitionen von Geburtsland (eretz moledet). Wie bereits erwähnt, lautet Gottes Befehl an Abram12: lech lecha me’arzecha ve’moladetecha umi’beit avicha, el ha’arez ascher arecha („Ziehe hinweg aus deinem Lande, deinem Geburtsorte und deines Vaters Haus in das Land, das ich dir zeigen werde.“13). Hier steht unmissverständlich „ziehe hinweg aus moladetecha, deinem Geburtsorte“, doch das Gelobte Land wird nicht zu arzecha (deinem Land), denn Generationen später, bei der Ankunft in Israel, eröffnet Gott seinem Volk, dass es hier lediglich zu Gast sei, denn „das Land ist mein. Ihr seid nur Fremdlinge und Geduldete auf meinem Boden“.14 Es ist diese Paradoxie aus (De-)Territorialisierung und dem komplexen Wechselspiel aus Vergangenheit (Land der Vorväter und Götzendiener, Geburtsland) und Zukunft (das Gelobte Land, Monotheismus), die den Reichtum dieser Begriffe ausmacht. Die Paradoxie ist zudem mit dem messianischen Zeitbegriff verbunden, der sich im Althebräischen grammatikalisch u. a. in einem Buchstaben – dem sogenannten Waw conversivum (dem „umkehrenden Waw“, waw ha-hipukh) – ausdrückt, der die Zukunft in die Vergangenheit „umkehren“ kann.

In Anbetracht dieser komplexen jüdischen Raum- und Zeitvorstellungen hat Yosef Hayim Yerushalmi eine spannende Deutung von galut vorgeschlagen: die Dialektik von Exil und Domizil.15 Obwohl die wiederholten kollektiven Exile der jüdischen Geschichte mit zahlreichen Katastrophen verbunden waren, so haben sich dennoch viele der Exilgemeinden mit den Jahren (wie z. B. im emblematischsten aller Exile, dem babylonischen) in Horte geistiger Blüte und materieller Prosperität verwandelt und die Spuren der Gewalt mit positiven Erfahrungen vermischt. Die Vertreibung und die damit einhergehenden Gefühle der Niederlage und Trauer sind seitdem im kulturellen Gedächtnis verankert – innerhalb einer Realität, die jedoch gänzlich andere Konturen aufweist. Denn „Exil und Domizil“ stehen, wie Yerushalmi betont, „nur oberflächlich betrachtet miteinander im Widerspruch. Tatsächlich haben sie oft in einem dialektischen Spannungsverhältnis koexistiert“.16 Man fühlte sich religiös im Exil, existenziell aber zu Hause.

Schon der große jüdische Historiker Simon Dubnow hatte die jüdische Diaspora als „kulturelles Ferment und Fortschrittskraft“ einer Gesellschaft geschildert (diese Metapher für eine kulturelle Minderheit, die innerhalb der Mehrheitsgesellschaft eine erstaunliche Kraft und Wirkungsmacht entfaltet, wird sich wie ein roter Faden durch die jüdische Literatur und Publizistik ziehen). Dubnow erinnert daran, dass die jüdische Diaspora, obwohl sie in den Quellen oft als Strafe und Unglück beschrieben wird, von mittelalterlichen Kommentatoren wie Raschi als eine Chance gesehen wurde, nicht nur die Samen des Monotheismus in der ganzen Welt zu zerstreuen, sondern auch als Möglichkeit zu überleben: Ein verstreutes Volk kann nicht mit einem Schlag ausgelöscht werden.17

Diese Überlegungen Simon Dubnows wurden in Form eines Eintrags in der Encyclopaedia of the Social Sciences 1931 veröffentlicht. Es ist kein Zufall, dass gerade Simon Dubnow als Erfinder des „Diaspora-Nationalismus“, der auf autonome jüdische Gemeinden innerhalb anderer politischer Ordnungen zielte, gebeten wurde, diesen Eintrag zu verfassen. Auf den ersten Blick wirkt der Inhalt etwas verwirrend, denn Dubnow führt zunächst die griechische und anschließend die armenische Diaspora an, bevor er auf die jüdische Geschichte eingeht: „Diaspora has its equivalents in the Hebrew word galut (exile) and golah (the exiled).“18 Die theoretischen Diskussionen der letzten Jahre vertreten indes genau das Gegenteil – dass Diaspora und galut (Exil) nicht äquivalent seien, da Diaspora eine nicht erzwungene Zerstreuung bezeichne.19

Der zweite in die Encyclopaedia aufgenommene Beitrag zu diesem Thema erscheint unter dem Lemma „Exil“ und wurde von dem italienischen Geschichtsphilosophen Guido De Ruggiero verfasst. De Ruggiero bezieht sich darin auf die griechisch-römische Tradition des exilium, der Verbannung in die Fremde – zunächst als Möglichkeit, um einer Todesstrafe zu entgehen. Bei einem Vergleich der beiden Aufsätze treten die Unterschiede deutlich zutage, denn De Ruggiero stellt die individuelle Perspektive in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen: Exil als individuelle (mildere) Strafe aufgrund eines Verbrechens (oder aus politischen Gründen). Interessanterweise stammt der älteste der zitierten Präzedenzfälle aus der Tora – wobei der Exil-Begriff in diesem Kontext nichts mit galut gemein hat, sondern auf „Flucht-Städte“ (arej miklat) verweist, in denen einzelne Personen, die ungewollt jemanden getötet haben, Asyl finden konnten, um der Rache der Angehörigen zu entgehen. Lediglich am Ende des Artikels behandelt De Ruggiero den Fall des kollektiven Exils aus politischen Gründen – in der damaligen Zeit ein aktuelles Thema, angesichts des bereits bestehenden faschistischen Regimes unter Benito Mussolini in Italien.

Galut ist, anders als Exil, immer kollektiv zu verstehen. Nicht eine Handlung (oder politisches Denken) wird bestraft, sondern ein Teil eines Volkes (unabhängig davon, wie die einzelnen Individuen handeln oder denken): Dieses Volk wird nicht von einer zentralen Macht (einer Regierung, einem Königreich o. Ä.) in die Verbannung geschickt, sondern von einer externen (fremden) politischen Macht etwa in die Sklaverei verschleppt. Aufgrund dieser Erfahrung werden die Juden nach der bekannten jiddischen Redensart selbst den goles schlepn. So lernten sie Textzeilen frühzeitig als Zufluchtsorte kennen, wie in dem beliebten Kinderlied Oyfn Pripetshik von Mark Warshawsky, in dem ein Rabbi kleinen Kindern das hebräische Alphabet (alef-beys) lehrt, zu hören ist:

Zet-sche kinderlech /Ir wet, kinder, elter wern /Wet ir alein farschtejn /wifln in di ojses lign trern, un wifl gewejn! //Zet-sche kinderlech /As ir wet, kinder, dem goles schlepn /ojsgemutschet zajn /Zolt ir fun die ojses kojech schepn, kukt in zej arajn!

(Kinder ihr werdet älter werden /und von selbst verstehen, /wie viel Tränen in den Buchstaben sind /und wie viel Weinen! //Kinder, wenn ihr dann die Bürde des Exils tragt /und euch damit quält, /sollt ihr Kraft aus den Buchstaben schöpfen, /schaut in sie hinein!).

Wie Yosef Hayim Yerushalmi treffend beschreibt, ist das Gefühl der galut (ursprünglich) vor allem auf das Jahr 70 zurückzuführen und weniger dem Verlust des Landes als dem des Tempels geschuldet.20 Doch diese Dialektik ist nicht nur in der Geschichte zu finden, sondern auch in den Worten selbst.

Die Schriften wurden in die Diaspora mitgenommen bzw. in ihr fortgeschrieben. Es gibt noch immer eine laschon hakodesch, eine heilige Sprache – deren Heiligkeit viel stärker ist, als die des Heiligen Landes. Das Gelobte Land wurde zu einer Metapher in der Diaspora – in Boyarins Worten „palimpsestiert“, wodurch verschiedene „Jerusalem(e)“ wie Toledo, Thessaloniki, Frankfurt oder Prag entstanden.21 In Los gauchos judios, dem Klassiker der jüdisch-lateinamerikanischen Literatur, wird diese Umdeutung des Gelobten Landes mit den konkreten Lebensumständen in Verbindung gebracht: „Eben darum vergaß ich, als Rabbi Zadock Kahn mir unsere Auswanderung verkündete, über meiner Freude die Rückkehr nach Jerusalem und erinnerte mich an die Verse des Jehuda Halevi: Zion ist, wo Freude und Friede herrscht.“22 Fast zwei Jahrtausende zuvor behaupteten die Rabbinen aus Babylon, dass Zion bei ihnen weilte, denn entscheidend war nicht die Geographie, sondern das Wissen – weswegen sich das „Zentrum“ mit den jüdischen Gelehrten immer wieder auf den Weg begab: nach Italien, Sepharad, Vilnius – den Zentren der jüdischen Weisheit folgend.23

 

Für Simon Dubnow ist nicht die Zerstreuung das Außergewöhnliche der jüdischen Geschichte, sondern das erkennbare Weiterleben der jüdischen Kultur innerhalb so verschiedener Kulturen – trotz jahrhundertelanger Wanderschaft ohne verlässlichen Schutz oder Unterstützung von Seiten eines „Heimatlandes“ oder eines anderweitigen Verbündeten.24 In der Diaspora und insbesondere nach der Verlagerung und Umdeutung des religiösen Zentrums vom Tempel in die Schrift bleibt das Hebräische als heilige Sprache der Texte erhalten, während die jüdischen Gemeinden ihre (Alltags-)Sprachen in Anlehnung an die der jeweiligen Mehrheitsgesellschaften weiterentwickeln (Judeospanisch, Jiddisch, Judeoarabisch). Diese „Mischsprachen“ enthalten viele Elemente aus dem Hebräischen und werden oft in otijot, hebräischen Buchstaben, geschrieben – wodurch sie mit der heiligen Sprache auch materiell verbunden bleiben.

Die Dialektik von Diaspora bzw. galut als Fluch und Segen zugleich ist nicht nur in der Geschichte zu finden. Auch in den Quellen wird sie thematisiert – etwa in der mystischen Interpretation von Jizchak Luria, der in der Diaspora die Aufgabe sieht, die seit der Erschaffung der Welt verstreuten göttlichen Funken (nitzotzot) aufzulesen und wieder einzusammeln. Diese dialektische Kraft wohnt sogar den Worten selbst inne: Aus galut und golah erschallt – zumindest akustisch – hitgalut – die Offenbarung. Dies deckt sich mit der jüdischen Narrative, der zufolge die Offenbarung am Berg Sinai und nicht in Israel stattgefunden hat – außerhalb des Zentrums, am Rande. Wir wissen nicht einmal genau wo.

Diese Ansicht teilt auch Daniel Boyarin, der den Talmud (und sein Studium) als „das portative Vaterland“ darstellt, der wunderbaren Metapher von Heinrich Heine folgend.

Das portative Vaterland

Die Erinnerung an die Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem ist eine noch offene Wunde im kulturellen Gedächtnis des Judentums. Aufgrund des Gebots Zachor! (Erinnere dich!)25 gibt es einen Trauertag im jüdischen Kalender, der an diese Zerstörung und andere Katastrophen, wie die Vertreibung aus Spanien 1492, erinnern soll. Tischa b’Aw, der 9. des Monats Aw, ist so auf verschiedenste Weise mit der schmerzhaften Erfahrung des Exils verbunden.

Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels entsteht ein neues Konzept des Judentums. Rabbi Jochanan ben Zakkai bat den römischen Kaiser der Überlieferung nach um Erlaubnis, in Jabne eine Schule für das Studium der Tora eröffnen zu dürfen, die niemals geschlossen werden sollte – nicht einmal für den Wiederaufbau des Tempels. Sigmund Freud erkannte die Bedeutung dieser Geste: Seitdem – so schrieb er einmal – konnte das unsichtbare Gebäude des Judentums erbaut werden.26 Von diesem Moment an begann das jüdische Volk in der Schrift zu leben.

Heinrich Heine hat wie kein anderer intuitiv die Funktion erfasst, die dieser gemeinsame Ort für ein im Exil verstreutes Volk erfüllt:

Ein Buch ist ihr Vaterland, ihr Besitz, ihr Herrscher, ihr Glück und ihr Unglück. Sie leben in den Marken dieses Buches, hier üben sie ihr Bürgerrecht, hier kann man sie nicht wegjagen, nicht verachten, hier sind sie stark und bewunderungswürdig […].27 Für die wandernden Juden, für das Volk des Buches war das Buch das ‚portative Vaterland‘.28

Selbst Gott lebt seit dieser Zeit in der Schrift, „jener prekären Heimstatt“, wie Emmanuel Lévinas sie nannte, denn im Talmud steht geschrieben: „Seitdem die Heiligkeit zerstört wurde, hat der Heilige in dieser Welt nur noch die vier Ellen der Halacha.“29

So gewann die Schrift eine vielgestaltige und komplexe Bedeutung in der jüdischen Kultur und Geschichte und wurde zu einer Art metaphorischem Territorium, in dem das am ha’sefer,„das Volk des Buches“, zu Hause war. Dieses Territorium, ein eigener, abgesteckter und geschützter Raum, bot einen Ort, dem man sich zugehörig fühlte. So formuliert es auch Heine in einem Brief an Eduard Gans, in dem er über die persönliche Widmung seines letzten Buches schreibt: „Ich habe diesen Namen (sc. Rahel Varnhagen), der mir so lieb ist, an den Eingangspfosten meines Buches angeschlagen, und es ist mir dadurch wöhnlicher und gesicherter geworden. Auch unsere Bücher müssen ihre Mesuse haben.“30

Neben dem metaphorischen Territorium der Schrift existiert ein zusätzlicher geographischer Raum, der für die jüdische Narrative konstitutiv ist: die Wüste. Sie ist der Tradition nach nicht leer, sondern voller Wörter; sie ist der Raum, in dem das Gesetz übergeben wurde. „In dieser Wüste kann nichts wachsen, außer Wörter“, bemerkt Edmond Jabès, zeigt dabei die Verbindung von Sand und Wort auf und beschreibt die Suche nach diesem Exilterritorium: „Ich habe ein Land verlassen, das nicht das meine war, für ein anderes, das auch nicht das meine war. Ich habe mich geflüchtet in eine Vokabel aus Tinte – und hatte das Buch als Raum.“31

Das Buch als fürsorgliches Heimatland, das weder Visum noch Reisepass verlangt, ein sicherer Ort zum Leben. In den Worten von George Steiner:

Wie eine Schnecke, die Fühler zur Bedrohung hin ausgerichtet, hat der Jude das Haus des Textes auf dem Rücken getragen. Welches andere Domizil ist ihm gewährt worden? […]32 Der Text ist das Zuhause, jeder Kommentar eine Heimkehr.33

Schabbat: Die Zeit bewohnen

Extra-territoriales Denken und diasporisches Leben prägen die jüdische Tradition von Anbeginn: der Vertreibung aus dem Garten Eden. Im Grunde ist der gesamte Tanach ein Reisebericht. Dies steht im Gesetz geschrieben und ist sogar im ersten Gebot präsent: „Ich [bin] dein Gott, der dich aus dem Lande Mizrajim [Ägypten] geführt und aus der Sklaverei befreit hat.“ (2. Buch Mose 20,2) Weitere Auswanderungen prägen die jüdische Geschichte, etwa jene nach Babylon oder in das Römische Reich. Ein festes (geographisches) Zentrum existiert nicht mehr, der Hebräer befindet sich stets auf dem Weg, und der Weg ist die Halacha, das jüdische Gesetz (das Wort halacha leitet sich vom Verb lalechet,„gehen“, ab).

Diese Tradition begründet somit einen Gegenentwurf zu der Sakralisierung des Territoriums, die mit dem Bilderverbot einhergeht: Die Bindung soll nicht zu einem Land, sondern zum Gesetz bestehen. Die Sakralisierung des Landes – der Geographien, der Materie – folgt aus jüdischer Perspektive einer ähnlichen Logik wie der Götzendienst. Lévinas schreibt dazu:

Jedes Wort ist entwurzelt. […] Das Heidentum ist die Verwurzelung […]. Das Aufkommen der Schrift ist nicht die Unterordnung des Geistes unter den Buchstaben, sondern der Ersatz des Bodens durch den Buchstaben. Der Geist ist im Buchstaben frei und gefesselt an die Wurzel.34

In den letzten Versen der Tora wird der Tod Moses erzählt. Die Rabbinen haben oft darüber diskutiert, wer diese Zeilen verfasst haben mag, denn gemäß der Tradition hat Moses selbst die Tora geschrieben. Einige deuten es so: Er hat sie geschrieben – mit seinen Tränen.35

Und Gott sprach zu ihm: Das ist das Land, das ich Abraham, Isaak und Jakob zugeschworen habe, indem ich sprach: Deinen Nachkommen werde ich es geben. Ich habe es dich mit deinen Augen sehen lassen, aber du sollst nicht nach dort hinübergehen. Und Mose, der Knecht des Herrn, starb dort im Land Moab nach dem Wort Gottes. Und er begrub ihn im Tal, im Land Moab, Bet-Peor gegenüber; und niemand kennt sein Grab bis auf diesen Tag. (5. Buch Mose 34, 4–6).