Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland

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7.5.4 Friesisch in den sozialen Medien

Bislang liegt erst eine Untersuchung zur Frage von Nordfriesisch in den sozialen Medien vor (Heyen 2020).1 Hier wird zwischen sichtbarer und unsichtbarer Sprache unterschieden. Mit sichtbarer Sprache sind öffentlich zugängliche Webseiten gemeint, die Friesisch anwenden. Das Friesische hat hier teilweise eine Symbolfunktion, kann sich aber auch in der Darstellung eines vollwertigen Angebotes wiederfinden. Da die Sprache bei privaten Internetnutzern meist unsichtbar ist, weil sie größtenteils nur in privaten Unterhaltungen genutzt wird, wurden erste Erkenntnisse durch eine Fragebogenaktion gewonnen.

Die Studie zeigt, dass viele Friesischsprecher in ihrer alltäglichen, digitalen, internetbasierten Kommunikation Friesisch gebrauchen. Die am häufigsten verwendeten Dialekte sind Föhrerfriesisch, Amrumerfriesisch und Mooring vom Festland. Das Kommunikationsverhalten aus der Offline-Welt spiegelt sich weitgehend in der Online-Welt wider. In beiden Fällen hindert die Reichweitebegrenzung den Gebrauch des Friesischen, so dass in einer nicht-privaten Situation das Deutsche eher zum Zuge kommt. Dies führt dazu, dass Nordfriesisch insbesondere in privaten Nachrichten über Messenger-Dienste wie WhatsApp gebraucht wird. Eine Hemmschwelle für den Gebrauch des Friesischen ist die Unsicherheit in der friesischen Orthographie.

7.5.5 Friesisch in Wikipedia

Seit 2010 existiert eine nordfriesische Wikipedia, die mit zirka 8.500 Einträgen unter der Adresse frr.wikipedia.org zu finden ist (Jessen 2015).

7.6 Literatur, Theater, Musik und weitere kulturelle Felder
7.6.1 Friesische Literatur

Die literarische Produktion im Friesischen ist seit ihrem Anfang im Jahre 1809 spärlich geblieben, auch wenn es in den letzten Jahren Bemühungen gegeben hat, dies zu steigern (vgl. Kap. 7.6.5).1 Wegen des Ausbaus des friesischen Schulunterrichts besteht ein Teil der heutigen Produktion aus Kinderbüchern. Bei der Erwachsenenliteratur handelt es sich meist um Erinnerungen aus alten Zeiten, Kurzgeschichten, Gedichte und Theaterstücke. Eine Festlandfriesin (Jahrgang 1924) bildet eine rühmliche Ausnahme, da sie heute noch größere Werke auf Festlandfriesisch schreibt (Tholund 2014). Die häufigen Übersetzungen bergen ihre eigene Problematik, da der fremdsprachige kulturelle Hintergrund und die fremdsprachliche Struktur noch durchschimmern können.

Der Mangel an Literatur ist oft darauf zurückgeführt worden, dass man in Nordfriesland nicht auf Friesisch schreiben kann oder will. Inzwischen haben jedoch verschiedene Schreibwettbewerbe gezeigt, dass es in Nordfriesland (und auch außerhalb) durchaus potentielle Schriftsteller gibt, die es zu mobilisieren gilt. Probleme bereitet nach wie vor die Orthographie, so dass alle Schriften vor einer eventuellen Veröffentlichung von kompetenten Kräften durchgesehen werden müssen.

Aufgrund der Dialektvielfalt und des Fehlens einer überdialektalen Norm erscheinen Bücher entweder in einem Dialekt oder sie müssen gleichzeitig in mehrere Dialekte übersetzt werden. Das hat unmittelbare wirtschaftliche Rückwirkungen, da dadurch nur niedrige Auflagen möglich sind, die sich für keinen Verlag rentieren.

Problematisch ist auch die Finanzierung friesischer Bücher. Obwohl sich die finanzielle Unterstützung der friesischen Volksgruppe über die Jahre verbessert hat, müssen häufig Sponsoren für die Publikation von Büchern gesucht werden. Die Herausgabe des Kinderbuches Paul an Emma snaake fering (‚Paul und Emma sprechen Föhrerfriesisch‘) im Jahr 2018 wurde zum Beispiel durch die Unterstützung von vier Sponsoren ermöglicht.

7.6.2 Verlage mit friesischen Büchern

Es gibt verschiedene Verlage in Nordfriesland, die friesische Bücher in ihrem Sortiment haben. Im Folgenden werden die wichtigsten aufgeführt:

 Der in Husum ansässige Verlag „Husum Druck- und Verlagsgesellschaft“ hat einige Bücher auf Friesisch publiziert, insbesondere in Zusammenarbeit mit der Ferring Stiftung auf Föhr.1

 Auf der Insel Amrum befindet sich der Verlag „Jens Quedens“ mit einem breiten Sortiment an Nordfriesland – insbesondere die Insel Amrum – betreffenden sowie friesischsprachigen Büchern (Quedens 2019).2

 Die Ferring Stiftung auf der Insel Föhr fungiert auch als Verlag.3 Zwei Spezialitäten sind die Produktion von föhrerfriesischer Literatur in Zusammenarbeit mit den Friesischkursen am Gymnasium in Wyk sowie die Dokumentation der inselfriesischen Sprachkultur (Redewendungen, Kinderreime) in Zusammenarbeit mit einer Gruppe von Muttersprachlerinnen.

 Der nordfriesische Verein Frasche Feriin for e Ååstermååre verfügt über einen kleinen Verlag im Andersen-Haus in Risum-Lindholm.4

 Die Nordfriesische Wörterbuchstelle bzw. das Fach Friesische Philologie der Universität Kiel hatte früher in Zusammenarbeit mit der Freien Universität Amsterdam die Reihe Co-Frisica. Als 1992 die Frisistik in Amsterdam eingestellt wurde, begann eine Kooperation mit der Frysk Ynstitút der Universität Groningen mit der Reihe Estrikken/Ålstråke (Walker 2015b). Hier sind inzwischen 110 Bände erschienen.5

 Das Nordfriesische Institut in Bredstedt fungiert auch als Verlag mit Büchern über Nordfrieslands Sprache, Geschichte und Kultur.6 Von Zeit zu Zeit erscheinen Verzeichnisse mit dem Verlagsangebot.

Die Friisk Foriining, der Verlag „Jens Quedens“ und das Nordfriesische Institut haben nicht nur Bücher, sondern auch Grußkarten in verschiedenen friesischen Mundarten im Sortiment.

7.6.3 Friesisch im Theater

Das friesische Theater kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Den Beginn der friesischen Literatur markiert 1809 die Komödie „Der Geitzhals oder der Silter Petritag“ des Küsters und Navigationslehrers Jap. P. Hansen auf der Insel Sylt. Nachdem Laienspielgruppen viele Jahre sowohl auf den Inseln als auch auf dem Festland aktiv waren, finden Theatervorstellungen heute häufiger auf dem Festland statt. Im Andersen-Haus in Risum-Lindholm wird zum Beispiel alljährlich eine friesische Komödie von der sehr beliebten Theatergruppe Frasch Klüüs (‚Friesischer Vorhang‘) mehrmals aufgeführt.1

Um die friesische Theater-Arbeit zu modernisieren und zu professionalisieren, wurden 2004 erstmalig Seminare für Laienspieler und -spielerinnen abgehalten (Arfsten 2004). Ein Jahr später trat bei der Friisk Foriining erstmalig die Jugend-Theatergruppe Dolores auf. 2014 fand als Novum ein friesisches Musical in Niebüll statt, und 2016 wurde der Verein Et Nordfriisk Teooter (‚Das Nordfriesische Theater‘) gegründet, der „das Potenzial besitzt, eine Schlüsselrolle in der nordfriesischen Kulturarbeit einzunehmen“ (Bosse 2017) und der 2017 ein modernes Theaterstück in Leck aufführte. Im selben Jahr folgten zwei weitere Stücke (Hoop 2017) und 2018 das zweite Musical (Nommensen 2018). Interessant ist hier nicht nur die neue, moderne Ausrichtung des Theatervereins, sondern auch die Tatsache, dass die Initiatoren und Schauspieler und -spielerinnen zu einem guten Teil „new speakers“ der friesischen Sprache sind. Theater gilt jedenfalls als geeignetes pädagogisches Instrument für den Spracherwerb (Hilpert 2005).

Auch in der Schule wird oft Theater in Form von Sketchen bei festlichen Anlässen aufgeführt und auf Sylt findet am Ende der winterlichen Volkshochschulkurse ein Abschlussabend mit friesischem Puppenspiel statt (Jessen 2016).

7.6.4 Friesisch in der Musik

Obwohl der Satz „Frisia non cantat“ oft zitiert wird, spielt Musik in Nordfriesland eine wichtige Rolle. Es gibt eine Vielfalt an Chören, die friesische, nieder- und hochdeutsche Lieder singen und die an mehrsprachigen Sängerfesten teilnehmen (Nordfriisk Instituut 2006, Hahn 2018). Ferner haben einzelne Vereine ihre eigenen Gesangsgruppen, zum Beispiel Da Frasche Loosche (‚Die friesischen Lerchen‘) und Da Latje Loosche (‚Die kleinen Lerchen‘) vom Frasche Feriin for e Ååstermååre in Risum-Lindholm, oder Da Säkstante1 (‚Die Sextanten‘) von der Friisk Foriining. Auf Festen tragen oft Schulkinder in Begleitung ihrer Lehrer und Lehrerinnen mehrsprachige Lieder vor, und schließlich ergreift auch das Publikum manchmal gerne die Initiative zum Singen.

Eine ungewöhnlich hohe Zahl von Liederbüchern weist das Lied als die populärste Literaturgattung des Nordfriesischen aus. Von besonderer identitätsstiftender Bedeutung sind die Lieder, die quasi den Rang von Nationalhymnen angenommen haben, zum Beispiel „Üüs Sölring Lön“ (‚Unser Sylt‘) für Sylt, „Frinjer, Leet’s Bewaare Üsens Fering Spriik“ (‚Freunde, Lasst Uns Bewahren Unsere Friesische Sprache‘) auf Föhr, und „Min Öömrang Lun“ (‚Mein Amrum‘) auf Amrum (Wilts 2001c: 407). Inzwischen ist das auf dem Festland besonders beliebte Lied „Gölj, Rüüdj, Ween“ (‚Gold, Rot, Blau‘) als Kreishymne angenommen und in andere Sprachen übersetzt worden (Nordfriisk Instituut 2015b).

Von den Musikgruppen mit friesischen Liedern im Repertoire dürften Kalüün2 von Föhr sowie das Dragseth Duo (Johannsen 2020)3 und die 30 Personen umfassende Gruppe Klångspal vom Festland am bekanntesten sein.4 Weitere Gruppen sind die Band Lembeck5 und neuerdings die Gruppe Frisia non cantat.

Inzwischen gibt es ein gewisses Angebot an friesischer Musik und Erzählungen auf diversen Tonträgern, zum Beispiel Schallplatten, Kassetten, CDs und DVDs. Die ersten Schallplatten mit friesischen Liedern dürften „Ihr solltet mich nicht vergessen“ (1973) und „Leeder vun mien Freesenhof“ (1976) vom Liedermacher Knut Kiesewetter sein, die ersten Schallplatten mit ausschließlich friesischen Liedern dürfte Anke Moritzen aus dem Herrenkoog 1980 und einige Jahre davor aufgenommen haben (Holander 1980). 1986 ist auf Initiative der Schule in Fahretoft die Schallplatte „Bai üs tu hüs“ (‚Bei uns zu Hause‘) mit friesischen Liedern und Erzählungen erschienen (Johannsen 1987a). In den letzten Jahren sind mehrere CDs mit friesischen Liedern veröffentlicht worden, zum Beispiel „Hiimstoun“ (‚Heimat‘) vom Dragseth Duo zusammen mit Drones & Bellows (2004) und „Spöören“ (‚Spuren‘) von der Gruppe Kalüün (2014).6

 

7.6.5 Friesische Wettbewerbe

Im Laufe der Jahre sind mehrere Wettbewerbe entstanden, die der Förderung des Friesischen dienen.

Um die spärliche Literaturproduktion in friesischer Sprache zu fördern, wurde 1989 ein friesischer Schreibwettbewerb vom Nordfriesischen Institut und der Ferring Stiftung initiiert (Johannsen 1989). Diesen Gedanken griffen 2001 der NDR 1 Welle Nord und das Nordfriesische Institut in Bredstedt mit dem Schreibwettbewerb Ferteel iinjsen! (‚Erzähl mal!‘) wieder auf (Pingel 2001a). Die gesammelten Geschichten werden entweder in Buchform herausgegeben oder erscheinen als einzelne Erzählungen in der Zeitschrift Nordfriesland. Im Jahre 2018 erfolgte bereits der 10. Schreibwettbewerb.

2004 fand ein ähnlicher Schreibwettbewerb in den Sprachen Friesisch, Jütisch und Niederdeutsch statt. Der Wettbewerb hieß Schriw et ap! Schriev dat op! Skryv de op! (‚Schreib es auf!‘). Hier ging es darum, eine Zeitungsreportage über eine Person mit einem ungewöhnlichen Hobby zu schreiben. Die besten Artikel wurden prämiert und in den örtlichen Zeitungen veröffentlicht (Nordfriisk Instituut 2004).

In Anlehnung an den niederdeutschen Lesewettbewerb „Schüler lesen Platt“ wurde 1987 der erste friesische Lesewettbewerb für Kinder von der 2. bis zur 13. Klasse durchgeführt (Johannsen 1987b). Für diesen und die folgenden Wettbewerbe wurden Hefte mit friesischen Texten in mehreren Mundarten herausgegeben. Der achte und scheinbar letzte Lesewettbewerb fand 2009 statt.

Im Rahmen der Aktion „Sprachenland Nordfriesland“ (Peters-Bruhn/Bies 1998, Tadsen 2000) entstand 2001 der Wettbewerb „Sprachenfreundliche Gemeinde“. Hier werden in unregelmäßigen Abständen Gemeinden ausgezeichnet, die die regionalen Sprachen Nordfrieslands im öffentlichen Leben besonders fördern (Pingel 2002).

2009 hat die Arbeitsgruppe „Sprache und Literatur“ des Nordfriesischen Instituts zwei Wettbewerbe ausgeschrieben. Beim ersten ging es darum, das schönste Wort des Jahres zu finden (Vanselow 2009). Beim zweiten handelte es sich um die erste „Tams-Jörgensen-Preisaufgabe“, die nach dem ersten Leiter des Instituts benannt ist. Hier sollte ein Rätsel gelöst werden (Laabs 2009). Bislang hat es vier solche Preisaufgaben gegeben.

2010 wurde ein Musikwettbewerb ins Leben gerufen, dessen Ziel es war, mehr Menschen Mut zu machen, auf Friesisch zu singen. Der dritte Wettbewerb fand 2017 statt (Nordfriisk Instituut 2017b).

2011 folgte ein Wettbewerb, in dem es um die Frage ging, wer der größte Nordfriese aller Zeiten wäre. Vorsorglich wurde darauf hingewiesen, dass lebende Personen nicht genannt werden durften (Kunz 2011, Steensen 2011b).

7.6.6 Preise, die in Nordfriesland vergeben werden

Der bedeutendste Preis im Kreis Nordfriesland ist der Hans-Momsen-Preis, der seit 1986 jährlich vom Kreis Nordfriesland an Persönlichkeiten verliehen wird, die sich in besonderer Weise um das kulturelle Leben in Nordfriesland einschließlich der Sprachenvielfalt verdient gemacht haben.1

In Erinnerung an die Verdienste des Chronisten Christian Peter Hansen wird auf der Insel Sylt seit 1960 der C.-P.-Hansen-Preis für besondere Leistungen in Bezug auf die Bewahrung der friesischen Sprache, der Kultur, des Brauchtums und der Natur vergeben.2

Der Frasche Feriin for e Ååstermååre verleiht seit 2001 einen Kulturpreis für Einsatz und Engagement für die friesische Kultur und Sprache.

Seit 2001 wird in unregelmäßigen Abständen der Christian-Feddersen-Preis für nordfriesische Schüler und Schülerinnen verliehen, die sich besonders mit der friesischen Sprache, Geschichte und Kultur befasst haben (Pingel 2001b). 2016 wurde der Preis das letzte Mal verliehen.

Die Schleswig-Holsteinische Universitätsgesellschaft an der Universität Kiel vergibt jedes Jahr den Professor-Miethke-Förderpreis. In den Jahren 2015/16 hieß das Thema „Schleswig-Holstein: Ein Land mit vielen Sprachen“. 2015 erhielt die Nis-Albrecht-Johannsen-Schule in Lindholm den 2. Preis für das langjährige Projekt Friesisch in der Schule.

7.6.7 Friesisch im Krankenhaus

2008 erschien eine Schrift zum Thema Niederdeutsch und Friesisch im Krankenhaus und in der Pflege, die darauf aufmerksam machte, dass dieser Aspekt der Sprachenpolitik bei der friesischen Volksgruppe bislang kaum beachtet worden war (Bundesraat för Nedderdüütsch).

8 Die soziolinguistische Situation
8.1 Das Friesische

Das Friesische ist eine westgermanische Sprache, die am nächsten mit dem Englischen verwandt ist. Sie besteht aus drei Zweigen: dem Westfriesischen in der niederländischen Provinz Fryslân/Friesland (ca. 400.000 Sprecher) (Gorter 2001), dem Ostfriesischen (Saterfriesischen) im Saterland in der Nähe von Oldenburg i.O. (ca. 2.000 Sprecher) (Fort 2001; vgl. Peters in diesem Band) und dem Nordfriesischen im Kreis Nordfriesland sowie auf der Insel Helgoland. Friesisch gehört zu den Minderheitensprachen, die keinen Nationalstaat haben.1

Das Nordfriesische gilt als eine der am stärksten gefährdeten Sprachen Europas und landet in einer Untersuchung zur Vitalität von 48 Minderheitensprachen in Europa mit sechs von 28 möglichen Punkten auf Platz 35 (Nelde et al. 1996: 65). Auch im UNESCO Red Book on Endangered Languages: Europe wird die Sprache als eine „seriously endangered language“ eingestuft (Salminen 1999).2

Heute besteht das Nordfriesische aus neun Hauptmundarten (s. Abb. 2).3 Diese unterscheiden sich teilweise so stark, dass eine Verständigung auf Friesisch häufig nur schwer möglich ist. Daher neigen Sprecher unterschiedlicher Mundarten vielfach dazu, für Kommunikationszwecke auf eine Lingua franca auszuweichen. Dies war früher das Niederdeutsche, heute ist es weitgehend das Hochdeutsche. Es hat sich jedoch gezeigt, dass durch eine verstärkte interdialektale Zusammenarbeit Sprecher unterschiedlicher Dialekte lernen können, sich auf Friesisch zu verständigen.


Abb. 2: Gliederung der nordfriesischen Mundarten4

Die durch den unterschiedlichen Zeitpunkt der Besiedlung bedingte wichtigste Mundartgrenze liegt zwischen den inselfriesischen Mundarten von Sylt, Föhr, Amrum und Helgoland einerseits und den festlandfriesischen Mundarten einschließlich der Halligmundarten andererseits. Andere Gründe für die Entstehung der Dialektzersplitterung waren die Abgeschiedenheit der einzelnen Dörfer und die relative Unzugänglichkeit (Sumpf- und Moorgebiete sowie im Winter kaum passierbare Kleiwege) sowie der unterschiedliche Einfluss der benachbarten Sprachen Dänisch (Jütisch) und Niederdeutsch. In den nördlichen festland- und inselfriesischen Mundarten ist der dänische Einfluss stärker spürbar, während die südlichen festlandfriesischen Mundarten und das Helgoländische eher vom Niederdeutschen beeinflusst sind. Ferner hat es nie einen zentralen Ort gegeben, der dialektausgleichend gewirkt hätte.

Im Gegensatz etwa zum Rätoromanischen mit der übergeordneten Schriftnorm „Rumantsch Grischun“ gibt es im Nordfriesischen keine einheitliche friesische Schriftsprache. Jede einzelne Mundart hat ihre eigene Orthographie (Wilts 2001a). Wörterbücher und Formenlehren sind inzwischen für die meisten Mundarten erstellt worden (Walker/Wilts 2001, Wilts 2001b).

8.2 Sprache in Nordfriesland

Jedes Dorf in Nordfriesland ist sprachlich heterogen, da die einzelnen Einwohner über unterschiedliche Sprachkenntnisse verfügen. Die in Kap. 3.1 vorgenommene grobe Einteilung der Sprachen bedeutet nur, dass in den jeweiligen Gebieten ein gewisser Prozentsatz der autochthonen Bevölkerung die einzelnen Sprachen beherrscht. Dieser Prozentsatz variiert von Dorf zu Dorf.

Bei den Sprachen existiert eine gewisse Hierarchie: Friesisch/Jütisch → Niederdeutsch → Hochdeutsch. Dies bedeutet, dass Sprecher des Friesischen und/oder des Jütischen oft auch Kenntnisse des Niederdeutschen und auf jeden Fall des Hochdeutschen haben. Verhältnismäßig wenige Niederdeutschsprecher verfügen über Kenntnisse des Friesischen und/oder des Jütischen, sprechen aber alle Hochdeutsch. Nicht alle Hochdeutschsprecher sprechen Niederdeutsch, und noch weniger können Friesisch und/oder Jütisch. Dänischkenntnisse (Rigsdansk) haben Mitglieder der dänischen Minderheit, die verstreut über das ganze Gebiet leben, sowie Personen, die in Verbindung zur Minderheit stehen, ohne selbst Mitglieder zu sein. Sprachkenntnisse entstehen auch auf Grund eines wirtschaftlichen Interesses, etwa im Handel und Fremdenverkehr, oder durch Kontakt zu Dänemark zum Beispiel durch Verwandtschaft, Freunde oder wirtschaftliche Verbindungen.

Die indviduelle Sprachkompetenz reicht von hochdeutscher Einsprachigkeit bis hin zur Fünfsprachigkeit mit Hochdeutsch, Niederdeutsch, Friesisch, Dänisch und Jütisch. Bei der individuellen Mehrsprachigkeit sind verschiedene Konfigurationen möglich. Infolge eines Umzuges oder familienbedingt – zum Beispiel Mutter Inselfriesin, Vater Festlandfriese – beherrschen Friesen manchmal zwei friesische Mundarten.1 Durch die engen Beziehungen zu den USA verfügen viele Föhrer und Amrumer außerdem über gute Englischkenntnisse. Die gestiegene Mobilität, insbesondere der jüngeren Generation, führt ebenfalls zunehmend zur Verbreitung von Englischkenntnissen.

Der Gebrauch der Sprachen hängt von verschiedenen Faktoren ab (Walker 2009). In der Regel weiß jede Person in Nordfriesland, welche Sprache sie mit jeder anderen ihr bekannten Person sprechen kann. Dies ist der primäre Faktor bei der Sprachwahl im Gespräch. In der Domäne „Laden“ hängt zum Beispiel die zu verwendende Sprache von der üblichen zwischen Verkäufer und Kunde benutzten Sprachvarietät ab, nicht von der Domäne an sich. Wer üblicherweise miteinander Friesisch spricht, tut es auch hier. Das Thema kann allerdings die Sprachwahl beeinflussen. Bei einem Gespräch zum Beispiel in der Bank kann das informelle Gespräch auf Friesisch oder Niederdeutsch erfolgen, wenn es aber um eine finanzielle Transaktion geht, kann dies zu einem Code-Wechsel, nämlich zum Hochdeutschen führen. Dies kann damit zusammenhängen, dass der in hochdeutscher Sprache ausgebildete Bankangestellte ein formelles Gespräch mit Fachvokabeln nur auf Hochdeutsch führen kann oder will. Dieser Gedanke kann wiederum durch einen weiteren Faktor, das Sprachbewusstsein, außer Kraft gesetzt werden. Der sprachbewusste Kunde könnte darauf bestehen, das Gespräch auf Friesisch oder Niederdeutsch fortzusetzen, allerdings unter Verwendung vieler Ad-hoc-Entlehnungen.

In einem weiteren Beispiel kann die Sprache im Zwiegespräch ebenfalls gemäß dem Thema wechseln. Der Sprechende kann sich nach der Sprache der Person richten, über die gerade gesprochen wird. Im auf Friesisch geführten Gespräch wechselt er ins Niederdeutsche, wenn er von den niederdeutschsprechenden Nachbarn erzählt. Auf Hochdeutsch geht es weiter, wenn über die Politiker in Kiel gesprochen wird, auf Dänisch, wenn der dänische Schulverein Gegenstand des Gesprächs ist. Das setzt natürlich voraus, dass der Gesprächspartner ebenfalls Kenntnisse in diesen Sprachen besitzt.

Im Gespräch in geselliger Runde kann die Sprachwahl ständig wechseln. Ein Sprechender richtet sich nach seinem momentanen Gesprächspartner. Wenn er gerade jemandem in die Augen schaut, mit dem er normalerweise Friesisch spricht, wird diese Sprache auch benutzt. Wenn er aber dann einer anderen Person in die Augen schaut, mit der er Niederdeutsch spricht, ist ein sofortiger Code-Wechsel zum Niederdeutschen hin nicht unüblich.