Geist und Leben 3/2015

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Antworten auf den Ersten Weltkrieg

Hugo Ball flieht also zusammen mit Emmy Hennings vor dem Dienst im Ersten Weltkrieg nach Zürich. Hier kündigt sich seine fundamentale Gesellschaftskritik bereits deutlich an, wenn er zu dem von ihm gegründeten Cabaret Voltaire meint, dass jedes darin gesprochene und gesungene Wort besage, „dass es der erniedrigenden Zeit nicht gelungen ist uns Respekt abzunötigen.“25 Und „[d]ie grandiosen Schlachtfeste und kannibalischen Heldentaten? Unsere freiwillige Torheit, unsere Begeisterung für die Illusion wird sie zuschanden machen.“26 An der ersten Dada-Soirée am 14. Juli 1916 im Zunfthaus zur Waag verkündet Ball: „Wie erlangt man die ewige Seligkeit? Indem man Dada sagt (…) Dada ist die Weltseele, Dada ist der Clou, Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt.“27 Der für ihn mit Krieg und Vernichtung unglaubwürdig gewordenen „Hochkultur“ schleudert er Nonsens entgegen. Aber dieser Bruch mit der Kultur genügt Ball noch nicht.

Als Dichter, Schriftsteller und Journalist schockiert ihn die Instrumentalisierung der Sprache für die Kriegspropaganda.28 Er spricht von einer „vermaledeite(n) Sprache, an der Schmutz klebt.“29 Im Eröffnungsmanifest des ersten Dada-Abends betont er die öffentliche Dimension von Sprache: „Das Wort, das Wort, das Weh gerade an diesem Ort, das Wort, meine Herren, ist eine öffentliche Angelegenheit.“30 Dada ist zuerst einmal „der Bruch mit dieser Sprache, die Lautgedichte eine politische Aktion.“31 Denn „[b]ei der Sprache muss die Läuterung beginnen, die Imagination gereinigt werden.“32

In einer ersten Reaktion auf den Militarismus dient ihm die Sprache zur Produktion von inhaltlichem Nonsens. Anschließend geht er noch einen Schritt weiter und zerstört die semantische Ebene. Dies kündigt sich mit dem bruitistischen Krippenspiel an und findet schließlich Ausdruck in der genannten Aufführung von Verse ohne Worte am 23. Juni 1916 im Kostüm eines kubistischen Bischofs.33

Verse ohne Worte – oder Lautgedichte

„gadji beri bimba

glandridi lauli lonni cadori

gadjama bim beri glassala

glandridi glassala tuffm i zimbrabim

blassa galassala tuffm i zumbrabim (…)“.34

„Ich habe eine neue Gattung von Versen erfunden“35, schreibt Ball nach der Aufführung im Zürcher Cabaret Voltaire in sein Tagebuch, „(…) ‚Verse ohne Worte‘ oder Lautgedichte, in denen das Balancement der Vokale nur nach dem Werte der Ansatzreihe erwogen und ausgeteilt wird. Die ersten dieser vier Verse habe ich heute Abend vorgelesen.“36 In seinem Tagebuch Die Flucht aus der Zeit beschreibt Ball die Inszenierung des Lautgedichts auf der Bühne und wie es ihm dabei ergangen ist.37 Er konstruiert sich für die Aufführung des Lautgedichts eigens ein obeliskenförmiges, blauglänzendes Kostüm aus Karton.38 Besondere Erwähnung findet in seiner Beschreibung der riesige, innen scharlachfarbene und außen golden beklebte Kragen aus Pappe, den er mit den Ellbogen flügelartig bewegen kann. Auf dem Kopf trägt er einen gestreiften Schamanenhut. Da sich Ball in seinem Kostüm nicht fortbewegen kann, wird er im verdunkelten Raum auf die Bühne getragen. Dort wendet er sich zuerst mit einigen „programmatischen Worten“39 an das Publikum. Auf drei Notenständern liegen die Manuskripte Gadj beri bimba, Zug der Elefanten und Wolken. Langsam und feierlich beginnt Ball das Lautgedicht zu sprechen. „Die Akzente wurden schwerer, der Ausdruck steigerte sich in der Verschärfung der Konsonanten. Ich merkte sehr bald, dass meine Ausdrucksmittel, wenn ich ernst bleiben wollte (und das wollte ich um jeden Preis) dem Pomp meiner Inszenierung nicht würden gewachsen sein (…). Ich hatte jetzt rechts am Notenständer ‚Labadas Gesang an die Wolken‘ und links die ‚Elefantenkarawane‘ absolviert und wandte mich wieder zur mittleren Staffelei, fleißig mit den Flügeln schlagend. Die schweren Vokalreihen und der schleppende Rhythmus der Elefanten hatten mir eben noch eine letzte Steigerung erlaubt. Wie sollte ich’s aber zu Ende führen? Da bemerkte ich, dass meine Stimme, der kein anderer Weg mehr blieb, die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation annahm, jenen Stil des Messgesangs, wie er durch die katholischen Kirchen des Morgen- und Abendlandes wehklagt. Ich weiß nicht, was mir diese Musik eingab (…) Einen Moment lang schien mir, als tauche in meiner kubistischen Maske ein bleiches, verstörtes Jungengesicht auf, jenes halb erschrockene, halb neugierige Gesicht eines zehnjährigen Knaben, der in den Totenmessen und Hochämtern seiner Heimatpfarrei zitternd und gierig am Munde des Priesters hängt. Da erlosch, wie ich es bestellt hatte, das elektrische Licht, und ich wurde vom Podium herab schweißbedeckt als ein magischer Bischof in die Versenkung getragen.“40

Wenige Monate später, am 8. Oktober 1916, während der Abendandacht im Tessiner Dorf Vira denkt Ball erneut über die Aufführung nach und schreibt dazu: „Mein Bischofskostüm und mein lamentabler Ausbruch bei der letzten Soiree beschäftigen mich. Der Voltairesche Rahmen, in dem das stattfand, war dafür wenig geeignet und mein Inneres nicht darauf vorbereitet. Das Memento mori der katholischen Kirche gewinnt in dieser Zeit eine neue Bedeutung. Der Tod ist die Antithese des irdischen Wirrwarrs und Plunders. Das steckt einem tiefer, als man weiß.“41

Dass Balls Reinigung der Sprache durch die Zerstörung der Semantik religiös durchdrungen ist, zeigt sich in der Darstellung als kubistischer Bischof und in der priesterlichen Lamentation.


Fotografie von Hugo Ball als kubistischem Bischof, möglicherweise aufgenommen von Sophie Täuber-Arp; zur Verfügung gestellt von der Hugo-Ball-Sammlung, Pirmasens.

Offenbarung Gottes in der Sprache

Ist die Semantik der alten verschmutzten Sprache nun zerstört, öffnet sich Ball in einer dritten Phase eine neue geläuterte Sprache, die sich zunächst in Stummheit äußert. Das Schweigen und die Stille entdeckt Hugo Ball, während rundum die Kanonen des Ersten Weltkriegs dröhnen und verwundete Soldaten schreien. Mit dieser akustischen Antithese zum Krieg wendet er sich einer spirituellen Innerlichkeit zu, dem Dichter entsprechend auf der sprachlichen Ebene. „Die Sprache Gottes bedarf nicht der menschlichen Sprache, um sich verständlich zu machen. Unsere vielgepriesene Seelenkunde reicht nicht hierhin. Eher noch die versunkene ächzende Stummheit der Fische. Die Sprache Gottes hat Zeit, viel Zeit, und Ruhe, viel Ruhe (…) Ihre Vokabeln sind über Laut und Schrift. Ihre Lettern zucken in jenen Kurven des Schicksals, die plötzlich mit einer Lichtflut durch unser Bewusstsein schneiden.“42 Die göttliche Sprache unterscheidet sich von der menschlichen wesentlich. Sie gleicht eher der „Stummheit der Fische“ und findet in einer anderen Zeitdimension statt. Trotz dieser Andersartigkeit kann sie unvermittelt ins Leben eindringen und das Bewusstsein erhellen. Dieses Einschneiden der göttlichen Sprache in das menschliche Bewusstsein hat nicht etwa Glückseligkeit zur Folge, sondern Leiden: „Die Sprache ist die Substanz im Menschenbereich, und zwar die Sprache Gottes (…) Das Göttliche Wort ist ein Ergreifen im Innersten. Eine Bewegung zu Gott hin, ein Erleiden Gottes ist die Folge. Wer am meisten erleidet, wird am meisten ergriffen sein. Je tiefer wir den Ruf vernehmen, desto tiefer leiden wir.“43 In diesem Erleiden findet Ball aus dem Schweigen zur Sprache zurück. Diese ist freilich nicht mehr dieselbe wie vor der Flucht nach Zürich, sondern die von ihm ersehnte geläuterte Sprache. Und diese Sprache führt ihn zuerst zum Gebet. „Mehr und mehr beginne ich zu begreifen, dass das Gebetbuch meine eigenste Sache in wenigen Sätzen enthält (…), dass man zur Kirche erst dann wahrhaft gehört, wenn man dieses Buch liest, als habe man es selbst geschrieben (…) Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, und vielleicht vermag ihn kein Einzelner niemals zurückzulegen. Es ist gewiss so.“44 Aber er findet auch wieder zu einer Sprache als Dichter. „Das Zeichen des Christentums ist das Kreuz und sein Wesen der Gott-Mensch. Haben wir eine gekreuzigte Dichtung? Eine Dichtung, die aus dem göttlichen und dem menschlichen Leide zugleich geboren wird? Dichtung und Kreuz! Empfindet unsere Zeit hierbei nicht einen peinlichen Widerspruch?“45

 

Die christliche Dichtung als Widerspruch zum Militarismus seiner Zeit führt Ball schließlich zur monastischen Spiritualität als Gegenprogramm zum tobenden Ungeist seiner Zeit. Anstelle des kubistischen Bischofs nimmt nun der Säulenheilige Simeon der Stylit diesen Gegenpart ein. Im Byzantinischen Christentum kommt Ball denn auch auf die Wortalchimie der Dada-Zeit zurück.46 Diese wertet er nun als Bestandteil seines Lebensweges hin zu den Kirchenvätern und zur Liturgie. „Manch einer hat sich durch Wünsche und Träume, durch die Magie des Wortes derart in den Schwur verstrickt, dass er sich unbewusst für den Rest seines Daseins zu einem sakramentalen Leben verpflichtete, wenn er nicht als Verräter am eigenen Geist wollte erfunden werden.“47 Verstrickten sich die Dadaisten in ein Sprachspiel, so sieht Ball nun Simeon den Styliten in die göttliche Sprache verstrickt, Johannes Klimakos in die heiligen Zeichen versenkt.

Schlussbetrachtung

In der Erschließung von Balls Lebenswerk bisher wenig Beachtung gefunden hat die Sprache als Ort der Gottesbegegnung.49 Nach der physischen Flucht vor dem Krieg, führt die Flucht des Dichters ihn aus der von der Kriegsrhetorik verdorbenen Sprache auf eine weite Reise: vom Lautgedicht über das Schweigen, das Gebet und die christliche Dichtung zu den Eremiten der Wüste. Es genügt ihm nicht, gegen den Militarismus anzuschreiben. Das tut er zwar auch und begibt sich dadurch in Widerspruch zu seinem Bestreben, die „vermaledeite“ Sprache zu reinigen. R. Guardini verwies zu Recht auf diesen wunden Punkt.50 Für die heutige christliche Spiritualität ist Ball aber nicht in erster Linie als Hagiograph oder Verfasser religiös-politischer Schriften von Bedeutung. Von Interesse ist v.a. sein Zeugnis für die Begegnung mit Gott in der Sprache. Die Sprache dient dabei nicht als Transportmittel für religiöse Inhalte, sondern sie ist es selber, in der sich Gott offenbart. „Es ist allein der Klang der elementaren Silben, die Intonation und der Gestus, die Hugo Ball in die tiefste Schicht, in den letzten, heiligsten Bezirk der Sprache hineinführen, die ihn die religiöse Macht des Laute-Sprechens bzw. Tönens erfahren lassen. Die zerschlagene Sprache enthält also Unzerstörbares, Heiliges.“51 Balls Schilderung von der Zerstörung der Semantik lässt an einen Zauberlehrlings denken, der von der Auswirkung seines Tuns überwältigt wird. Diese Berührung mit Gott sollte den Dadaisten für sein restliches Leben prägen und zur monastischen Spiritualität führen. Seine Heiligen sind Simeon der Stylit, Johannes Klimakos und Dionysius Areopagita. In ihnen findet er eine Antithese zum tobenden Militarismus seiner Zeit.

1Vgl. J. Stiglmayr, in: ZAM 3 (1928), 75-79.

2Siehe auch J. Stiglmayr über Ball in der ZkTh 47 (1923).

3Vgl. R. Guardini, Heilige Gestalt. Von Büchern und mehr als von Büchern, in: Die Schildgenossen 4 (1923/24), 256-263.

4Vgl. O. Casel, in: Jahrbuch für Liturgiewissenschaft 4 (1924), 373f.

5B. Echte ‚Ein sonderbarer Heiliger. Einleitende Überlegungen zu seinem Leben und Werk, in: B. Wacker (Hrsg.), Dionysius DADA Areopagita. Hugo Ball und die Kritik der Moderne. Paderborn 1996, 13-40, hier: 13.

6M. Braun (Hrsg.), Hugo Ball. Der magische Bischof der Avantgarde. Heidelberg 2011.

7Vgl. E. Hennings, Hugo Balls Weg zu Gott. München 1931, 15f.

8Vgl. ebd., 8 [s. Anm. 7].

9Vgl. ebd., 11 [s. Anm. 7].

10 Ebd., [s. Anm. 7].

11 Vgl. ebd., 21 [s. Anm. 7].

12 Vgl. ebd., [s. Anm. 7].

13 Vgl. W.-M. Stock, Denkumsturz. Hugo Ball. Eine intellektuelle Biographie. Göttingen 2012, 12.

14 Vgl. ebd., 14 [s. Anm. 13].

15 Vgl. E. Hennings, Weg zu Gott, 61 [s. Anm. 7].

16 Vgl. W.-M.Stock, Denkumsturz, 14 [s. Anm. 13].

17 Vgl. ebd., 37 [s. Anm. 13].

18 Vgl. E. Hennings, Weg zu Gott, 63 [s. Anm. 7].

19 H. Ball, Die Flucht aus der Zeit. Luzern 1946, 98ff.

20 Vgl. E. Hennings, Weg zu Gott, 66ff [s. Anm. 7].

21 Vgl. W.-M. Stock, Denkumsturz, 12 [s. Anm. 13].

22 Die überarbeitete Fassung von Die Folgen der Reformation trägt in der 2. Aufl. den Titel Zur Kritik der deutschen Intelligenz.

23 Vgl. E. Hennings, Weg zu Gott, 130f [s. Anm. 7].

24 Vgl. ebd., 178 [s. Anm. 7].

25 Vgl. ebd., 62 [s. Anm. 7].

26 Vgl. ebd., 62 [s. Anm. 7].

27 H. Ball, Eröffnungs-Manifest, 1. Dada-Abend Zürich, 14. Juli 1916, In: E. Faul (Hrsg.), Zinnoberzack, Zeter und Mordio. Alle DADA-Texte, 12f.

28 Vgl. W.-M. Stock, Denkumsturz, 44 [s. Anm. 13].

29 H. Ball, Eröffnungs-Manifest, 13 [s. Anm. 27].

30 Ebd. [s. Anm. 27].

31 W.-M. Stock, Denkumsturz, 44 [s. Anm. 13].

32 Ball Hugo, Die Flucht aus der Zeit, 106 [s. Anm. 19].

33 Ebd., 98ff. [s. Anm. 19].

34 Ebd., 99 [s. Anm. 19].

35 Ebd., 98 [s. Anm. 19].

36 Ebd., [s. Anm. 19].

37 Mit Die Flucht aus der Zeit veröffentlichte Ball einen nachträglich überarbeiteten Auszug seines Tagebuches. Da die unbearbeitete Version nicht zugänglich ist, kann nicht verifiziert werden, ob es sich bei seinen religiösen Interpretationen um spätere Eintragungen in den Text handelt, was hier aber nicht von Bedeutung ist.

38 Vgl. ebd., 98ff. [s. Anm. 19].

39 Ebd.,100 [s. Anm. 19].

40 Ebd.,99f. [s. Anm. 19]. Die Aufführung Verse ohne Worte – oder Lautgedichte ist als Schlüsselstelle in Balls Leben und Werk zu deuten. Vgl. dazu R. Friedmann, in: Hugo-Ball-Almanach. Studien und Texte zu Dada 6. München 2015.

41 Ebd., 104f. [s. Anm. 19].

42 Vgl. E. Hennings, Weg zu Gott, 92 [s. Anm. 7].

43 H. Ball, Die Flucht aus der Zeit, 250 [s. Anm. 19].

44 Vgl. E. Hennings, Weg zu Gott, 166 [s. Anm. 7].

45 Vgl. ebd., 113 [s. Anm. 7].

46 Vgl. W.-M. Stock, Denkumsturz, 53 [s. Anm. 13].

47 H. Ball, Die Flucht aus der Zeit, 117 [s. Anm. 19].

48 Vgl. B. Wacker, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Dionysius Dada Areopagita, 10f. [s. Anm. 5].

49 Zur Erschließung von Balls letztem Lebensabschnitt, veranstaltete die Kath. Akademie der Bistümer Fulda, Limburg u. Mainz 1994 die interdisziplinäre Tagung Von Dada zur Kirche. Die in dem Buch Dionysius DADA Areopagita versammelten Tagungsbeiträge stellen die religiösen Werke Balls neben die künstlerischen, politischen und philosophischen Arbeiten zu einer Gesamtschau seines Schaffens. Daran knüpft auch W.-M. Stock an und zeigt, dass viele der (religiösen) Positionen Balls überraschend aktuell geblieben sind. Vgl. W.-M.Stock, Denkumsturz, 185ff. [s. Anm. 13].

50 Vgl. B. Wacker, Nachwort, in: ders. (Hrsg.), Hugo Ball. Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben. Göttingen 2011, 546. Nach der anfänglichen Begeisterung Guardinis für Balls Byzantinisches Christentum kippte seine Meinung dazu nach der Lektüre von Die Folgen der Reformation in schroffe Ablehnung. In Balls Polemik gegen die Reformation als Ursache für den dt. Militarismus sah G. eine Instrumentalisierung der monastischen Spiritualität. Ohne an dessen guter Absicht zu zweifeln, kritisierte er Balls Maßlosigkeit, mit der auch ein Pamphlet gegen die Kirche geschrieben werden könnte.

51 G. Deny, Gegenwelten. Die Religiösen Fluchtwelten Hugo Balls, in: M. Braun (Hrsg.), Der magische Bischof der Avantgarde, 13041 [s. Anm. 6].

N

Iris Geyer | München

geb. 1954, Dr. theol., ev.-luth. Pfarrerin, Exerzitien- und geistliche Begleiterin

iris.geyer@elkb.de

Die Visionen der Maria von Oignies
Hochmittelalterliche Bibelimagination neu gelesen

Imaginieren, „bildern“, ist möglich. Dank ihrer Vorstellungskraft können viele Menschen zielgerichtet „tagträumen“. Davon spricht auch Ignatius von Loyola, wenn er in seinen Geistlichen Übungen1 zur imaginativen Bibelbetrachtung (span. contemplación) auffordert. Die Übenden mögen zunächst den Raum der gewählten biblischen Geschichte „zusammenstellen“, diesen imaginativ betreten, um das darin sich Ereignende zu sehen und zu hören. Für die Bibelbetrachtung am Ende eines Exerzitientages empfiehlt Ignatius die Anwendung der fünf Sinne: Übende sollen riechen, schmecken und betasten, um sich Ereignisse und Personen zu vergegenwärtigen und innerlich berührt zu werden. Eine ähnliche Methode scheint bereits Maria von Oignies (1177–1213) praktiziert zu haben. Diese eher unbekannte Gestalt soll hier vorgestellt und ihr Werk mit Querverbindungen zu gegenwärtigen psychotherapeutischen Ansätzen in Verbindung gebracht werden.

 

Begine, Büßerin, Mystikerin

Über Marias Leben existieren zwei Quellen: die Vita – verfasst von ihrem Beichtvater, Jakob von Vitry (1160/1170–1240), – und das Supplementum2. Beide Werke liegen seit 2014 erstmals in deutscher Übersetzung vor,3 basierend auf der neuen lateinischen Edition von 2012. Die Vita besteht aus Prolog, Buch I und II und ähnelt in ihrem Aufbau einer Exempelsammlung4. In Buch I liegt der Schwerpunkt auf Marias Buß- und Tugendleben, wozu die Beschreibung ihrer mystischen Tränengabe gehört.5 Wir lesen zunächst von Marias Abstammung, ihrer Kindheit in Nivelles, ihrer Verheiratung mit einem jungen Mann namens Johannes und dem Entschluss des Paares, eine Josephsehe zu führen. Gemeinsam leistet das Ehepaar fünfzehn Jahre lang Krankenpflege an Leprakranken in einem Spital in Willambroc bei Nivelles. Marias Büßerleben zeigt sich in ihrer schier übermenschlichen Askese und Selbstkasteiung: „Maria trägt zu ihrer Kasteiung auf nackter Haut einen kratzenden rauen Sack aus Ziegenhaaren, einen Strick um den Hals, macht halbe oder ganze Nächte lang Frömmigkeitsübungen und Kniebeugen zur Ehre der Jungfrau Maria.“6 Der Ruf ihrer Heiligkeit lockt zahlreiche Besucher(innen) nach Willambroc. Um sich ihnen zu entziehen, assoziiert sie sich im Jahr 1207 der Frauengemeinschaft des Augustinerchorherrenstifts in Oignies. Dort intensiviert sie ihre Frömmigkeitsübungen und fastet exzessiv.7 Ihre Nächte verbringt sie in der Kirche, den Kopf an die Wand gelehnt, nur kurze Zeit schlafend, um danach „zu ihrer süßen Arbeit der Nachtwachen zurückzueilen“.8 Für die damalige Zeit lebt Maria in einer außergewöhnlich freien, selbstbestimmten Lebensform:9„Schließlich aber (…) stieg [sie] Tag um Tag von Tugend zu Tugend auf der Jakobsleiter empor, und als sie ganz oben stehend, gleichsam auf der obersten Sprosse sich befindend, alles sinnlich Wahrnehmbare unter ihren Füßen zurückgelassen hatte, wurden ihre Sinne durch den überreich sich zeigenden Geist so aufgesogen, dass sie, weil Christus sie vollständig vereinnahmte, nur die unvergängliche Speise zu sich nahm und nicht arbeiten konnte. Daher stand sie wie eine, die zu Ende gedient hatte und von jeglicher Handarbeit frei war, fortan nur dem Herrn zur Verfügung. Mit dieser Freiheit beschenkte Christus seine Magd.“10

Buch II ist – laut dem Verfasser – die innere Darstellung ihres Lebens, legt den Schwerpunkt also auf ihr kontemplatives Gnadenleben. Marias mystischen Aufstieg zur Vollkommenheit korreliert der Autor mit dem biblisch-theologischen Schema von den Sieben Geistgaben. Jakob zeigt, dass – gerade im Gegenüber zu den zeitgenössischen Ketzer(inne)n – auch im Rahmen der Orthodoxie radikale Askese und kontemplatives Vollkommenheitsstreben möglich sind.11 Maria beachtet die drei apostolischen Räte Armut, Keuschheit und Gehorsam, wobei sie als Vertreterin der religiösen Armutsbewegung das Armutsideal besonders betont: Am liebsten würde sie „nackt dem nackten Christus folgen“.12

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