FiB-Handbuch

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integrieren

Für Jugendliche mit Migrationshintergrund kommen noch einige zusätzlich erschwerende Faktoren dazu: Die Verpflanzung in ein neues Land, in eine neue Kultur und neue Wohnverhältnisse, das Kommunizieren in einer fremden Sprache, die Gewöhnung an andere Gepflogenheiten und Konventionen, die dem Gewohnten manchmal diametral entgegenstehen, neue Erwartungen, fremde (Gender-)Rollen, eine neue Peergruppe, die Gefahr, ausgegrenzt zu werden, anders zu sein. Generationenkonflikte entstehen, da sich die Jugendlichen oft schneller und stärker integrieren wollen, als es die ältere Generation verkraftet. Ernährungsgewohnheiten, Religion, Politik und Freizeitmöglichkeiten, Freundeskreis, neu erlebte Freiheiten und kulturelle Werte werden zu Konfliktstoff in den Familien.

Die Akkulturation wirkt sich verstärkt auf den Prozess der Identitätsfindung aus. Es müssen zusätzlich noch Strategien entwickelt werden, um die neue Lebenssituation zu bewältigen. Es gilt zu entscheiden, ob und in welchen Bereichen man sich integrieren oder anpassen will – oder ob allenfalls eine Trennung (Ghettoisierung) und Verhaftung in der «alten» Kultur gewählt wird. Diese Prozesse können schmerzhaft sein und sind nicht ganz freiwillig. Die sozialen, kulturellen und ökonomischen Faktoren können Zwänge schaffen, die von den Jugendlichen als extrem beengend und bedrohend erlebt werden. Die Akkulturationsstrategien werden generell von mehr oder weniger stark erlebtem Stress begleitet, der vorübergehend Irritation, Angst oder Depressivität auslösen kann.

Es versteht sich von selbst, dass bei schwach qualifizierten Jugendlichen, vor allem bei jungen Frauen, die Probleme kumulieren können und eine Begleitung und Unterstützung dringend notwendig ist.

Zum Beispiel ...

Geschichten aus der Praxis

Gratwanderungen

«Endlich sehe ich Sie wieder!»

Schminke und Outfit sind professionell, ihre Augen strahlen, es geht ihr gut: N. hat vor eineinhalb Jahren ihre Lehre als DHA abgeschlossen und ist jetzt Vize-Account-Managerin (!) der Kosmetikfirma X. in einem grossen Basler Warenhaus. Sie plaudert mit mir begeistert über ihren Job und ihre Zukunftspläne – bis die Kundinnen sie wieder beanspruchen.

Auf der Heimfahrt im Tram denke ich zurück:

Am Anfang erfüllt N. alle gängigen Klischee-Vorstellungen vom erst 16-jährigen «Landei» aus dem luzernischen Hinterland, das in der Stadt seinen Traumjob gefunden hat: eine Lehre in einem Parfümeriegeschäft.

Die Probleme beginnen bald nach Lehrbeginn: Die Berufsbildnerin lehnt FiB ab («Einmischung haben wir nicht nötig!»), N. wird ausgenutzt (pro Monat 52 Überstunden), am Inventurtag arbeitet sie 16 Stunden am Stück, ohne Pause.

N. hat Angst vor Interventionen (es ist ja ihr Traumjob und Nachfolgerinnen stehen jederzeit Schlange) und bittet mich, nichts zu unternehmen. Es fällt mir sehr schwer, diesen Wunsch zu akzeptieren!

N.s grosse Liebe zu S. geht in Brüche, gesundheitliche Probleme kommen hinzu. Sie schleppt sich durch den ersten Winter mit Psychopharmaka. An einem Tiefpunkt (es kommt noch Alkohol dazu) schreibt sie mir eines Nachts einen seitenlangen Brief über ihr bisheriges Leben: Scheidung der Eltern, körperliche Übergriffe durch den Vater, Drogen, streng religiöse Grosseltern versuchen, den «Teufel in ihrer Seele» auszutreiben – nichts fehlt in dieser erschütternden Biografie. Ich bin so aufgewühlt und ratlos, dass ich mich mit meiner FiB-Vorgesetzten über N. unterhalte. Ihr Rat: Einfach da sein, immer wieder versuchen und – die (einzige) Konstante in N.s Leben sein.

Das zweite Lehrjahr ist geprägt von Schwankungen zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt: N. muss zweimal ins Spital; meine Kollegin und ich versuchen, mit privaten Nachhilfestunden die Wissenslücken von N. aufzufüllen. Mit wenigen Ausnahmen arbeitet sie genügend. Das grenzt für mich an ein Wunder (und lässt ihre Ressourcen ahnen).

Im zweiten Frühling tritt, fast unbemerkt, eine Beruhigung ein: Ihre Anrufe und SMS nach 22 Uhr werden seltener bei mir, das Ende der Lehre ist abzusehen. Eines Tages im Mai erklärt mir N. strahlend, dass sie sich für einen Visagisten-Kurs im Herbst angemeldet hat.

Sie schafft das QV mit 4,5 im Schnitt, bedankt sich überschwänglich für alles und verschwindet aus meinem Leben – bis … Siehe Anfang!

Einfach da sein und aushalten, vertrauen – obwohl ich zeitweise nicht wusste, in was –, das habe ich gelernt. Und offenbar kann auch das Jugendlichen bisweilen helfen, auf der richtigen Seite des Grates den Weg wieder zu finden.

Christine Heer

leisten

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Wenn Jugendliche in die Berufswelt integriert werden wollen, werden sie gnadenlos an ihren Leistungen gemessen. Sehr viele Probleme von Jugendlichen, gleich welcher Art, äussern sich früher oder später in mangelhaften Leistungen und/oder Lernschwierigkeiten. Viele Faktoren können Auslöser für einen Leistungsabfall sein. Darum braucht es eine sorgfältige Abklärung, ein ausführliches Gespräch, bis die wirkliche Ursache der Lernschwierigkeiten angegangen werden kann. Auch Mangel an Motivation oder Konzentration haben vielerlei Ursachen, sind diffus und führen zum Absinken der Leistungen. Wenn wir die Jugendlichen einigermassen sicher über den Grat zwischen Jugendlichem und Erwachsenem bringen wollen, müssen wir bereit sein, sie bei Gefahr zu begleiten, aufmerksam zu sein, Zeit für sie zu haben.

Übergang und Rituale

«Am Übergang zwischen Schule und Beruf stehen die Jugendlichen vor vielfältigen Herausforderungen und Veränderungen. Sie lassen die «Kinderwelt» hinter sich und wachsen heran zu jungen Frauen und Männern. Seitens der Gesellschaft werden neue Anpassungserwartungen an sie gestellt und damit noch nicht genug; die jungen Menschen müssen sich auch noch im Klaren sein, was sie als Individuum in ihrem Leben wollen. Alles in allem handelt es sich um eine beachtliche Entwicklungsarbeit, die von den jungen Leuten zu leisten ist. Diese Veränderungsarbeit ist für das Individuum umso bedeutungsvoller, als derzeit davon ausgegangen wird, dass es die Übergänge sind, die den Lebenslauf eines Menschen prägen und nicht die ruhigeren und stabilen Perioden. Kein Wunder, dass im Zusammenhang mit Übergängen von krisenhaften Phasen geredet wird und dass es sich um Zeiten handelt mit einer Unzahl von ungeklärten Fragen und drängenden Unsicherheiten. Was zur Klärung drängt, ist im Gespräch und mit der kundigen Begleitung einer erfahrenen Person einfacher zu bewältigen als im Alleingang.» (Ledergerber/Ettlin 2006) Diese Feststellung trifft nicht nur für Mentoring-Programme zu, sie ist auch für die individuelle Begleitung in der zweijährigen Grundbildung zentral. Individuelle Begleitung fördert und unterstützt die Übergangskompetenzen der Jugendlichen:

›den Übergang als Herausforderung annehmen,

›die zur Bewältigung des Übergangs nötigen Ressourcen mobilisieren,

›Lösungswege entwickeln,

›die favorisierte Lösung zielstrebig und energisch angehen.

Schwierige Passagen im Gelände erfordern stützende und sichernde Leitplanken, Griffe, Handläufe. Schwierige Übergänge in der Entwicklung der Menschen erfordern sichernde Rituale. Der Ethnologe Arnold van Gennep hat zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Theorie aufgestellt – und mit Forschungsergebnissen untermauert –, dass bei Übergängen die stabile, statische Ordnung verloren geht. Bevor das Neue erreicht wird und fest und sicher wird, muss eine Phase der Unsicherheit überwunden werden. Diese Phase ist immer auch gefährlich.

Für diese Phase gibt es in vielen Bereichen Rituale, die Sicherheit vermitteln. Die «rites de passage», wie sie van Gennep nennt, haben die Funktion, individuelle Übergänge zu sichern und zu begleiten.

Van Gennep teilt die Übergänge, die unbedingt eingehalten werden müssen, in drei Phasen ein:

›Die Trennungsphase ermöglicht das Lösen vom Vorherigen, vom Alten.

›Die Schwellen- oder Umwandlungsphase ist die kritische Zwischenphase, das gefährliche Niemandsland, bevor der nächste sichere Boden erreicht wird.

›Die Angliederungsphase schliesslich bezeichnet die gelungene Integration in einen neuen Zustand oder das sichere Erreichen eines neuen Ortes.

Zwischenzeiten sind gefährlich und werden oder wurden darum oft stark ritualisiert. Man denke zum Beispiel an die extrem abgesicherte ritualisierte Zwischenzeit zwischen dem Tod eines Papstes und der Ernennung seines Nachfolgers. Auch die Überbrückung des Machtvakuums, beim Tod des Königs in Monarchien, wurde jeweils auf möglichst minimal kurze Zeit beschränkt, um die Unsicherheit und Gefahr zu bannen: «Le roi est mort, vive le roi» suggeriert, dass es keine Zwischenzeiten gab.

Sichernde Rituale begleiten in vielen Kulturen den Wechsel vom Kind zum Mann oder von der Braut zur verheirateten Frau. Die ritualisierten Initiationszeremonien vieler Kulturen hatten den Zweck, den Jugendlichen in der Zwischenphase Sicherheit zu vermitteln, sie in der Gemeinschaft zu stärken und in ihre neue Rolle in der Gesellschaft hineinzubegleiten. Rituale in Form von gemeinsamen Feiern waren auch bei uns früher stärker vorhanden. Die Gemeinde oder das Dorf nahm teil an der Statusveränderung der jungen Leute und hat sie dabei begleitet und sicher an den neuen Platz innerhalb der Gesellschaft überführt.

In unserer individualisierten und pluralistischen Gesellschaft sind Übergänge kein Thema mehr, sie werden in den privaten Bereich verbannt. Jugendliche werden weitgehend in ihrer Schwellen- oder Umwandlungsphase alleingelassen. Die öffentlichen Rituale zwischen Schule und Arbeitsbereich, zwischen Kind und Erwachsenem, sind minimalisiert und geben kaum mehr Sicherheit.

 

Ledergerber/Ettlin (2006) beschreiben den Bedeutungszuwachs der Schwellenphase in einer Gesellschaft, die arbeitsteilig organisiert ist und in der die Verantwortung für die Sicherung der Übergangsphasen nicht mehr als Ganzes wahrgenommen wird.

«Die Aufteilung des Übergangs zwischen Schule und Beruf auf unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen oder ‹Trägerschaften› hat Konsequenzen. Was früher als gemeinsame Verantwortung verstanden wurde, wird durch diese Arbeitsteilung segmentiert. Die Gefahr besteht, dass Schule und Wirtschaft den Blick für den ganzen Übergang verlieren und sich nur noch als ‹Aufnehmende› oder ‹Abgebende› verstehen. Die Herausforderung wächst, die unterschiedlichen Gesetzmässigkeiten, welche in den beiden gesellschaftlichen Teilbereichen wirksam sind, zusammenzubringen. Auf den Übergangsvorgang übertragen, bedeutet dies, dass die ‹Schwellen- und Umwandlungsphase› wichtiger wird und dass auch die Vermittlungs-, ‹Übersetzungs-› und Anpassungsleistungen in dieser Phase anspruchsvoller werden.»

Die Professionalisierung dieser Arbeit steht erst in den Anfängen. Wir stellen fest, dass die Lernenden, die eine zweijährige Grundbildung beginnen, sehr oft noch in der Schwellen- oder Umwandlungsphase stecken. Sie sind in ihrer persönlichen Entwicklung noch nicht am sicheren Ende der Passage angekommen, sie haben auch den Schritt von der Schule ins Berufsleben noch nicht wirklich vollzogen.

Anrecht auf individuelle Begleitung

Selbstverständlich sind viele junge Leute starke, gewiefte «Berggänger» und schaffen den Übergang ohne grössere Probleme, wir können sie sehr locker und mit Distanz begleiten. Sie brauchen niemanden, der sie an der Hand nimmt. Es ist allerdings auch für sie beruhigend zu wissen, dass jemand da ist, falls sie straucheln oder plötzlich nicht mehr weiterwissen. Erfahrungsgemäss können die Probleme oft fast über Nacht kommen oder kumulieren in einer Art und Weise, dass die Situation plötzlich eskaliert und zur Krise wird. Das Bewusstsein, dass ein Mensch, eine Vertrauensperson da ist, falls es notwendig wird, kann Sicherheit vermitteln.

Schon kleine bürokratische Hindernisse wie das Schreiben von Anträgen um Unterstützung oder Behördengänge und Gesuche sind in wirklichen Notsituationen oft zu viel. Darum macht es Sinn, wenn ein niederschwelliges Angebot vorhanden ist.

Es muss klar sein, wer Ansprech- und Vertrauensperson ist – und diese Person muss zugänglich sein ohne bürokratische Umwege. Es macht auch Sinn, wenn die Jugendlichen Vertrauen zu einer Bezugsperson aufgebaut haben, bevor es zu Krisen und «trouble-shooting»-Bedarf kommt.

Risikojugendliche, Ressourcen und Resilienz

Im Zusammenhang mit den neuen Case-Management-Projekten und mit der wachsenden Einsicht, dass gefährdeten Jugendlichen nur individuelle Begleitung hilft, wird immer wieder von Risikojugendlichen gesprochen. In diesem Zusammenhang wird auch oft das Konzept der Resilienz bemüht. Mit Resilienz wird die Widerstandsfähigkeit bezeichnet, die Fähigkeit eines Menschen, sich von Schicksalsschlägen zu erholen und sich an veränderte Bedingungen und Situationen anzupassen. Die Resilienzforschung geht auf Werner und Smith (1982) zurück. Sie haben beobachtet, dass einige Kinder eine recht unbeschwerte Jugend durchlebten und sich im Erwachsenenleben gut zurechtfanden, obwohl sie in extremer Armut aufwuchsen und ihre Eltern psychisch krank waren. Andere solche Risikokinder schafften es nicht, den Stress, die Schwierigkeiten und die negativen Entwicklungsvoraussetzungen zu bewältigen. Die Gruppe, die trotz widrigster Umstände ihr Leben gut in den Griff bekam, bezeichnete man als unbesiegbar oder als resilient. Das Konzept der Resilienz ist ein umfassendes Konzept; Resilienz ist offenbar von verschiedenen persönlichen Faktoren und Umweltressourcen abhängig. Temperament und Intelligenz, hohes Selbstwertgefühl und gute Bewältigungsstrategien spielen ebenso eine Rolle wie soziale Unterstützung, Freundschaften, sichere Bindungen, Vertrauen und positive Interaktionen mit Erwachsenen.

Grob und Jaschinsky (2003) geben Erklärungen und Hintergrundinformationen zu den Bewältigungsstrategien, Schutzfaktoren und allfälligen Beeinflussungsmöglichkeiten und gehen folgenden Fragen nach:

›Unterscheiden sich resiliente Jugendliche im Umgang mit Alltagsproblemen von anderen Jugendlichen?

›Glauben resiliente Jugendliche, sie hätten die Welt und sich selber besser im Griff als andere Jugendliche?

Sicher ist es so, dass einige Jugendliche «resilienter» sind als andere, sicher ist es auch so, dass diese Fähigkeit, widerständig zu sein, eine grosse Ressource ist. Wie aber unterscheiden sich resiliente Jugendliche von gefährdeten? Gibt es erkennbare Muster in ihrem Verhalten, die z. B. auf Bedrohungsszenarien hinweisen? Gotthilf Gerhard Hiller stellt für die pädagogische Arbeit mit Risikojugendlichen und jungen Erwachsenen in brisanten Lebenslagen auch kritische Fragen zum Resilienzkonzept (2006).

«Resilienz» – ein fragwürdiges, ja gefährliches Konzept?

Hiller vertritt die These, dass die individualistisch psychologisierenden Konzepte von Resilienz der vereinfachenden und verheerenden Aussage Vorschub leisten, es gäbe eben Jugendliche, denen nicht mehr zu helfen sei. Dies insbesondere dann, wenn Resilienz als personale Eigenheit oder biogenetische Disposition verstanden werde. Sicher gibt es Menschen, denen gesundheitsgefährdende Verhältnisse weniger anhaben können als anderen, die Krankheiten und Unfälle ohne Beeinträchtigungen überstehen, während andere daran zugrunde gehen. Das ist aber, laut Hiller, auch in der Medizin kein Grund, Trainingsprogramme zur Stärkung der subjektiven Widerstandsfähigkeit gegen gesundheitliche Risiken zu entwickeln.

Die Mediziner machen ihre Arbeit, ohne sich zu fragen, bei welchen Patienten sich die Arbeit eher lohnt, weil sie aufgrund einer angeborenen oder kultivierten Widerstandsfähigkeit gesünder weiterleben als andere. Es gilt dort, Leben zu retten oder Leiden zu mindern, ohne danach zu fragen, ob und wie lange ein Patient die Intervention überlebt und ob oder wie sich dessen Resilienzprofil durch die Behandlung verändert. Das Resilienzkonzept geht von einer gefährlichen Ursache-Wirkungs-Theorie aus. Denn davon, dass unsere pädagogischen Bemühungen Erfolg zeigen, dass sich unsere Anstrengungen bei den Jugendlichen in Widerstandsfähigkeit umwandelt oder manifestiert, können wir keinesfalls ausgehen.

Wenn wir von biogenetischer Disposition ausgehen, dann ist die Gefahr gross, dass wir all jene fallen lassen, die eben nicht mit den erhofften Resultaten aufwarten können, die zum Beispiel mit geringen kognitiven Fähigkeiten, emotionaler Instabilität, unzureichender Sozialkompetenz oder anderen Beeinträchtigungen leben müssen. Hiller sagt meines Erachtens zu Recht, dass sich meist erst im Nachhinein feststellen lässt, wer jetzt traumatische Erlebnisse, Krisen und Katastrophen besser und mit weniger Schaden überstanden hat. «Da daraus prognostisch nichts folgt», sagt er, «ist es zweckmässiger, solche Befunde als glückliche Zufälle zu interpretieren; sie haben keinerlei Bedeutung, weder für die Theorie noch für die Praxis einer Pädagogik, die um die prinzipielle Unverfügbarkeit ihrer Bemühungen weiss und die deshalb ausdrücklich darauf verzichtet, ihre Investitionen nach Massgabe messbarer Zuwächse an erwünschten Wirkungen bei ihren Adressaten zu kalkulieren und zu dosieren. Folglich kann das Resilienzkonzept weder die theoretischen noch die praktischen Bemühungen um Jugendliche und junge Erwachsene in riskanten Lebenslagen sehr viel weiter bringen.»

Es ist jedoch klar, dass Unterstützungs- oder Arbeitsbündnisse mit jungen Menschen, die im Elend aufwachsen müssen, nötig sind.

Hiller bietet daher ein interessantes Modell an, das er an die Stelle pädagogischer «Resilienztrainings» stellt. Er argumentiert mit den Soziologen Adorno und Luhmann, die das Ziel der «integrierten Persönlichkeit» infrage stellen, weil es (unter anderem) «dem Individuum jene Balance der Kräfte zumutet, die in der bestehenden Gesellschaft nicht besteht und auch gar nicht bestehen sollte, weil jene Kräfte nicht gleichen Rechtes sind.» Hiller bietet dafür «biophile Allianz» an.

Vergegenwärtigung und biophile Allianz

Was ist also zu tun, wenn wir uns nicht mehr auf die Zielvorstellung der stabilen, gesunden Persönlichkeiten, der unauffälligen Entwicklung und der erfolgreichen Integration verlassen sollen? Hillers Antwort:

«Mit pluralen Verhältnissen tatsächlich rechnen, Überraschungen zum Metier machen, pädagogische Erlösungs-, Verbesserungs- und Steigerungsphantasien als theoretisch wie praktisch hinderlich begreifen und sich eingestehen, dass bei dem Versuch, aus Problemkindern und schwierigen Jugendlichen bessere, tauglichere Menschen machen zu wollen, sie also möglichst weitgehend zu «fördern», um sie zu «normalisieren», bei Lichte besehen nicht viel mehr herauskommen kann, als unauffällige, belanglose, langweilige Serientypen.»

Hillers radikale Sichtweise ermöglicht uns, einen Schritt zurückzutreten, unsere Interessen zu überdenken und schliesslich den Jugendlichen in brisanten Lebenslagen eine Art Mentorat, eine Begleitung oder eine «förderliche Komplizenschaft» auf Zeit anzubieten. Dies ist ein neuer Ansatz, wenn wir die Aufgaben und Ziele der fachkundigen individuellen Begleitung überdenken.

Hiller erörtert ausführlich auch die Idee, sich nicht mehr auf ganzheitliche Persönlichkeitsbildung einzuschiessen, mit dem Ziel, allseitig entfaltete, gut integrierte Persönlichkeiten zu «schaffen». Dafür bezieht er sich auf das Konzept der «Teilkarrieren». Die Erläuterung des ganzen Konzepts ist bei Hiller nachzulesen – er bezieht sich unter anderen auf Luhmann und Bourdieu. – Ich beschränke mich auf einen rudimentären Hinweis, da mir das Konzept bestechend scheint und im Ansatz zumindest diskussionswürdig und Diskurs fördernd für Beratende und Begleitende.

Sich als begleitende Person auf ein Co-Management von Teilkarrieren einzulassen, würde bedeuten, dass wir akzeptieren, dass die Jugendlichen im Alltag Teilkarrieren in folgenden Lebensbereichen durchlaufen:

›Ausbildung/Beschäftigung

›Finanzen

›Legalität

›soziale Beziehungen, soziales Netz

›Gesundheit

›Zeitmanagement

›Umgang mit Ämtern, Behörden etc.: Zivilkompetenz

›Aufenthalt/Wohnung

Wenn man also die Vorstellung aufgibt, Menschen handelten immer als autonome Subjekte und gestalteten ihr Leben selbstverantwortlich und ganzheitlich, dann wird es möglich, die einzelnen Bereiche oder eben «Teilkarrieren» entsprechend fraktioniert auf Gelingen oder Nichtgelingen hin zu untersuchen und förderlich zu unterstützen oder zu «co-managen».

So ist es den Jugendlichen möglich, in einigen Alltagsbereichen Erfolge zu verzeichnen und Ressourcen zu orten, was zumindest den Eindruck und das entsprechende Glücksgefühl oder die Befriedigung vermittelt, nicht generell als Person zu versagen, sondern Teile des Alltags im Griff zu haben und mehr oder weniger erfolgreich zu bewältigen. Die Begleitung ist dann eine pragmatische Alltagsbegleitung, die dem/der Begleiter/in oder Co-Manager/in mit zunehmender Erfahrung Kenntnisse und Netzwerkwissen in verschiedensten Alltagsbereichen einbringt; im schuleigenen Fördernetzwerk, in der entsprechenden Berufsbildung, im Asylrecht, in der Schuldenberatung, bei Arbeits-, Sozial-, Jugend- und Ausländerämtern, bei diversen Fachstellen, Stipendienämtern, Therapeut/innen, Ärzt/innen und Opferhilfestellen, um nur einige zu nennen. Der Begriff des Co-Managements suggeriert bewusst, dass da jemand ist, der/die das Management übernimmt, das heisst, dass die oder der Jugendliche zumindest einige seiner Teilkarrieren selbst steuert oder nach einer befristeten Hilfe wieder selbst managt.

Dies scheint mir als Aufgabe anspruchsvoll genug. Ob unser Einsatz fruchtet, ob er im ökonomischen Sinn etwas bringt, bleibt dahingestellt. Wir müssen nur überzeugt sein, dass er in diesem Augenblick wichtig und nützlich ist.

In diesem Sinn möchte ich noch ein längeres Zitat Hillers (2006) anfügen, das die biophile Allianz sehr schön beschreibt.

«... sich kontinuierlich und auf lange Sicht mit Gelassenheit, Geistesgegenwart und Kompetenz, also einfallsreich und humorvoll-flexibel auf Jugendliche und junge Erwachsene einlassen, die in Schwierigkeiten stecken, sie ertragen und aushalten, ihnen Chancen zuspielen und ihnen die Gewissheit vermitteln, dass sie auf uns zählen können, komme, was da wolle; kurz und knapp eine ‹biophile Allianz› mit ihnen eingehen, in einem beiderseitigen Lernprozess dem ‹Leben aufhelfen› (Jürg Jegge 1986) und sich dabei stets neu überraschen lassen, – so lässt sich eine Pädagogik umreissen, die ihre theologischen Eierschalen und ihre teleologische Verbissenheit abgestreift hat: Sie hält sich an die Maxime des Predigers aus der hebräischen Bibel: ‹Tu deine Arbeit, denn du weißt nicht, ob sie dir gelingt› (Pred.11,6). Ob und wie lange Kinder und Jugendliche, die Zutrauen fassen und sich auf Arbeitsbündnisse mit uns einlassen, weil wir für sie verlässlich erreichbar bleiben und uns von ihnen auch dann nicht abwenden, wenn es ganz schwierig wird, ob solche junge Menschen irgendwelche Widerstandskräfte von welcher Qualität und Stabilität auch immer ausbilden, oder ob sie sich – trotz unserer Bemühungen und Warnungen – auf bisweilen aberwitzige Weise selbst erproben, sich dabei gefährlich aufs Spiel setzen und im Extremfall zugrunde gehen (vgl. dazu Schroe­der 2005), das bleibt unserer Verfügbarkeit entzogen: ‹Erziehung ist keine handhabbare Ursache, die kontrollierbare Wirkungen hervorbringt (Oelkers 1990)›.»

 

In diesem Sinne denke ich, bekommt auch das Schlagwort «ressourcenorientiert» eine neue Bedeutung. Es geht dann wirklich darum, aufzuspüren, wo die Qualitäten, die Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Ressourcen der sogenannten Risikojugendlichen sind, wo ihre Teilkarrieren reibungslos laufen. Dann kann man sich mit ihnen gemeinsam darauf einlassen, daran zu arbeiten, dass die bestehenden Fähigkeiten gewinnbringend auch für andere Teilkarrieren eingesetzt und optimiert werden können – und mit ihnen eine biophile Allianz eingehen, komme, was da wolle.

Über die Ressourcen, die es dafür bei den «Co-Managerinnen/Co-Managern» oder FiB-Personen braucht, wird im 3. Teil dieses Buches die Rede sein.

Literatur

–Belwe, Andreas und Schutz, Thomas (2014): Smartphone geht vor. Bern: hep-verlag.

–Erikson, Erik H. (1965): Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart: Klett.

–Grob, Alexander und Jaschinsky, Jutta (2003): Erwachsen werden. Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Berlin: Beltz-Verlag.

–Hiller, Gotthilf Gerhard (2006): «Resilienz» – für die pädagogische Arbeit mit Risikojugendlichen und mit jungen Erwachsenen in brisanten Lebenslagen ein fragwürdiges, ja gefährliches Konzept? In: Opp, Günther; Fingerle, Michael; Freytag, Andreas (Hrsg.): Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz. München, Basel.

–Himmelrath, Armin und Neuhäuser, Sarah (2014): Amokdrohungen und School-Shootings. Bern: hep-verlag.

–Hurrelmann, K. (1997): Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Weinheim, Juventa.

–Jegge, Jürg (1986): Abfall Gold. Über einen möglichen Umgang mit «schwierigen Jugendlichen». Bern.

–Ledergerber Beatrice; Ettlin Regula (2006): Mentoring für Jugendliche zwischen Schule und Beruf. Zürich: SVB.

–Marcia, James E. (1980): Identity in adolescence. In: J. Adelson (ed.): Handbook of adolescent psychology (S. 310–395). New York.

–Oelkers, J. (1990): Vollendung. Theologische Spuren im pädagogischen Denken. In: Luhmann, N; Schorr, K.E. (Hrsg.): Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a.M.

–Schroeder, J. (2005): Arbeit am Tabu. Grenzerfahrungen pädagogischer Verständigung. In: Baur, W., Mack, W.; Schroeder, J. (Hrsg.): Bildung von unten denken. Aufwachsen in erschwerten Lebenssituationen – Provokationen für die Pädagogik. Bad Heilbrunn:

–van Gennep, Arnold (1986, Neuauflage): Übergangsriten (Les rites de passage). Frankfurt a.M.

–Werner, E., Smith, R. (1982): Fostering Resilience in Children. Bulletin, Ohio University press.

–Himmelrath, Armin und Neuhäuser, Sarah (2014): Amokdrohungen und School-Shootings. Bern: hep-verlag.