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Landsichten

Stärken und Schwächen unserer Dörfer – Wie könnte ein Fitnessprogramm für die Zukunft aussehen?1

Gerhard Henkel

Vorbemerkung

Das gestellte Thema ist sehr weit gefasst und anspruchsvoll. Ich soll ein wenig auf die zurückliegende Entwicklung schauen, dann vor allem die Gegenwart bilanzieren, diese bewerten und nicht zuletzt auch nach vorn blicken und dazu konkrete Handlungsfelder benennen, die für die zukünftige Entwicklung wichtig sind. Da ich insgesamt den ländlichen Raum ins Visier nehme und hier nur einen begrenzten Raum zur Verfügung habe, muss ich in meinen folgenden Ausführungen naturgemäß stark generalisieren.

1. Einstieg ins Thema: schrumpfende – stagnierende – wachsende – stark wachsende Dörfer

Es gibt viele Möglichkeiten, in das Thema ländliche Räume und ländliche Entwicklung einzuführen. Ich könnte z. B. damit beginnen, dass viele ländliche Räume, etwa in Westfalen, in manchen Statistiken gar nicht mehr als ländlicher Raum, sondern als urbanisierter Raum bezeichnet werden; oder dass Präsidenten von Städtetagen den ländlichen Raum generell als „gedankliches Kunstprodukt“ bezeichnen. Gegen solche Angriffe auf den ländlichen Raum richten sich Teile meiner Aktivitäten.2 Den ländlichen Raum verteidigen muss ich heute vor diesem Gremium Gott sei Dank nicht. Ich muss auch nicht auf die neuen Lieblingswörter der Raumordnung wie „Monopolregionen“ oder „Wüstungen“, d. h. entvölkerte Dörfer, eingehen.

Stärken und Schwächen – so lautet mein Thema − unterliegen starkem Wandel, dies gilt für alle sozialen und ökonomischen Gesellschaften. Was vor Jahren oder Jahrzehnten Gewicht hatte, spielt heute vielfach keine Rolle mehr. Was in 20 oder 30 Jahren eine besondere Stärke oder Schwäche sein wird, wissen wir nicht. In den meisten ländlichen Regionen Deutschlands hat es in den letzten Jahrzehnten starke inhaltliche und regionale Gewichtsverlagerungen gegeben. Diese sehr unterschiedlichen Wachstumsund Stagnationsphasen kann man mit geübtem Auge den Ortsbildern ablesen.

Nehmen wir zwei Beispiele aus dem Paderborner Land: Das Dorf Asseln hat seit über 150 Jahren seine Einwohnerzahl von etwa 400 Einwohnern praktisch nicht verändert. Das Dorf Scharmede ist von 1850 bis heute von etwa 350 auf fast 3000 Einwohner angestiegen; die Rahmenbedingungen oder auch die inneren Kräfte des Dorfes haben sich offenbar rapide verändert.

Die Stärke und Lebendigkeit eines Dorfes liegen oft im Verborgenen. Sie erschließen sich – zumal für den Außenstehenden – in der Regel nicht durch kurze Besuche oder statistische Einordnungen. Auch Wissenschaftler tun sich bisweilen schwer, hinter die Fassaden eines Dorfes zu gelangen und dessen Potentiale und Schwächen zu erkennen. Wer aber wirklich genauer und länger hinschaut, wird überrascht sein von der ökonomischen, sozialen und kulturellen Vitalität und Komplexität des Landlebens. Allerdings gibt es erstaunliche und überraschende Unterschiede von Dorf zu Dorf, von Dorfregion zu Dorfregion. Während viele Dörfer vor Kraft und Lebendigkeit förmlich sprühen, erscheinen andere – oft Nachbardörfer – wie gelähmt. Welche inneren und äußeren Kräfte sind es, die Dörfer stark und lebendig machen – oder in Lethargie verharren lassen, wenn sie fehlen? Die folgenden Ausführungen bilanzieren die gegenwärtigen Stärken und Schwächen unserer Dörfer in stark generalisierter Form und versuchen, daraus ein knappes Handlungsprogramm für die Zukunft abzuleiten.

2. Bilanz der gegenwärtigen Stärken und Schwächen unserer Dörfer und Kleinstädte
2.1 Stärken unserer Dörfer und Kleinstädte
a) Naturnähe

Das Dorf wird zunächst einmal geprägt durch seine Naturnähe. In Feld, Wald und Garten bietet das Dorf eine unmittelbare Chance der Erholung, Entspannung, Freizeitnutzung und körperlichen Betätigung. Dass der dörfliche Garten zu einem Kernbestand des dörflichen Lebens gehört, der von Jung und Alt gleichermaßen geschätzt wird, wird zunehmend auch von den verschiedenen Wissenschaften erkannt und erforscht. Die Naturnähe wird in Umfragen immer wieder als eine der wichtigsten Vorzüge des Landlebens herausgestellt. Nicht nur für die Bewohner des Landes ist die Naturnähe wichtig, sondern für den Staat insgesamt als Freizeit- und Ökologie-Ressource für alle.

b) Ökonomischer Bestand

Viele ländliche Regionen haben in den letzten zehn Jahren, was die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt angeht, eine über dem jeweiligen Landesdurchschnitt liegende Entwicklung genommen. Der ländliche Raum verfügt häufig über eine robustere Wirtschaftsstruktur, was auf die hier besonders vorherrschenden, flexibel agierenden mittelständischen Betriebe zurückgeführt wird. Auch die Arbeitslosenquote ist überwiegend niedriger als im Landes- bzw. Bundesdurchschnitt. In den Dörfern und Kleinstädten haben wir einen relativ hohen ökonomischen Standard bzw. Wohlstand, der aber nicht unbedingt aus allen Statistiken (wie z. B. Kaufkraft, Einkommen) ablesbar ist. So haben wir im ländlichen Raum eine sehr hohe Eigenheimquote (ca. 80 Prozent), die mehr als doppelt so hoch wie in den Großstädten liegt. Ein Plus der ländlichen Räume sind auch seine zuverlässigen und motivierten Arbeitskräfte, wie mir vor Jahren ein Arbeitsamtsdirektor einer ländlichen Region versicherte.

Insgesamt hängt die wirtschaftliche Prosperität ländlicher Räume nicht mehr entscheidend von der Entwicklung des primären Sektors ab, also von der Land- und Forstwirtschaft, sondern in erster Linie von der gewerblichen Produktion, die vor allem im Mittelstand angesiedelt ist, der inzwischen auch auf der internationalen Bühne agiert. Dies gilt z. B. für große Teile Ostwestfalens oder des Sauerlandes. Neben den Betrieben mit ihren Arbeitsplätzen tragen auch informelles Wirtschaften und soziales Kapital wesentlich zum Wohlstand in den Dörfern bei. Dies haben drei Soziologinnen der Universität Bielefeld in dreijährigen Recherchen in zwei Dörfern der Warburger Börde recherchiert. Nachbarschaftshilfe, Haus- und Gartenarbeit sowie die vielfältigen Gemeinwohlleistungen der Vereine machen das Dorf ökonomisch und sozial attraktiv (siehe Abb. 1 auf der folgenden Seite).

c) Dichte der sozialen Beziehungen, Bereitschaft zu bürgerschaftlichem Engagement

Die hohe Dichte der sozialen Beziehungen im Dorf wird immer wieder recherchiert und zitiert. Das System der engen und vielfältigen sozialen Netze hat sogar Eingang gefunden in die modernen Dorfdefinitionen, nachdem das alte prägende Merkmal, die Dominanz der landwirtschaftlichen Funktionen, weggefallen ist.

Neben der Dichte der sozialen Beziehungen ist die hohe Bereitschaft zu ehrenamtlichem bzw. bürgerschaftlichem Engagement besonders dorftypisch. Fast jeder erwachsene Dorfbewohner könnte eine paar ehrenamtliche Tätigkeiten aufzählen, die er oder seine Familie oder Nachbarschaft in seinem Heimatdorf leistet. Immer wieder zu Recht hervorgehoben werden die hohe Vereinsdichte auf dem Lande und die hohe Vereinszugehörigkeit pro Einwohner. Vereine und Ehrenämter tragen und prägen das Dorf.


Abb. 1: Komplexe Ökonomie des Dorfes Körbecke (Quelle: Baier, A., Bennholdt-Thomsen, V. und B. Holzer: Ohne Menschen keine Wirtschaft. Oekom, München 2005. S. 200)

d) Infrastrukturausstattung

Trotz erheblicher Infrastrukturverluste in den zurückliegenden Jahrzehnten, z. B. in den Bereichen Schule, Post, Bürgermeisteramt, Polizeiposten, Gasthöfe und Dorfläden, ist die Infrastrukturausstattung generell auf einem hohen Stand. Dies gilt vor allem für die sogenannte technische Infrastruktur wie Wasser-, Abwasser- und Energieversorgung. Darüber hinaus weisen besonders die Sport- und Freizeiteinrichtungen wie Sport- und Spielplätze, Sporthallen, Tennisplätze und Sportheime sowie Kultureinrichtungen wie Begegnungsstätten, Dorfgemeinschaftshäuser, Heimatstuben, Feste und Brauchtumspflege einen hohen Standard auf. Auch das Angebot an weiterführenden Schulen sowie dem ÖPNV hat sich in den letzten Jahrzehnten verbessert (siehe Abb. 2 auf folgender Seite).

e) Demographischer Aufbau

Der demographische Aufbau unseres Staates ist schon länger keine Pyramide mehr, die unten durch Geburtenzuwächse immer breiter wird. Dies gilt auch für ländliche Regionen. Nur ist hier die nachwachsende Schicht immer noch deutlich breiter als in Großstädten. Wir haben auf dem Lande immer noch Geburtenüberschüsse, d. h. auch eine deutlich höhere Geburtenrate als in den Großstädten. Die Dichte der verwandt- und nachbarschaftlichen Beziehungen fördert nach Ansicht der Soziologen die Geburtenquote. Dass auch auf dem Lande die Geburtenraten seit Jahren zurückgehen, darf jedoch nicht verschwiegen werden. Der relativ hohe Bestand an Kindern und Jugendlichen im ländlichen Raum ist allerdings ein fragiles Gut: Nach ihrer in der Regel guten Berufs-, Schul- und Hochschulausbildung verlässt ein Großteil der Jugendlichen seine Heimat. Dieser Verlust an Humankapital, wie die Experten dies nennen, schwächt naturgemäß mittel- und langfristig unsere Dörfer und Kleinstädte.

Abb. 2: Infrastrukturentwicklung in mittelgroßen Dörfern von 1950 bis heute (Gerhard Henkel 2012)

 

f) Ländliche Lebensstile

Trotz aller Angleichungsprozesse zwischen Stadt und Land in den zurückliegenden Jahrzehnten gibt es auch heute noch wesentliche Unterschiede zwischen dem Stadt- und dem Landleben. Das ist in den letzten Jahren durch verschiedene Studien belegt worden. Ländliche Lebensstile sind natur-, traditions- und handlungsorientiert. Das Arbeiten und Leben im Garten, das Spazierengehen, Wandern und Radfahren in Feld und Wald gehören zum Kernbestand ländlicher Lebensqualität. Dörfliche Lebensstile sind durch eine hohe Dichte sozialer Netze und Kontakte geprägt. Verwandtschafts- und Nachbarschaftshilfe, Engagement in Vereinen und Kirchen sowie Brauchtumspflege spielen im Zusammenleben eine wichtige Rolle und tragen sowohl zum Wohlstand als auch zur Identität in den Dörfern bei.

Nach einem kürzlich publizierten Bericht in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ kommen auffällig viele Chefs der größten deutschen Unternehmen aus ländlichen Regionen. Als wesentliche Erklärung für dieses Phänomen werden die auf dem Dorf oder in der Kleinstadt erworbenen sozialen und emotionalen Kompetenzen sowie ein auf dem Lande noch vorhandenes „Arbeitsethos“ angeführt, die sich so in der unpersönlicheren und virtuelleren Großstadt nicht erlernen lassen.

g) Zufriedenheit der Bewohner

Ein hohes Plus des ländlichen Raumes ist nicht zuletzt die weit überdurchschnittliche Zufriedenheit seiner Bewohner mit ihrem Wohnumfeld. Sie liegt nach wiederholten Umfragen stets zwischen 80 und 90 Prozent und damit etwa doppelt so hoch wie in den Großstädten. Großstädter möchten übrigens zu 40 bis 45 Prozent lieber im Dorf als in der Großstadt leben. In einer kürzlich durchgeführten 1-live-Umfrage unter jungen Leuten, von der mir mein Sohn berichtete, wurde die Frage gestellt: „Was findet ihr besser: Leben in der Stadt oder Leben auf dem Dorf?“ Gut zwei Drittel der Antwortenden bevorzugten das Leben auf dem Lande. Eine Theorie aus den Wirtschaftswissenschaften besagt übrigens, dass Wirtschaft sich dort ansiedelt, wo Menschen sich wohl fühlen und ein Umfeld vorfinden, das ihnen erlaubt, produktiv zu sein.

Eine andere interessante Facette der Zufriedenheit ist kürzlich in einer Studie der Universität Münster herausgearbeitet worden, und zwar die Sicherheit im Wohnumfeld, die von der Bevölkerung als wichtiger Vorteil des Landlebens angesehen wird.

2.2 Schwächen unserer Dörfer und Kleinstädte
a) Anhaltende Verluste der traditionellen Wirtschaftspotentiale

Die traditionellen Wirtschaftspotentiale des ländlichen Raumes haben an Gewicht verloren: Holz und Wasser als Energielieferant und Rohstoff, (gutes) Land für Ackerbau und Viehzucht. Damit ist ein Verlust an traditioneller Wertschöpfung und Arbeitsplätzen eingetreten, der immer noch anhält. Der Verlust betrifft auch das traditionelle Dorfhandwerk, das sich als Dienstleistung für die wirtschaftstragende Landwirtschaft und für die rege Bautätigkeit auf dem Lande bis in die 1960er Jahre sehr gut entwickelt hatte. In manchen ländlichen Regionen haben sich nach den Schrumpfungsprozessen in Land- und Forstwirtschaft und Dorfhandwerk nur wenig alternative Gewerbe herausgebildet. Sie gehören zu den stagnierenden und von Bevölkerungsrückgang betroffenen Gebieten. Es gibt zahlreiche Dörfer in Deutschland, die ihren ökonomischen und demographischen Zenit vor 150 bis 200 Jahren hatten.

In jüngerer Zeit gibt es ein wenig Hoffnung. Der Wert ländlicher Ressourcen wie Boden, Wasser und Holz scheint sowohl für die Nahrungs- als auch für die Energieproduktion zu steigen. Gerade der Trend zu erneuerbaren Energien kommt dem ländlichen Raum zugute. Es gibt bereits Dörfer, die sich mit Strom und Wärme selbst versorgen.

b) Anhaltende Infrastrukturverluste

Bezüglich der Infrastruktur gibt es neben den Stärken, die genannt wurden, eine Reihe von erheblichen Verlusten, die hier anzuführen sind (siehe Abb. 2). Am stärksten betroffen sind zahlreiche – auch mittelgroße – Dörfer vom Verlust der dörflichen Schule. Dazu kommen Post, Bürgermeisteramt und dörflicher Gemeinderat, Polizeiposten, Bahnanschluss sowie die Bäuerliche Bezugs- und Absatzgenossenschaft. Bei den privaten Dienstleistungen sind vor allem die Schuhmacher, Schneider, Schmiede und in den letzten Jahren auch die Bäcker und Metzger weggefallen. Besonders schmerzhaft sind die Verluste an Gasthöfen und Dorfläden, vor allem dann, wenn es die letzten sind, die schließen.

c) Leerstand von Gebäuden in Dorfkernen

Noch vor 50/60 Jahren waren alle Dörfer in Deutschland im wahrsten Sinne des Wortes „voll“; jeder Quadratmeter war genutzt durch Wohnungen für Menschen, Ställe für Tiere, Speicher für Erntevorräte und Schuppen für Maschinen. Durch Neubausiedlungen am Rande der Dörfer, aber auch durch Aussiedlungen und die bald einsetzende Landflucht entstanden bereits in den 1960er und 1970er Jahren Leerstände in den Dorfkernen, auf die man mit den staatlichen Förderprogrammen der Dorfsanierung und Dorferneuerung reagierte.

Inzwischen ist es in den meisten Dörfern zu einer zweiten Welle des Gebäudeleerstandes gekommen. Außerdem sind viele alte Bauernhäuser nur noch von ein bis zwei älteren Personen bewohnt, eine Nutzungsnachfolge ist höchst ungewiss. Ähnliches gilt für ältere Handwerkerhäuser, ehemalige Gasthöfe, Dorfläden usw. Die Probleme sind brennend, sie gehen an die Substanz des Dorfes, den alten Kern, der das Dorfbild prägt, mit dem man das Dorf identifiziert. Sogar in wachsenden Dörfern nimmt der Leerstand im Inneren noch zu, zugunsten neuer Wohngebiete am Dorfrand. Ein Problem ist vielerorts die Wahrnehmungsschwäche. So wollen viele Bürgermeister den Leerstand einfach noch nicht wahrhaben!

d) Zu wenig Arbeitsplätze für Höherqualifizierte, vor allem im Dienstleistungsbereich

Dies ist eine Schwäche, die dem ländlichen Raum generell zugeordnet werden kann. Die höher qualifizierten Dienst-leistungsberufe sind nun einmal in den Großstädten konzentriert. Aber es gibt erhebliche Unterschiede auf dem Lande. So steht das sonst vielfach zu lobende Bayern in diesem Punkt in einigen Regionen schlechter da als Nordrhein-Westfalen. Gerade im südlichen und östlichen Westfalen gibt es durch zahlreiche mittelständische Industriebetriebe ein relativ gutes Angebot z. B. für Ingenieure. Generell bietet die Nähe zu Oberzentren bzw. gut ausgebauten Mittelzentren ein gut erreichbares Angebot für höher qualifizierte Dorfbewohner.

Die modernen Informations- und Kommunikationstechniken könnten den grundsätzlichen Standortnachteil des Dorfes mittel- und langfristig aufheben oder mindern. Bereits heute finden sich vereinzelt in den Dörfern Klein- und Kleinstunternehmer, die hoch komplizierte Soft- oder Hardwaredienstleistungen für große Konzerne weltweit erbringen.

e) Abwanderung von Jugendlichen

Ein großes Problem für den ländlichen Raum in ganz Deutschland ist die Abwanderung der jungen, gut ausgebildeten Bevölkerung, schwerpunktmäßig der Gruppe der 24–27-Jährigen. Man spricht hier auch von Bildungsabwanderung. Die Jugendlichen ziehen in die Großstädte mit ihren differenzierten und besser bezahlten Berufsmöglichkeiten. Der Wegzug dieser Jugendlichen schmerzt, weil hier ein wertvolles Humankapital wegzieht, das in der Region hohe Ausbildungs- und Infrastrukturkosten verursacht hat, wovon dann aber andere Regionen profitieren können.

Anlässlich eines kürzlich in Wien gehaltenen Vortrags wurde mir die Frage gestellt, ob nicht auch die (immer noch) starke soziale Kontrolle in den Dörfern die Entwicklung mancher Jugendlicher behindere und es auch deswegen zu Abwanderungen in die Stadt komme. Ich gebe diese Anregung gern weiter, wenngleich ich der Meinung bin, dass die Brisanz der sozialen Kontrolle auf dem Lande gegenüber den 1950er und 1960er Jahren stark abgenommen hat.

f) Zu wenig Integration von Aussiedlern und Zugewanderten

Die Integration von Aussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion und anderen Zugewanderten aus dem Ausland hat zwar hier und dort Fortschritte gemacht, dennoch sind nach wie vor große Defizite zu beobachten. Sprechen Sie mit Vereinsvorständen, hören Sie von vielfach vergeblichen Bemühungen um die Integration von Jugendlichen in die Vereine. Sehen Sie das oft distanzierte Verhalten der Zugezogenen auf den dörflichen Festen. Gegenseitige Vorbehalte und Ängste prägen nach wie vor das Miteinander. Meist fehlt die Motivation, aufeinander zuzugehen. Oft ist der Wille da, aber offenbar scheint die Kraft zu fehlen, sich wirklich einander zu nähern.

g) Zu wenig Netzwerke bzw. Kommunikation zwischen Vereinen, Bürgern und Behörden

Der Informationsaustausch und der Dialog zwischen Vereinen, Bürgern und Behörden haben deutliche Schwächen. Vereine fühlen sich z. B. angesichts ihrer Aufgabenfülle und mancher Sorgen von den Bürgermeistern, Ortsvorstehern, Gemeinderäten sowie der Kommunalverwaltung vernachlässigt, obwohl diese ja eigentlich ein offenes Ohr für die Vereine haben. So lautete ein verzweifelter Hilferuf eines Sportfunktionärs in einer ländlichen Großgemeinde: „Herr Bürgermeister, übernehmen Sie die 1200 Kinder und Jugendlichen, die Woche für Woche von uns in den Sportvereinen trainiert und betreut werden.“ Bisher nicht engagierte Bürger würden sich vielleicht zu einer Mitarbeit motivieren lassen, aber es fehlen ihnen die richtigen Informationen und Ansprachen. Manche Aufgaben eines Dorfes, die sozusagen „zwischen“ den klassischen Aufgaben der verschiedenen Vereine liegen, z. B. die Leerstandsproblematik oder die Integration von Aussiedlern, werden zu wenig wahrgenommen bzw. konkret angegangen.

3. Konkrete Handlungsfelder eines Fitnessprogramms für die Zukunft

In die folgenden konkreten Handlungsfelder sind sowohl Analysen der verschiedenen Wissenschaften als auch Erfahrungen und Modellprojekte aus der Praxis eingeflossen, die im ganzen Bundesgebiet derzeit bekannt sind und diskutiert werden. Darüber hinaus habe ich in den letzten Monaten zahlreiche einschlägige Gespräche mit Vertretern aus der Wirtschaft, aus Kommunen und Vereinen geführt. Eine Zusammenfassung in zehn Punkten muss natürlich manches weglassen, andererseits sind viele Punkte miteinander verknüpft. Natürlich offenbart sich bei einer so komplexen ökonomisch-kulturell-sozialen Thematik – mit einem Blick in die Zukunft – auch meine persönliche Sicht. Bitte betrachten Sie daher meine Empfehlungen nicht als das Dogma eines unfehlbaren Wissenschaftlers, sondern als Angebot zum Nachdenken und zum Dialog! Manche der folgenden Handlungsempfehlungen sind im Übrigen längst angegangen worden.