Preis des aufrechten Gangs

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Acharyya Verlag

für kritische Wissenschaft

Zu diesem Buch

Dokumentarische Erzählung einer Geschichte aus einem bewegten Leben, die sich zwischen 1957 und 1987 in Deutschland und in Indien ereignete. Eine in der Alltagssprache erzählte Widerstandsgeschichte. Akteure sind Deutsche, Inder und andere.

Die Geschichte ermöglicht Einblicke in die Verhältnisse der deutschen und der indischen Gesellschaft, in die moralische Befindlichkeit der Elite, und in die Art und Weise des Wissenschaftbetreibens und vieles mehr. Aspekte, die in beiden Ländern noch nicht thematisiert sind.

Der Autor Prodosh Aich ist geboren 1933 in Kalkutta. Schulbesuch und Studium der Philosophie in Indien. Studium der Ethnologie, Philosophie und Soziologie in Köln. Lehrte Soziologie in Köln, Jaipur und Oldenburg. Hat neben Buchveröffentlichungen und Aufsätzen auch viele Rundfunkfeatures und Dokumentarfilme gemacht.

Prodosh Aich

Preis des
aufrechten Gangs

Lebenserinnerungen

eines Universitätslehrers

aus den Jahren 1957–1987

Februar 2001

Acharyya Verlag, Oldenburg (in Oldenburg)

© 2001 Prodosh Aich

Umschlaggestaltung: [FEINDESIGN] Oldenburg (in Oldenburg)

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-0028-9

Inhalt

Ein unerwarteter Anstoß

Prolog

Die verborgenen Gesichter einer Universität

Jaipur ist auch anderswo, und Mathurs sind überall

Eine „orientalische“ Überraschung in einem undurchsichtigen Stellvertreterkrieg

Und wie mahlen die Mühlen des „Okzidents“?

Zeit zum Auftanken, Zeit zum Nachdenken

Ein Alptraum in Köln

Über die Befindlichkeit der deutschen Elite und von ihrer Moral

Kleine Unwägbarkeiten des Lebens

Von der Moral der deutschen Gerichtsbarkeit

Worauf die uneingeschränkte Despotie deutscher Professoren ruht

Wer sind die Studierenden?

Das ist, was die Universität in Indien produziert

Im Zeichen „Chinatowns“

Epilog

Ein unerwarteter Anstoß

Vor kurzem begegne ich einem Kopten aus Ägypten, wie ich in Deutschland und auch Gesellschaftswissenschaftler. Er hat Lehrverbot in Deutschland, weil er als Nichtmuslim die arabisch erzählte Geschichte über Palästina für wahrheitsnäher hält als die zionistisch erzählte. Karam Khella heißt er. Ich finde ihn sympathisch. Wir tauschen Meinungen, Erfahrungen aus. Eher beiläufig erwähne ich, daß einem Verfasser nicht seine veröffentlichten Bücher wirkliche Erkenntnisse über die moralische Befindlichkeit, den Standort einer Gesellschaft bringen, sondern seine unterdrückten Bücher, die Art und Weise ihrer Unterdrückung, die Skrupellosigkeit der im öffentlichen Leben stehenden Akteure, ihre Verlogenheit, ihre doppelte Moral, der zunehmende Verfall der Werte bei ihnen. Ich habe, erzähle ich ihm, zwei solche Bücher. Und: Stelle dir vor, sage ich ihm, nicht nur der Inhalt der unterdrückten Manuskripte ist nach wie vor aktuell. Aktueller denn je ist das Drum und Dran der Geschichten, vor allem, wie sie unterdrückt wurden. Und die Verhältnisse haben sich wesentlich verschlechtert. Aber wen interessieren solche Geschichten?

Da fragt mich dieser „verrückte“ Kopte aus Ägypten unvermittelt, ob ich wisse, wie viele Menschen in Deutschland leben, die keine Deutschen sind? „Weißt du“, setzt er nach, „daß diese Menschen deutsch sprechen und deutsch lesen, wie du und ich? Diese Menschen haben einen Anspruch darauf, daß du diese Geschichten der Unterdrückung, die auch ein subtiler Ausdruck des Rassismus sind, erzählst. Die deutschsprachige Literatur, die deutsche Sprache kann, darf nicht den Deutschen allein überlassen bleiben. Und diese Menschen werden immer mehr. Sie haben einen Anspruch darauf, daß du Geschichten wie diese erzählst. Damit sie in diesem Land ihre Standorte bestimmen lernen.“

Ja, Karam Khella hat mich nachdenklich gemacht. Ich lebe in Deutschland länger als die meisten Deutschen. Aufgewachsen bin ich in einer anderen Kultur. Nichts war mir in Deutschland selbstverständlich und vertraut. Vom ersten Tag an hatte ich eine kulturelle Distanz zu den hiesigen Verhältnissen. Trotzdem, oder gerade deshalb, habe ich mich hier nicht wenig eingemischt. Jede mich unmittelbar betreffende Ungereimtheit hat mich zum Widerspruch provoziert, nach dem Motto: nicht mit mir. Ungereimtheiten, die die meisten Deutschen widerspruchslos schlucken oder aber nicht einmal wahrnehmen. Die unvermeidliche Folge dieser meiner Haltung sind große und kleine Konflikte gewesen. Nicht zwischenmenschliche Unstimmigkeiten. Nein. Konflikte mit Institutionen bzw. mit einzelnen Vertretern der Institutionen. Je höher ihre Stellung innerhalb der Hackordnung ist, umso weniger scheinen sie sich um die verfaßten Werte ihrer eigenen Institutionen zu scheren. Die Deutschen nehmen diesen Tatbestand ohne sichtbaren Widerspruch hin. Aus der Erfahrung des Alltags heraus: „Die da oben sitzen eh am längeren Hebel.“ Ich hatte keine Gelegenheit, solche Alltagserfahrungen zu verinnerlichen. Mein Erfahrungsschatz ist angefüllt mit Konflikten. Mein Erfahrungsschatz ist ein anderer und reicherer. Und dokumentierbar.

Es ist unfaßbar, wozu viele Vertreter demokratisch verfaßter Institutionen fähig sind, zu welchen Tiefen sie sinken können, wenn sie in die Ecke geraten, wenn ihnen die Argumente ausgehen. Dann vergessen sie das öffentlich geraspelte Süßholz und die gedroschenen Phrasen. Soll ich diesen Erfahrungsreichtum mit ins Grab nehmen? Darf ich es? Ich habe in diesem Land 45 Jahre gelebt. Entsteht daraus die Verpflichtung, so frage ich mich, meinen Erfahrungsschatz zumindest als Baustein für die bitter notwendige Sozialgeschichte anzubieten?

Also blättere ich in den Unterlagen meiner ersten unterdrückten Forschungsarbeit, die einige Umzüge überstanden haben. Sie elektrisieren mich. Wie habe ich diese Geschichte so lange und so gründlich verdrängen können? Ja, dieser Karam Khella! Ich erkenne, daß die ganzen Geschichten eher noch aktueller geworden sind.

Ob auch der öffentlich häufig geleugnete Rassismus bei den vielen meiner Auseinandersetzungen und bei der Unterdrückung zweier meiner Bücher eine Rolle gespielt hat, ist zweitrangig. Klar, es fällt den Angehörigen der „blond-blauäugig-weiß-christlichen“ Kultur (Erläuterungen dazu folgen im „Prolog“) schwer, damit zu leben, daß auch andere denken können, daß andere Menschen Kulturen hervorgebracht haben, denen die kompromißlose Ausbeutung, die Unterdrückung, die Entwürdigung anderer und der Völkermord nicht eingefallen sind. Daß es Angehörige solcher Kulturen nun im Zentrum ihres Machtbereiches in vielen Bereichen ihnen gleich tun, sie auch überragen, ist schwer verdaulich. Mag alles sein. Aber fällt die Art und Weise der Unterdrückung der eigenen Leuten anders aus?

Also habe ich mich überzeugen lassen, die Geschichten meines ersten unterdrückten Buches zu erzählen. Sie spielen sich in und um Universitäten ab, sind diese doch wichtige Facetten der Sozialgeschichte schlechthin. Denn die Universität ist eine prägende gesellschaftliche Einrichtung. Überall.

Sozialgeschichten werden selten erzählt. Solche über Universitäten noch nie. Wer verfügt schon über das belegbare Wissen, um Geschichten aus Universitäten zu erzählen? Auch systematisches Sammeln von nicht mehr belegbaren kleineren Geschichten wäre wichtig. Aber wer soll sie sammeln, wer soll sie aufschreiben? Ist es für die Karriere förderlich, solche Geschichten zu veröffentlichen?

Sozialgeschichten sind Geschichten über soziale Konflikte. Nun gibt es in allen Konflikten Sieger und Besiegte, Gewinner und Verlierer. Die Gewinner und Sieger ziehen es eher vor, über die wirklich angewandten Mittel zu schweigen. Was zählt, ist der Sieg. Sieger verdienen eben den Sieg. Heldenhaft, versteht sich. Und wer soll sich für die Geschichte des Verlierers interessieren? Deshalb werden so selten Sozialgeschichten geschrieben.

Eine kleine, kurzgefaßte, aber doch beispielhafte Episode soll verdeutlichen, was damit gemeint ist. Schauplatz ist die Universität Köln. Mitte der fünfziger Jahre. Noch gibt es keine Massenuniversitäten. Der Grad der Anonymität ist gering. Hans Albert ist noch nicht bekannt als ein hervorragender SoziaIwissenschaftler. Er habilitiert sich gerade in der wirtschafts– und sozialwissenschaftlichen Fakultät. Seine Habilitation hängt an einem seidenen Faden. Nicht weil seine Arbeit dem wissenschaftlichen Anspruch nicht genügt hätte. Nein. Sein wissenschaftstheoretischer Teil ist zu gut, wie später der in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ ausdauernd geführte wissenschaftstheoretische Disput über den „Positivismus“ mit Jürgen Habermas zeigen wird. Dieser methodologische Teil stellt die gängige gesellschaftswissenschaftliche Praxis in Frage, implizit auch jene bestallten Fakultätsmitglieder.

 

So ist halt die Wissenschaft in der Geschichte, auch wenn dies vielen etablierten Wissenschaftlern so häufig gegen den Strich geht. Die geltenden Erkenntnisse werden immer wieder auf den Prüfstand gebracht, neue Aspekte kommen hinzu, die Wissenschaft entwickelt sich, und das Wissen wächst. So sollte es sein. Aus der Natur der Sache heraus. So wäre es auch immer, wenn die Wissenschaftler nur Wissenschaftler wären. Aber sie sind auch Menschen und zuweilen allzu menschlich. Wie beispielsweise jene Mitglieder der wirtschafts– und sozialwissenschaftlichen Fakultät an der Universität Köln. Ordinarien. Mitte der fünfziger Jahre. Sie haben die Macht, die Habilitationsarbeit von Hans Albert abzulehnen, auf Änderungen zu bestehen, ihn zum Widerruf zu zwingen, unabhängig von der wissenschaftlichen Qualität. Und sie sind entschlossen, gegen Hans Albert ihre Macht zu mißbrauchen.

Fakultätsintern, vielleicht auch universitätsintern, wird über den Vorfall getuschelt. Wäre da nicht ein Fakultätsmitglied namens Gerhard Weisser gewesen, der von der Politik als Sozialpolitiker in die Wissenschaft gekommen war, hätte Hans Albert wahrscheinlich wider seines Gewissen große Zugeständnisse machen müssen. Er hätte keine andere Wahl gehabt, wollte er weiterhin im Wissenschaftsbetrieb arbeiten. Und: Er hat bis dahin kein anderes Handwerk als „Wissenschaft“ gelernt. Auch Gerhard Weisser gelingt es nicht, die Arbeit ohne Zugeständnisse durchzubringen.

Nach der erfolgten Habilitation hätte Hans Albert diesen eines Wissenschaftsbetriebs unwürdigen Vorfall öffentlich machen können. Nur, das wäre dann auch das Ende seiner wissenschaftlichen Karriere gewesen. Höchstwahrscheinlich. Später kann er die Geschichte auch nicht erzählen, weil „Wohlverhalten“ für das Weiterkommen im Wissenschaftsbetrieb wichtig ist. Dieser Wirkzusammenhang stellt sicher, daß sich Ähnliches in der Universität Köln und auch anderswo wiederholte.

Ich habe einfach Glück gehabt, daß ich ohne faule Kompromisse dem Universitätsbetrieb erhalten geblieben bin. Aber erzählt habe ich die Geschichten auch nicht. Noch nicht. Schon immer mal habe ich mir durch den Kopf gehen lassen, ob es nicht meine Verpflichtung wäre, die Geschichten zu erzählen. Aber dann holt einen der Alltag wieder ein. Und Entschuldigungen wie: „Sei doch froh und zufrieden, daß Du den Rücken nicht krumm machen mußtest, daß Du nicht ständig verlogen sein mußtest, daß Du Dich nicht auf die Couch oder aufs Krankenbett legen mußtest“. Bis ich mit einer verrückt erscheinenden Frage von Karam Khella konfrontiert werde.

Auch eine Universität entwickelt sich nicht von selbst. Sie wird entwickelt. Forscher, Lehrer, Studierende, Dienstleister aller Art und auf verschiedenen Ebenen entwickeln sie. Und jene einflußreichen Mitglieder der Gesellschaft, die die materielle Funktionsfähigkeit sicherstellen und aus dem Hintergrund die Drähte ziehen. Also fließen in die Universität vielfältige Interessen ein. Deshalb wird in den Universitäten nicht über alles geforscht, was gesellschaftlich notwendig wäre. Nein, geforscht wird nur in jenen Bereichen und über jene Themen, für die Forschungsmittel zur Verfügung gestellt werden. Steckenpferde einzelner Forscher sind selten, noch seltener sind zufällige Entdeckungen.

Die Lehre richtet sich folgerichtig nach den so gewonnenen Forschungsergebnissen. Selbstverständlich wird auch nicht alles gelehrt, werden auch nicht alle verfügbaren Forschungsergebnisse zur Lehre herangezogen. Nein. Gelehrt werden nur jene Aspekte, mit denen sich die Forscher und Lehrer gerade beschäftigen und die mit dem geringsten Aufwand in die Lehre einzubringen sind. Regelmäßige Wiederholungen sind die Regel. Lehre bringt keinen Ruhm, das tun nur veröffentlichungsfähige Forschungsergebnisse. Und ohne Ruhm keine Karriere. Ohne Karriere kein Reichtum. Und es gibt auch Forschungsergebnisse, die noch wertvoller sind, wenn sie nicht veröffentlicht werden, wenn sie unter Verschluß gehalten werden. Marktgesetze! Auch deshalb hat Forschung Vorrang. Und Forschung kostet Zeit. Viel Zeit.

Dieser Lauf der Dinge pflanzt sich fort. Studierende sind die schwächsten Akteure auf dieser Bühne, schwächer gar als die Dienstleister in den Universitäten. Ihr Anpassungsdruck ist groß. Nischen sind selten. Sie lernen mehr als sie fragen. Kritische Fragen sind weder bei den Lehrenden noch bei den Kommilitonen gern gesehen. Sie entsprängen Profilierungssüchten, heißt es. Sie seien zeittötend. Seltenst haben Studierende Gelegenheit, Einblicke in die Verteilung und Verflechtung der Macht innerhalb der Universität zu gewinnen, über die Handlungen der wirklichen Drahtzieher Bescheid zu wissen. Sie haben nicht einmal die faktische Möglichkeit, ihre Lehrer insoweit zu kennen, daß sie wissen, wie und warum ihre Lehrer zu ihren Forschungsschwerpunkten gekommen sind. Später, mit zunehmendem Alter, sind sie dann selbst in jenen leitenden gesellschaftlichen Funktionen tätig, über die sie sich in ihrer Lernzeit keine Einblicke, keine Durchblicke verschaffen konnten.

Ich weiß, daß es zu dem bisher Gesagten kaum Widerspruch geben wird. Auf dieser allgemeinen Ebene sind diese Worte selbstverständlich und deshalb hätte auf sie eigentlich auch verzichtet werden können. Aber nicht in meiner dokumentarischen Erzählung, wie ich meine. Sie benötigt einen gemeinsamen Merkposten, so etwas wie eine Meßlatte.

Ich bin geboren in Kalkutta, indischer Staatsangehöriger nach wie vor, auf Lebenszeit beamteter Hochschullehrer in Deutschland. Der „Freiheit der Forschung und Lehre“ zum Trotz bin ich wiederholt von meinen wissenschaftlichen Schwerpunkten vertrieben worden. Das Wie und das Warum scheint System zu haben. In allen Universitäten geschieht ähnliches und gleiches. Aber das bleibt unerzählt.

Einige Zitate und Fakten mögen wie Wiederholungen erscheinen. Es sind eigentlich keine Wiederholungen, denn in dem jeweiligen Zusammenhang erhalten sie unterschiedliches Gewicht und unterschiedliche Tragweiten. Eine persönliche Erklärung noch. Ich danke allen, wirklich allen, die – wie in dieser Geschichte erzählt – uns, mich zu Erkenntnissen von unschätzbarem Wert geführt haben. Den Text dieser Erzählung haben Klaus Schleuter, angehender Sozialpädagoge, Rechtsanwalt Volker Felmy und meine Frau kritisch gelesen.

Prolog

August 1966. Gerade angekommen im „off-shore“ von Bombay. Mit einem Frachter der damaligen deutschen Hansalinie. Köln, Rotterdam, Beirut, Port Said, Jidda, Aden. 30 Tage Seefahrt. Dazwischen zweimal festen Boden unter den Füßen. Jeweils für wenige Stunden. Wir sehen die Silhouette der westlichsten indischen Großstadt. Aber an Land gehen dürfen wir nicht – wir, meine Frau, deutsche Staatsangehörige und promovierte Ökonomin, und ich. Der einsetzende Monsun hat, wie alle Jahre wieder, zu einem Entladungsstau bei den Frachtschiffen geführt. Wartezeit von mindestens zwei Wochen. Und wir haben keine Zeit zum ungewissen Warten.

Ich habe eine einjährige Lehrverpflichtung übernommen an der Universität Rajasthan in der Hauptstadt Jaipur des Bundesstaates Rajasthan. Beurlaubter wissenschaftlicher Assistent im Institut für Soziologie an der Universität Köln. Das akademische Jahr hat schon am 7.Juli 1966 begonnen. Also drängen wir darauf, ausgeschifft zu werden. Auch die Reederei hat kein Interesse, uns für eine unbestimmte Zeit durchzufüttern, was nicht billig ist. Passagiere eines Frachtschiffes sind immer Erste–Klasse–Passagiere, mit allem Drum und Dran.

Wir haben Erfolg. Wie machte die Reederei es im durch und durch bürokratischen Indien möglich, Passagiere an Land gehen zu lassen aus einem noch gar nicht richtig in Indien angekommenem Schiff? Wir sind heil froh, am nächsten Tag samt unserem Gepäck mit einem Motorboot zur Zollabfertigungsstelle des Hafens gefahren zu werden. Der Warteraum des Zollamtes ist leer. Passagierschiffe meiden Indien während der Monsunzeit. Die Zollbeamten finden dennoch keine Zeit für unsere Abfertigung. Allesamt sitzen sie an ihren Schreibtischen und bearbeiten ihre Akten. Sie haben uns gesehen, und wir können sie sehen. Und, wie gesagt, wir sind in Eile!

Gut, daß wir zu zweit sind. Die Paßkontrolle ist besetzt. Ich eile nach dem Geldumtausch zum Hauptbahnhof. Die Eisenbahnfahrt nach Jaipur zu organisieren. Es ist eine Reise von eineinhalb Tagen mit der Eisenbahn. Reservierung ist Pflicht, ganz gleich, in welcher Klasse man fährt. Ich instruiere meine Frau, wenn es mit der Zollabfertigung so weit sei, jedes einzelne Gepäckstück zu öffnen und alle Gegenstände – und wir haben einige Gerätschaften für den einjährigen Lehr– und Forschungsaufenthalt mit –, die über das übliche Reisegepäck hinaus gehen, auf dem Abfertigungsbogen einzeln eintragen zu lassen. Eine eher intuitive Vorsichtsmaßnahme.

Die nächsten Tage sind restlos ausgebucht. So wird mir gesagt. Nichts zu machen. Zwar gibt es auch eine Luftverbindung zwischen Bombay und Jaipur, aber wie sollen wir die Flugkosten für das viele Gepäck bezahlen? Niedergeschlagen berichte ich meiner Frau über diese mißliche Situation. Sie ist auch ziemlich betrübt und nachdenklich. Immerhin hat sie inzwischen die Abfertigung hinter sich gebracht, wenn auch nicht ohne Komplikationen. Die Zollbeamten sehen das Ansinnen meiner Frau nicht ein, sich in unnütze Arbeit zu stürzen. Unnütz, weil ich mich ja elf Jahre im Ausland aufgehalten hatte und daher eh berechtigt gewesen wäre, unseren gesamten Hausstand zollfrei mitzubringen. Es war gut, daß ich nicht dabei war. Mein eindringlicher Hinweis an meine Frau hatte gefruchtet. Ich weiß nicht wie – die westfälische Beharrlichkeit meiner Frau und vielleicht auch ihr sich aus der sichtbaren Hilflosigkeit entwickelnder Charme –, aber sie hatte die Zollbeamten überredet, die „unnütze Extraarbeit“ auf sich zu nehmen, ohne dafür etwas auf die Hand überreicht zu bekommen. Meine Frau hatte kein Geld bei sich, und selbst wenn sie Geld gehabt hätte, hätte sie nicht gewußt, wie so etwas zu bewerkstelligen gewesen wäre.

Die Zollbeamten sind von Beruf aus neugierig. Sie fragen meine Frau aus. Nachdem sie so gut wie alles über unser bisheriges Leben wissen, wünschen sie ihr alles Gute. Durchaus zweideutig, ehrlich und ironisch zugleich. Der Leiter des Zollamtes macht eine Eintragung im Reisepaß meiner Frau, unterschreibt diese mit vollem Namen und bittet sie, nach ihm zu fragen, sollten wir unsere Rückreise von Bombay aus antreten. Er würde gern wissen wollen, wie unser Aufenthalt tatsächlich verlaufen ist. Der wohlwollend ironische Unterton kommt bei meiner Frau an. Ein Jahr in Indien, mit einem so „unindischen“ indischen Mann!

Was tun, um schnellstmöglich Jaipur zu erreichen? Ich kenne Bombay nicht, ich war nie in Bombay, ich habe auch keine Verwandten oder Freunde hier, aber wir haben einige Adressen für Bombay mit. Eigentlich hat jeder Inder Adressen mit, wenn er in die Fremde reist. Also rufe ich jemanden an, dessen Anschrift meine Frau von ihrem Hindi−Lehrer, auch ein Inder an der Universität Köln, erhalten hatte. Mr. Metha, ein Geschäftsmann aus dem benachbarten Bundesstaat Gujerat, aber seit langem in Bombay zu Hause. Er kommt auch relativ prompt, hilft uns, unsere Gepäckstücke zur Aufbewahrung zu bringen, und nimmt uns so selbstverständlich mit zu seiner Wohnung, als ob dies schon seit langem verabredet gewesen wäre. Uns tut das gut. Als er hört, daß wir dringend nach Jaipur müssen und für Tage keine Reservierung für eine Bahnfahrt möglich sei, lacht er. Wir können sein Lachen nicht deuten. Auch das belustigt ihn, aber dann beruhigt er uns. Wir sollten uns keine Sorge machen und uns beruhigen. Er will dafür sorgen, daß wir schnellstmöglich nach Jaipur kommen.

Die früheste Möglichkeit wäre ein Zug am nächsten Morgen. Wegen der langen Reise schlägt er die erste Klasse vor. Wir sollten uns ausruhen. Er will sich um die Fahrkarten kümmern. Tatsächlich bringt er zwei reservierte Fahrkarten für den nächsten Zug mit. Bevor wir unser Erstaunen in Worte fassen können, teilt er uns eher beiläufig mit, daß er pro Ticket 10 Rupien „extra“ habe bezahlen müssen. Darüber wird nicht verhandelt. Wie hätte ich das wissen können, daß es ohne „extra“ keine Fahrkarten gibt? Das hat man zu wissen. Mr. Metha verrät uns noch, daß in Indien jeder reibungslose Ablauf seinen festen Preis hat. Wir sollten dies beherzigen.

 

Diese kleinen Episoden hätten mich schon ernüchtern müssen, mir klar machen müssen, daß ich mein Land nicht kannte, nicht mehr kannte, vielleicht nie richtig gekannt habe. Nichts von alledem. Stattdessen verarbeite ich diese Kleinstepisoden europäisch intellektuell. Als moderner Sozialwissenschaftler identifiziere ich problemlos das Grundübel. Die Rückständigkeit Indiens sei verursacht durch die Traditionalität. Korruption ist nur ein wichtiger Teil davon. Selbstgefällig erkenne ich meine Verpflichtung, als modern ausgebildeter Wissenschaftler einen Beitrag für die Überwindung der Rückständigkeit meines Landes zu leisten. Ja, es stellen sich auch ein gewisser Stolz und eine innere Befriedigung bei mir ein, daß meine Sensibilität auch auf kleinste Hinweise reagiert. Ich weiß nun immer definitiver, daß ich eine wichtige Mission zu erfüllen habe. Zur Skepsis habe ich so keine Veranlassung. Denn zu dieser Gastprofessur wurde ich eingeladen. Gastprofessur im eigenen Land! Der Widerspruch fiel mir damals nicht auf. Wie sollte er auch? Was soll daran denn falsch sein?

Als es feststeht, daß ich nach elf ereignisreichen Lebensjahren in Deutschland nach Indien zurückkehre, ehrt mich Werner Höfer in seinem sonntäglichen „Internationalen Frühschoppen“. Ein bekannter indischer Wissenschaftler und Publizist, in Deutschland ausgebildet, geht in seine Heimat zurück. Das in Deutschland erworbene Wissen soll zum Fortschritt, zur Modernisierung seines Landes beitragen. Nach dieser öffentlichen Verabschiedung im deutschen Fernsehen interviewt mich Werner Höfer noch für seine wöchentliche Kolumne in der Wochenzeitung „Die Zeit.“ Peter Bender, damals in der WDR–Hauptabteilung Politik, regt an, daß ich Tagebuch führen sollte. Die Redaktionen „Morgen– und Mittagsmagazine“ des WDR bitten mich, unmittelbar nach meiner Ankunft in Jaipur meine Telefonnummer nach Köln zu übermitteln, damit die Redaktion mich für die Magazinsendungen einplanen kann.

Vieles ist in den letzten Jahren geschehen, mich in einen Rauschzustand von Dauer zu versetzen. Ich habe es geschafft, es jenen gleich zu tun, deren Vorfahren vom 16. Jahrhundert an in die Welt hinausgegangen sind und sich diese Untertan gemacht haben, jenen blonden, blauäugigen, weißen Christen, denen es gelang, ihrer Kultur weltweit Geltung zu verschaffen. Denen ebenbürtig geworden zu sein, dazu quasi im Zentrum der „blond-blauäugig-weiß-christlichen“ Kultur, ohne blond-blauäugig-weiß-christlich zu sein, hat mich berauscht; wenn nicht berauscht, so doch blind, blauäugig und überheblich gemacht. Später werde ich einsehen, einsehen müssen, daß dies keine besondere Leistung gewesen ist. Unzählige vor mir haben diese Leistung vollbracht und werden sie nach mir vollbringen. Denn alle Eroberer haben in den eroberten Gebieten instinktiv das vorgefundene Erziehungssystem unterminiert, unterwandert und zerschlagen und das eigene eingeführt. Aber die Briten haben diese Politik in Indien mit Bedacht eingeführt. So formulierte der Liberale Thomas Babington Macaulay (1800 – 1859), der 34jährig als Berater zu einem Salär von 10.000 britischen Pfund dem „Supreme Council of India“ diente, 1835 folgende bemerkenswerte Sätze zur Erziehungspolitik in Indien:

Wir müssen im Augenblick alles tun, um eine Klasse zu formieren, die Vermittler werden könnte zwischen uns und den Millionen von Menschen, über die wir herrschen; eine Klasse von Personen, Inder in Blut und Farbe, aber englisch im Geschmack, in den Meinungen, in den Moralvorstellungen und im Intellekt.“

Der unverheiratete Thomas Babington Macaulay wird 1857 zum 1. Baron von Rothley erhoben.

Es folgte ein neues Erziehungssystem. Indische Aristokraten wie der Bengale Raja Rammohon Roy unterstützten die Politik der systematischen Einführung der blond-blauäugig-weiß-christlichen Kultur in Indien. Wissenschaftler haben dieser Kultur viele Namen gegeben, je nach Opportunität: christlich, westlich, okzidental, europäisch, modern, demokratisch, industriell usw. und usw. All die Bezeichnungen verdecken die wesentlichen Merkmale, die diese Kultur konstruieren: blond-blauäugig-weiß-christlich. Deshalb ziehe ich es vor, diese weltweit dominierende Kultur beim Namen zu nennen, die ja auch meine Kultur geworden ist, auch wenn mir einige Merkmale fehlen. Dank Thomas Babington Macaulay, dem Lord Rothley. All dies werde ich später, viel später, begreifen. Ich war also einer von „Macaulays Klasse" und bin das vielleicht auch heute noch.

Aber damals, 1966, nicht nur in Bombay, habe ich jeden Hinweis, der mich hätte nachdenklich machen müssen, umgedeutet als einen Fingerzeig, als ein Zeichen auf jenen kolossalen Berg von Aufgaben, meiner Mission, Indien zur „Modernität“ zu verhelfen. Vergessen, nein, verdrängt waren viele Ereignisse in den elf ereignisreichen Lebensjahren in Deutschland, die auch anders hätten gedeutet werden können, ja, vielleicht anders hätten gedeutet werden müssen.

*****

Frühmorgens im Mai 1955 komme ich in Hannover an. Über Colombo, Port Suez, Neapel, mit einem Passagierschiff in der billigsten Kabinenklasse. Aber im Gepäck habe ich ein teures Stück Papier: die Zulassung zum Studium des Bauingenieurwesens an der „Technischen Hochschule“ in Hannover. Ein Wunschtraum indischer Eltern war in Erfüllung gegangen. Ja, das Bauingenieurwesen! Nicht Sozialwissenschaften oder Publizistik.

Ein Taxi fährt mich mit meinen drei Gepäckstücken zum Immatrikula-tionsamt. Zwei Mark zeigt das Taxometer. Ich habe nur einen 50–Mark–Schein. Der Taxifahrer hat kein Kleingeld. Er schenkt mir die Fahrt und wünscht mir alles Gute. Am selben Tag der Zulassung werde ich beurlaubt für ein sechsmonatiges Praktikum, dessen erfolgreicher Abschluß Voraussetzung für den Beginn des eigentlichen Studiums ist. Ich bin der zweite Inder, der nach dem Zweiten Weltkrieg an der Technischen Hochschule in Hannover zugelassen wird. Das Immatrikulationsamt bringt mich in einem der wenigen Studentenheime unter. Es ist in Sichtweite des Hauptgebäudes der Hochschule. Der erste indische Student in Hannover lebt auch in diesem Heim. Auch er ist ein Kalkuttaner, ein Bengale also. Er ist kurz vor dem Abschluß seines Studiums. Er ist der Mittelpunkt bengalischer Praktikanten. In den ersten Tagen fühle ich mich wie zu Hause – bengalisches Essen kochen, indische Musik hören, sich in der Muttersprache verständigen in einer kalten, fremden Welt. Angenehme erste Tage!

Die Kriegsschäden sind noch unübersehbar. Auch in der technischen Hochschule selbst. 85 % der Stadt Hannover wurden zum Trümmerhaufen gebombt, wird mir erzählt. 1955 wird überall gebaut. Frühmorgens beginnt die Arbeit, nicht wie in Indien am späten Vormittag. Ich bin beeindruckt. Auch das Praktikum wird vom Immatrikulationsamt vermittelt. An diversen Baustellen. Es wird sogar ein Stundenlohn von einer DM bezahlt. Nicht wenig für die damalige Zeit. Der Stundenlohn hat diese Geschichte, die ich erzähle, nicht nur mittelbar beeinflußt. Körperliche Arbeit war mir bis dahin fremd. Ich lerne, zu arbeiten. Auch nach dem erfolgreichen Abschluß des Praktikums habe ich auf dem Bau gearbeitet, um als angelernter Maurer in den Semesterferien Geld zu verdienen. Das Geld habe ich bitter gebraucht.

Mein Vater, ein Eisenbahner im höheren Dienst im noch ungeteilten Britisch–Indien, hatte bei der Teilung im Jahre 1947 dem Appell Mahatma Gandhis folgend als Nichtmuslim für Ost–Pakistan optiert. So wurde er automatisch Pakistani. Ich blieb zurück in Kalkutta, blieb Schüler in der „Hindu School“ an der College Street, der damals besten Schule in Kalkutta, und erhielt automatisch die indische Staatsangehörigkeit. Nicht einmal zwei Minuten von der Schule entfernt, an der Kreuzung College Street und Harrison Road, ist die einzige „Boys Branch“ der CVJM in Kalkutta. Kein Internat, sondern ein Wohnheim für Schüler. Ich hatte Glück und konnte dort leben. Seit dieser Zeit organisiere ich mein Leben selbst. Mit bescheidenen Mitteln. Mein Vater mußte seinen „ausländischen“ Sohn monatlich mit Geld versorgen. Über den Schwarzmarkt. Pakistan gestattete eine geregelte Überweisung nach Indien nicht.

Und Überweisungen nach Deutschland wären allein wegen des Divisenmangels schwierig gewesen. Für das Studium des ausländischen Sohnes kamen sie überhaupt nicht in Frage. Also wird das Geldschicken nach Hannover kompliziert. Meine sieben Jahre ältere Schwester lebt, seit 1947 verheiratet, in Kalkutta. Sie erhält den monatlichen Wechsel, schwarz versteht sich, um ihn an mich weiterzuleiten. Sie zieht es aber vor, das Geld für sich zu behalten. So bleibt mein monatlicher Wechsel in Hannover aus. Ich nehme an, meine Eltern sind überfordert, das Geld zu überweisen.