Die weise Schlange

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Im Moment waren sie komplett gerafft. Vom kleinsten, vorne am Bug, kam das goldene Blinken. Es bewegte sich ruckartig, geradezu nervös, und schien von einer bestimmten Stelle aus gesteuert zu werden. Der Farbe nach zu urteilen, wurde es nicht von der Lichtreflexion auf einer Waffe hervorgerufen.

„Trotzdem, höchst verdächtig“, murmelte Viviane und schirmte ihre Augen mit den Händen ab. „Aber dieses mickrige Segel versperrt mir die Sicht, egal ob gerafft oder nicht.“

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen.

„Reicht nicht.“

Sie kletterte auf Dina und stellte sich auf deren Rücken.

„Nicht hoch genug“, grummelte Viviane und schaute sich nach Alternativen um.

Arion hob den Kopf, als wollte er mitsuchen. Nein, er hob nicht den Kopf, er winkte damit, und zwar ziemlich ungeduldig. Viviane hätte beinahe laut gelacht. Ganz sachte setzte sie einen Fuß auf seinen Rücken, dann den zweiten …

„Ah, das ist sehr nett, danke dir, mein Großer.“ Viviane krallte ihre Zehen in Arions Fell und schaute zum Nachbarschiff hinüber. Endlich erkannte sie, was da so blinkte und blitzte.

„Ein großer goldener Teller?“

Viviane balancierte auf den Zehenspitzen, was Arion sehr zu gefallen schien, er hielt absolut still.

„Nein, das ist kein goldener Teller. Das ist auch kein goldener Spiegel“, murmelte Viviane und reckte ihren Hals. „Das ist ein Astrolabium.“

Arion gab ein leises Schnauben von sich, Dina stimmte mit ein und Viviane erklärte, ohne den Blick zu senken: „Das ist ein Höhenmesser für Sterne. Sehr praktisch, wenn man auf einem Schiff unterwegs ist. Tagsüber richtet man es auf die Sonne, nachts auf die Sterne. So findet man immer seinen Weg. Hm. Der Mann – ich glaube jedenfalls, dass es ein Mann ist, wenn ich mir die Arme so angucke – weiß aber bestimmt, dass sein Schiff vor Anker liegt und die Sonne im Westen untergeht.“

Viviane gluckste über ihre eigene Intelligenz. „Also dürfte er den Sonnenstand bloß abmessen, um die Zeit zu bestimmen. Hm. Wozu braucht er die genaue Zeit? Doch nur, wenn er mit jemandem verabredet ist. Oder die Besatzung kommt gleich und sie machen sich auch zum Auslaufen fertig.“

Viviane schürzte die Lippen, Arion und Dina schauten sich an, als würden sie ebenfalls überlegen. Unter Deck kreischten auf einen Schlag viele Frauen gleichzeitig los, dazwischen ging ein eindeutig männliches Brüllen in Fiepen über - Viviane verspürte den heftigen Drang, diese Geräusche mit etwas zu überdecken.

Laut summte sie eine Melodie vor sich hin und gab sich Mühe, nur auf diese zu hören. Es nützte wenig. Das erneut aufblitzende Astrolabium bot eine bessere Ablenkung. Wie gut, dass sie eine freie Sicht darauf hatte. Bei der Gelegenheit fiel ihr ein, sie könnte statt zu summen auch reden, egal was ihr einfiel, Hauptsache laut.

„Wisst ihr, meine Guten“, sagte sie daher zu ihren Pferden, „wenn die Segel nicht so lasch hängen würden, hätte ich gar nichts bemerkt. Bei Hall und allen Göttern, was bin ich froh, hier oben bei euch zu sein und mir sinnlos Gedanken über ein fremdes Schiff zu machen. Merdin hat es wesentlich schlechter getroffen. Wer weiß, was die Maiden da unten mit ihren Peinigern treiben. Mir, an ihrer statt, würden tausend Arten von Rache einfallen.“

Nachdenklich schaute sie hinüber zum Zelt, wo zum Glück alles ruhig blieb. Die drei Frauen schienen sich strikt an ihre Anweisung zu halten, aber sicherlich lauschten auch sie dem Kreischen unter Deck. Jetzt schwoll es zu einem hohen, frenetischen Johlen an, vermischt mit dem Winseln eines Mannes, als wäre ein ganzes Heer von Rachegöttinnen am Werk.

Arion und Dina war das egal, sie blieben wie stets gleichmütig stehen.

„Die Rache eines geschundenen Weibes kann grausam sein, doch wahrlich, die Rache vieler hat infernalische Ausmaße“, sagte Viviane laut in einen gellenden Schrei unter Deck hinein und kraulte Arions Rücken kräftig mit den Zehen. „Ob der Erwartete wohl schon im Anmarsch ist?“

Sie schaute einmal rundum in die immer noch menschenleere Umgebung und konzentrierte sich wieder auf das Nachbarschiff. Als ein besonders wilder, lang anhaltender Schrei von unten heraufdrang, hätte sie sich am liebsten die Ohren zugehalten, doch es war ihr wichtiger, die Hände als Blendschutz über den Augen zu lassen. Nur die Daumen konnte sie entbehren und drückte damit fest auf ihre Gehörgänge.

Viviane gab sich alle Mühe, die Brutalität auszublenden, die unter ihr ständig von Neuem aufbrauste wie ein Meer im Sturm; jetzt schien eine Frau alleine zu wüten.

„Bei Hall und allen Göttern“, grummelte Viviane laut vor sich hin, „ist das gruselig. Bei diesem hohen Gekreische stehen mir alle Haare zu Berge. Das Weib da unten tobt ja wie ein ganzes Dutzend Furien. Wer weiß, was der Mann mit ihr gemacht hat, um derart massakriert zu werden. Oh! Was passiert dort drüben bei dem Mann auf dem anderen Schiff?!“ Rasch balancierte sie wieder auf den Zehen.

„Ich glaube, den Lärm hat er jetzt gehört. Oder? Sieht aus, als würde er sich das Astrolabium unter den Arm klemmen und … oh weh, er kommt!“

„Bei Hera und allen Harpyien, was war das für ein grässliches Quietschen?! Albische Streitwagen kurz vor dem Krepieren, weil sie das Fett an den Radnaben vergessen haben?!“

Loranthus gluckste über seinen eigenen, manchmal recht skurrilen Humor und rückte sich das Astrolabium unter der Achsel zurecht. Kurz überlegte er, ob er es lieber als Waffe in der Hand behalten sollte – wo Streitwagen quietschten, waren die berühmtberüchtigten albischen Krieger nicht weit. Jetzt musste er richtig lachen. Ein Astrolabium als Waffe – wahrscheinlich würde er sich damit nur selbst erschlagen. Im Diskuswerfen war er schon immer eine Katastrophe gewesen. Er hatte ihn nie weit schleudern können, aber dafür in alle möglichen Richtungen.

In Erinnerung an seine Trefferquote duckte er sich hastig unter dem gerafften Segel des Schiffes durch und verspürte den heftigen Wunsch, lieber auf dem Bauch weiterzurobben.

„Hierzulande können einem die schrecklichsten Dinge passieren“, flüsterte er seinem Astrolabium zu, während er sich so klein es ging zusammenfaltete und über das Deck huschte wie ein Blitz in Menschengestalt. „Wenn ein Räuber denkt, du wärst aus purem Gold, ist mein Leben nichts mehr wert“, erklärte er und streichelte sein Astrolabium liebevoll. „Dabei bist du bloß vergoldet und ich werde umsonst massakriert. Und aus dir machen diese albischen Barbaren eine neue Flöte, natürlich äußerst kunstfertig; du wärest sehr hübsch anzusehen. Bei Pan, allen Nymphen und Satyrn!“ Er fasste sich an den Kopf und zog seine kurzen schwarzen Locken in die Länge. „Bin ich wirr im Kopf?! Ich rede mit einem Astrolabium! Egal, es ist sowieso niemand hier. Also, bei Pan und seinen Ziegen, keine Panik, Loranthus! Unauffällig anschleichen ist die Devise.“

Betont langsam bückte er sich tief unter das größte durchhängende Segel und trippelte in dieser Position weiter, bis er fast gegen das Heck prallte. Rasch kauerte er sich hin, atmete tief durch und lauschte.

Das seltsame Quietschen war eindeutig vom Schiff nebenan gekommen. Jetzt war es nicht mehr zu hören, aber das konnte sich ja wieder ändern.

Er würde es sich hier auf der Stelle gemütlich machen und warten. Zaghaft streckte er ein Bein aus, dann das zweite …

„Nein.“ Loranthus zog die Beine schnell wieder an. Hinsetzen kam nicht infrage, Ausstrecken schon gar nicht. Erstens wollte er wissen, was dieses verdächtige Geräusch verursacht hatte, zweitens konnte er aus der Hocke schneller über Bord springen. Schwimmend kam kein Barbar hinter ihm her.

Mit der Hand über den Augen musterte Loranthus den Sonnenstand und seufzte schwer. Er hätte mit seinem Vater, seinem Leibsklaven und der Besatzung an Land gehen sollen, aber nein, er musste ja Bauchschmerzen bekommen. Mittlerweile ging es ihm wieder gut, dafür hatte er jetzt andere Sorgen. Oder bildete er sich das bloß ein?

Zaghaft lugte er nun doch über die Reling … und zuckte zurück.

Auf dem Nachbarschiff stand diese extravagante Römerin zwischen den Pferden, die Stola wie ein Tuch über dem Kopf und … und sie winkte ihm zu.

Hektisch überlegte Loranthus, was er jetzt tun sollte. Wegen der Stola und der Entfernung konnte er ihr Gesicht zwar nicht richtig erkennen, aber ganz offensichtlich hatte ihn diese Römerziege gesehen. Viele Möglichkeiten blieben also nicht, wenn er sich nicht blamieren wollte.

Betont langsam stemmte er sich in die Höhe, winkte freundlich zurück und bedeutete mit knappen Gesten, dass er etwas verloren habe und gerade auf der Suche sei.

Aha, die braunhaarige Ziege winkte zurück, als hätte sie ihn verstanden – das war schon mal gut. Übertrieben aufmerksam blickte er zu Boden und tat sehr beschäftigt. Nebenbei überlegte er, was er denn verloren haben könnte. Möglichst etwas Wichtiges. Na, vielleicht löste sich das Problem auch von selbst.

Mit einem äußerst sorgenvollen Mienenspiel beugte sich Loranthus über die Reling und schaute ins Wasser. Sehr, sehr bedauernd sah er dann zum Nachbarschiff hinüber und hob die Achseln samt Hände … Beinahe hätte er sein Astrolabium fallenlassen.

Da flanierte diese Ziege tatsächlich übers Deck, wackelte mit dem Hinterteil und trocknete sich die Haare ab, mit ihrer Stola! Ihre aufwendige Hochsteckfrisur war nicht mehr vorhanden. Hatte sie etwa gebadet? Und wieso hatte er das übersehen? Wo war die Badewanne für verwöhnte Römerziegen? Doch nicht in dem mickrigen Zelt?!

Entsetzt starrte Loranthus noch einmal ins Wasser. Als er wieder hochschaute, warf ihm die Ziege eine lange Kusshand zu. Er konnte blinzeln, so viel er wollte, ein Irrtum war ausgeschlossen. Schon holte sie zur nächsten Kusshand aus.

 

Loranthus riss das Kinn hoch und den Kopf herum. Er schaute lieber zur Sonne. Mit heiratswilligen Römerinnen wollte er nichts zu tun haben; sie waren anstrengend und raubten einem die Ruhe, beziehungsweise den Reichtum – er musste es wissen, er kannte etliche persönlich. Natürlich gab es Ausnahmen, seine Mutter zum Beispiel. Doch diese dort drüben, die war ihm schon negativ aufgefallen, als sie an Deck stolzierte. Sie hatte sich dermaßen herrisch aufgeführt, als wollte sie das Schiff samt Mannschaft in Beschlag nehmen. Und ihr Bruder, dieser Riese von einem Zenturio, war ihr nicht von der Seite gewichen, als wäre er ihr persönlicher Leibwächter.

Wie gut, dass er sein Astrolabium dabeihatte. Betont auffällig richtete Loranthus sein Messgerät auf die Sonne aus, was völliger Blödsinn war, denn die Sonne stand tief und wurde – dank seiner neuen Position – von dem kleinsten gerafften Segel verdeckt. Deshalb war er vorhin ja auch am Bug des Schiffes gewesen. Nicht weiter wichtig, es sollte ja bloß überzeugend aussehen. Auf die Entfernung konnte der Blickwinkel täuschen und Ziegen hatten sowieso keine Ahnung von Astronomie.

Feixend streckte er also seine Arme weit vor und stellte den exakten Stand der Sonne ein, beziehungsweise den des kleinen Segels. Dabei verdrehte er jedoch seine Augen bis zum Äußersten, um die Ziege im Blick zu behalten.

Sie zuckte mit den Schultern, reckte ihre Stupsnase gen Himmel und schlenderte davon. Was tat sie nun? Er musste seine Augen noch mehr verrenken … Sie klatschte in die Hände und stieg doch tatsächlich durch die Luke unter Deck!

Loranthus riss Mund und Augen auf. Hastig steckte er sein Astrolabium zurück unter die Achsel und klemmte es gut fest. Er brauchte jetzt beide Hände, um sie sich vor den Mund zu halten, so entsetzt war er. Diese junge Römerin war nicht nur arrogant, herrisch und weiß die Harpyie noch was – sie war auch dekadent. Absolut entartet, in diesem Alter und als Weib, man stelle sich das vor! Denn eines war klar wie der Himmel: Er wusste, was das für ein Schiff war und er wusste, was dort unter Deck vor sich ging.

Eine junge, reiche Römerin, die bald in den Adelsstand einheiraten und noch reicher werden sollte, die bei so etwas Abartigem, so etwas Scheußlichem dabei sein wollte – das war ja wohl das Schlimmste, was er je gesehen hatte.

Loranthus fühlte einen starken Brechreiz, doch sein Magen war zum Glück leer. Es hätte ihm sowieso niemand beistehen können, sein Vater war ja mit der gesamten Besatzung in dieses billige Gasthaus gegangen. Alle waren gemütlich am Zechen und Würfeln oder womit man sich sonst noch ablenken konnte. Einen kurzen Moment hatte er gar den Eindruck gehabt, sein Vater wolle bewusst von diesem berüchtigten Schiff neben ihnen ablenken. Zum einen hatte er dem Kapitän des letzten Schiffes geraten, mit der Flut auszulaufen, er wolle das auch bald tun, denn ein Sturm ziehe auf. Dabei waren am Himmel höchstens die Anzeichen für eine starke Brise zu erkennen gewesen. Zum anderen hatte er sämtliche nicht auslaufende Seefahrer zu einem Abschiedstrunk an Land eingeladen, sogar die Hafenarbeiter waren mit von der Partie. Obwohl daran eigentlich nichts seltsam war. Sein Vater war ein sehr reicher Mann – viel reicher als manch ein Adliger – und lud ständig irgendwelche Leute zu einem geselligen Beisammensein ein. Ergo konnte das auch Zufall sein.

Loranthus schürzte die Lippen. Wenn er recht darüber nachdachte, gab es noch einen Zufall: Das war jetzt schon das dritte Mal, dass sie im Laufe der Jahre hier im Hafen von Londinium lagen und an einem anderen Schiff, das Sklaven transportierte, irgendetwas kaputtging. Nichts Ernstes, es ging nie unter, aber es handelte sich stets um einen Defekt, der es manövrierunfähig machte. Vor Jahren, bei der ersten Havarie, hatte er sogar geträumt, sein Vater wäre mitten in der Nacht durch die Tamesas getaucht und hätte mit einem Schwertfisch Löcher in den Schiffsrumpf gebohrt.

Als er das am nächsten Morgen seinem Vater erzählt hatte, hatte der nur mit dem Kopf geschüttelt und sehr streng gefragt, ob Loranthus Wein getrunken habe. Und ja, er musste zugeben, dass er sich einen Becher stibitzt hatte, von einem Römer, der eingeschlafen war. Er hätte noch mehr organisieren können, denn es war ein ausuferndes Fest anlässlich des fertig gebauten Hafens gewesen. Ein großer Hafen, darauf konnten sich die Römer wirklich etwas einbilden. Aber damals war Loranthus erst zwölf oder dreizehn und auch er hatte sich gar viel eingebildet.

Zum Beispiel war er überzeugt gewesen, sein Vater sei Poseidon in Menschengestalt, weil er, als dessen Sohn, so mühelos schwimmen konnte wie ein Fisch. Wenn er so recht darüber nachdachte, glaubte er das immer noch.

„Bei Medusa“, japste Loranthus. Hastig riss er sein Astrolabium hoch und tat beschäftigt.

Diese grässliche Römerin kam wieder durch die Luke empor, gefolgt von sämtlichen Seefahrern. Die Männer schienen gewachsen zu sein, wahrscheinlich wollten sie sich vor ihr großtun, um sie zu beeindrucken. Sie verteilten sich an Deck und machten das Schiff zum Auslaufen fertig, ohne dass ein einziger Befehl nötig gewesen wäre. Es war auch niemand da, der ihnen Befehle hätte erteilen können – der Kapitän war offenbar als Einziger unter Deck geblieben, das tat er oft. Und wie bereits zuvor gebärdete sich auch die Römerin wieder, als gehörte das ganze Schiff ihr.

Sichtlich zufrieden schaute sie einmal rundum, ob alle Männer fleißig arbeiteten, und ging dann schnurstracks zum Bug. Mit einem Satz sprang sie auf die Reling, beschirmte die Hände mit den Augen und schaute zur Sonne.

So blieb sie stehen, selbst als das Schiff abgestoßen wurde und heftig zu schaukeln begann. Sie winkte Loranthus sogar zu, als sie nah an ihm beidrehten. Es sah fast aus wie ein Dankesgruß. Aber da konnte er sich durchaus täuschen, denn wegen ihrer erhobenen Hand konnte er ihr Gesicht nicht sehen und sie winkte auch zum letzten Schiff hinüber, das sich ebenfalls zum Auslaufen bereitmachte.

Diese Römerin, diese extravagante, entartete, erschien ihm auf einmal wie verwandelt. Ihr feines Gewand blähte sich wie ein Segel im Wind, ihre langen dunklen Haare flatterten wild und die Abendsonne tauchte ihre ganze Gestalt in rosiges Gold. Sie war herrlich anzuschauen, die reinste Pracht, und plötzlich hatte Loranthus einen Geistesblitz: So, und nicht anders, musste die Göttin der Freiheit aussehen.

Glück im Unglück

Der dichte Wald verschlang die Strahlen der Frühlingssonne und tauchte alles ringsum in kühle Schatten.

Der Reiter, der unter dem sprießenden Blätterdach dahintrabte, war von einem braun karierten Wollmantel verhüllt und hatte sich die Kapuze tief übers Gesicht gezogen. Die Füße steckten in kunstvoll gearbeiteten, warmen Lederstiefeln; innen mit Lammfell, außen mit Schnürung versehen. Nur die zierlichen Hände waren nicht bedeckt – die Hände einer Frau.

Sie saß auf einer kleinen, aber kräftigen grauen Stute, beugte sich vor und flüsterte:

„Jetzt sind wir bald am Ziel, mein Mädchen.”

Als hätte sie jedes Wort verstanden, hob die Stute den Kopf und schüttelte ihre lange, silberne Mähne.

Ein viel größerer, ebenfalls grauer Hengst mit Silbermähne lief an einer derben Leine hinter ihr. Er war über und über mit großen Ledertaschen bepackt, doch er konnte den schnellen Trab locker mithalten, in den die Stute wie von allein gefallen war. Auch er spürte die erwartungsvolle Stimmung und wenn er gewollt hätte, wäre er mit seinen langen Beinen einfach an der Stute vorbeigezogen, doch er war wohlerzogen und sehr gehorsam.

Er würde es gut haben in diesem neuen Land, bei seiner neuen Herrin, das wusste er instinktiv. Wachsam betrachtete er die dichten, grünen Büsche und die großen Bäume am Wegrand. Wie in seiner Heimat sah es hier aus. Es roch sogar fast gleich. Mit weit geblähten Nüstern saugte er die frische Luft ein.

Etwas veränderte sich gerade.

Er scheute im selben Augenblick wie die Stute. Der Wind hatte ihnen einen fremden Geruch zugetragen: Schweiß auf Menschenhaut, vermischt mit dem schnell angetriebener Pferde.

Unruhig tänzelten die Grauen auf der Stelle. Die Frau tätschelte der Stute den Hals und schaute sich um. Zu sehen war nichts Beängstigendes, aber dem Gespür der Tiere konnte sie blind vertrauen und so führte sie die beiden vom Wege ab. Nach ein paar Schritten durch junge Hainbuchen hatte sie der Wald unsichtbar gemacht.

Zufrieden knabberten die Pferde an hellgrünen Sprossen, nur ihre Ohren drehten sie in den Wind und lauschten. Die Frau drehte sich mit. Ihre Haltung zeigte Wachsamkeit, jedoch keinerlei Angst. Alle drei verhielten sich so ruhig, als wären sie Meister des Versteckspiels.

Lange mussten sie nicht warten, schon wurden Hufschläge laut und das Rattern von Rädern. Zwei Reiter galoppierten um die Wegbiegung, Krieger in voller Kampfmontur: Helm, Brustpanzer, Beinschutz, Lang- und Kurzschwert, Rundschild, Speer. Dichtauf folgte eine edle Reisekutsche mit zwei prächtigen Rappen als Zugpferde. Rasend schnell rauschten sie am Versteck vorbei.

Misstrauisch sah die Frau ihnen nach.

Solche Gefährte gab es hierzulande selten, aber was sie eigentlich stutzig machte, war der Kutscher. Er war ebenfalls in Kampfmontur und noch dazu total verdreckt; weder das eine noch das andere passte zu der teuren Kutsche. Auch hatte im Wagen niemand gesessen; durch das offene Fenster hatte sie das gut erkennen können.

Angewidert rümpfte sie die Nase. Der Fahrtwind hatte einen Geruch mitgebracht, gegen den selbst der frische Duft von regenfeuchtem Gras und Holz nicht ankam. Hier war etwas faul, da waren sich ihr Gefühl und ihre Nase einig. Sicherheitshalber blieb sie noch eine Weile verborgen und wartete. Auf was – das wusste sie nicht. Sie war eben schon immer vorsichtig gewesen.

Und ihre Geduld wurde belohnt.

Drei Reiter trabten nun aus derselben Richtung heran. Offensichtlich hatten sie es nicht so eilig wie die anderen, aber auch sie stanken. Was hatten die Männer getrieben, um derart ins Schwitzen zu kommen? Oder wann hatten sie sich das letzte Mal gewaschen?

Rasch hielt sich die Frau den Mantel vor Nase und Mund, und unterdrückte eine plötzlich aufkommende Übelkeit, während ihr Blick hoch konzentriert über die drei Gestalten huschte. Jede Kleinigkeit war wichtig.

Alle drei trugen abgewetzte Brustpanzer aus Leder, die vor langer Zeit einmal sehr teuer gewesen sein mussten; den besten besaß der mittlere, ältere Mann. Die gehärteten Lederplättchen lagen absolut präzise übereinander, wie ein sorgsam gedecktes Dach. Ein echtes Meisterstück, bemerkte sie mit Kennerblick.

Um ihre Schultern lagen dunkelgrüne Wollumhänge, dick gefilzt und gehalten von bronzenen Fibeln; sehr große, klobige Fibeln, doch die Gestalt der Spangen war nicht genau zu erkennen. Vielleicht waren es Adler oder Falken – irgendetwas mit Flügeln. Nachdenklich wiegte sie den Kopf. Dem Aussehen nach hätten die Männer Vater mit Söhnen sein können.

Die Bärte trugen sie zu zwei Zöpfen geflochten und ihr langes Haupthaar kringelte sich in engen Spiralen bis weit über die Schultern. Zwei von ihnen waren mehr rothaarig als blond. Das Haar des Jüngsten jedoch wies bloß einen schwachen roten Schimmer auf. Er hatte himmelblaue Augen, die seine goldenen Locken besonders strahlend machten. Er führte ein reiterloses Zweitpferd mit sich.

Die Frau schüttelte ihren Kopf, so als müsse sie … ja, was? Diese Augen aus ihren Gedanken fegen? Ein unmögliches Unterfangen.

Die letzten azurblauen Augen, in die sie geblickt hatte, hatten ihr traurig Lebewohl sagen müssen, denn Merdin selbst hatte kein Wort herausgebracht. Ihm war der Abschied noch schwerer gefallen als ihr, doch was blieb ihnen übrig? Sie mussten sich trennen. Ihre Aufgaben konnten sie nicht zusammen lösen. Sie waren wie zwei Flüsse, die eine Zeit lang im selben Bett geflossen waren und nun auseinanderdrifteten. Wann sie wieder zusammenfinden würden – wer konnte das schon sagen?

Kein Wunder, dass der Abschied geschmerzt hatte, als wäre ein Stück von Viviane abgerissen worden, ein wichtiges Stück, ein großes. Die Wunde war noch lange nicht verheilt, und vielleicht würde sie das nie. Eine Ära war zu Ende, bevor sie richtig begonnen hatte. Es war zum Heulen.

Schluss damit. Jetzt war sie hier, wo sie hingehörte, und musste sich auf das Wesentliche konzentrieren.

Der Kleidung und Bewaffnung nach zu urteilen, bildeten die Reiter eine Kriegerschar, eine Eskorte. Vielleicht hatten sie gerade jemanden abgeliefert und waren nun auf dem Heimweg. Das war durchaus möglich, fragte sich bloß, wo sie hingehörten. Auf ihren Schilden war kein Wappen zu sehen, und ihre Torques waren unter den Umhängen verborgen. Oder hatten sie gar keine? Doch, sicher. Krieger trugen ihre Torques ständig, erst recht, wenn sie unterwegs waren.

 

Nachdenklich schürzte Viviane die Lippen und tastete den Hals entlang nach ihren eigenen Torques.

Irgendetwas kam ihr hier nicht geheuer vor.

Krieger, die nicht erkannt werden wollten – das war eigenartig. Jeder trug das Wappen seines Clans auf dem Schild und auch die Torques waren für jeden Clan spezifisch, zumindest für die hochrangigen Personen. Man musste schließlich wissen, ob man es mit Freund oder Feind zu tun hatte, wenn man sich begegnete, und wie tief man sich zu verbeugen hatte.

In ihrer Heimat – und sie war hier auf heimischem Boden, sie hatte die Grenze längst passiert – gab es keine Feinde und man brauchte sich erst recht nicht verstecken; alle Clans waren im großen Bund der Hermunduren vereint. Wer also waren diese Krieger?

Waren es schon Späher der Chatten? Eher nicht. Der Krieg hatte noch nicht begonnen, das wäre ihr aufgefallen. Vielleicht waren es Chatten auf Beutezug. In fremden Revieren zu wildern, war bei den Chatten Pflicht, wenn sie zum Krieger gekürt werden wollten. Vielleicht war es auch etwas von beidem, oder ganz anders – sie könnte noch bis Sonnenuntergang Vermutungen anstellen.

Die Frau schnalzte mit der Zunge und lenkte ihre Pferde wieder auf den Weg zurück. Nichts wie weg von hier. Sie wollte zu Hause sein, bevor es dunkel wurde. Im leichten Trab ritt sie weiter und spähte vorsorglich um jede Wegbiegung.

Lang zog sich die Strecke durch den Wald und für eine Weile passierte nichts. Doch sie blieb wachsam und hörte schließlich von Weitem eine aufgebrachte Männerstimme. Gleichzeitig nahm sie einen aromatischen Duft wahr, der in ihren Heimatwäldern normalerweise nicht vorkam.

Mit geschlossenen Augen sog sie noch einmal bewusst die Luft ein. Wunderbar. Da war eindeutig ein Hauch von Zeder zu riechen. Der gehörte zwar nicht hierher, machte aber die faulen Eier von eben hundertmal wett. Wenn da nicht dieses Gezeter wäre …

Ohne das Tempo zu verringern, trabte sie weiter und schüttelte missbilligend den Kopf. Der Schreihals hatte absolut keinen Respekt vor der erhabenen Würde des Waldes. Wer solch einen Lärm machte, konnte ihr nicht gefährlich werden, die Bären hätten ihn nämlich bald gefressen – und das war kein Jux.

Allerdings war von hungrigen Bären keine Spur zu sehen. Vielleicht waren sie gerade woanders unterwegs. Wobei es zu bedenken galt, wie schnell so ein Bär rennen konnte – ein letzter Aufschrei seiner Beute, schon wäre hier wieder Ruhe. Gar nicht auszudenken, wie diese Beute aussähe, wenn er mit ihr fertig wäre.

Wer so etwas noch nicht gesehen hatte, machte sich vielleicht kein Bild davon, Viviane jedoch wusste, was Bären, besonders nach dem Winterschlaf, anrichten konnten. Aufmerksam sah sie sich um und tastete sogar nach der Doppelaxt am rückwärtigen Teil ihres Gürtels. Zur Not hätte sie ihren Mantel schnell beiseitegeschoben und ein Treffer würde ihr genug Zeit verschaffen, um an die restlichen Waffen zu kommen. Völlig unbeeindruckt ob drohender Gefahren polterte die Stimme weiter und fluchte lauthals auf Griechisch, wie sie nach der nächsten Biegung feststellte. Daher also der Zedernduft.

Sie seufzte.

Die letzte Etappe ihrer Reise hatte äußerst gewöhnlich begonnen und jetzt, kurz vor dem Ziel, wurde es auf einmal interessant. Oder womöglich doch gefährlich? Vorsichtig lenkte sie ihre Stute um eine weitere Wegbiegung und hielt sich im Schutz der Büsche.

Eine Falle, einen Hinterhalt konnte sie sofort ausschließen. Im Gegenteil, der Anblick, der sich ihr bot, hätte sie beinahe laut lachen lassen.

Ein mittelgroßer junger Mann in einer ehemals weißen, nun aber schlammverschmierten Tunika stapfte den breiten Waldweg entlang und drehte Runden oder besser gesagt, Ovale.

Seine schwarzen Locken standen völlig zerzaust vom Kopf ab und sein nasser Umhang aus feinstem Gewebe klatschte bei jedem Schritt an seine schlanken Beine. Darüber wölbte sich ein Bauch so prall und feist – er passte gar nicht zu dieser sonst schmalen Gestalt. Eigentlich passte noch mehr nicht zusammen.

Bei den heutigen abrupten Wetterumschwüngen trug man besser einen dicken Filzmantel mit Kapuze statt eines dünnen Umhangs, und sei er auch noch so edel. Sandalen an nackten Füßen waren bei diesem frischen Wind auch reichlich gewagt, erst recht, wenn man keine Hosen anhatte. Zum Glück ging seine Tunika als kurzes Kleidchen durch – es sah drollig aus.

Weil die Beine darunter so stark behaart waren, erinnerte er an eine Stachelbeere – eine ziemlich saure noch dazu. Ja, bei genauerem Hinsehen kam ihr das mürrische Mienenspiel bekannt vor. Tatsächlich. Es war noch gar nicht lange her, da hatte sie den jungen Mann schon einmal gesehen. Es war sogar zur selben Tageszeit gewesen, gegen Abend. Nur der Ort war ein anderer. Damals, im Hafen von Londinium, war der Grieche anstandslos sauber gewesen und hatte höchst pikiert getan; wenn es geregnet hätte, wäre ihm das Wasser in die Nase gelaufen. Heute sah es eher danach aus, als hätte ihn jemand an der Nase gepackt und durchs Wasser gezogen, durch ziemlich dreckiges noch dazu. Jede seiner Gesten, jeder Fluch, jedes Schimpfwort spritzte förmlich von ihm weg.

Und das Lamentieren nahm kein Ende: Sein Leibsklave hatte sich wegen einer Sklavin geprügelt und ein Messer in den Hals gerammt bekommen. Jetzt hatte er keinen bärenstarken Beschützer mehr, nur noch ein Häufchen Asche in einer Urne, aber dafür diese mickrige Sklavin am Hals. Und kaum hatte er sich ein winziges, winziges bisschen mit dem Verlust abgefunden und mit dem schlechten Geschäft, waren sechs Räuber gekommen. Nun war der Wagen weg, die Pferde waren weg, die Geschenke waren weg, die Kleider waren weg, sämtliche Utensilien waren weg, ja, sogar die Urne mit der Asche war weg – und das alles nur, weil eine mickrige Sklavin auf hundert Schritt Entfernung seinen Leibsklaven bezirzt hatte, obwohl sie sich nicht mal nackt ausziehen wollte! Der Idiot hatte sich geprügelt und ein Messer in den Hals gerammt bekommen …

Nach der dritten Runde kannte sie die ganze griechische Tragödie auswendig und senkte ihren Blick auf den Weg. Wenn dieser nicht so fest gewesen wäre, hätte der Mann mit seinen Ledersandalen schon eine Spur hineingetrampelt, eine lange Spur, die von einer Wegbiegung zur nächsten reichte.

Dort, am hinteren Ende seiner Runde, kauerte eine junge, dunkelhäutige Frau auf einem umgefallenen Baumstamm. Das musste die besagte Sklavin sein. Ihre ebenholzfarbenen Haare waren zu vielen dünnen Zöpfen geflochten, die ihr bis auf die Hüften fielen. Darunter trug sie einen ehemals wollweißen Umhang, der nun regelrecht starrte vor Dreck, was ihrer Schönheit jedoch keinen Abbruch tat. Sie war wie eine Perle, eine kleine, zarte, schwarze Perle; kein Wunder, dass sie einen Mann auf hundert Schritt bezirzt hatte. Allerdings funktionierte das nicht bei jedem.

Der Grieche beachtete sie kaum, als er erneut bei ihr umdrehte. Viel zu sehr war er damit beschäftigt, seinen schwarzen Lockenkopf zu raufen und die sechs Räuber zu verfluchen. Es waren äußerst fantasievolle Flüche mit seltsamen Tieren, die von anderen Arten zerquetscht, zerstückelt, gebraten, gekocht und gefressen wurden; die reinste Fressorgie im Reich der Mischwesen.

Auf Griechisch hörte sich das lustig an, fand Viviane und musste sich das Lachen verkneifen, während der Schreihals seine Faust in die freie Hand drückte und wieder in ihre Richtung stapfte. Beinahe wäre er in ihr Pferd gelaufen, so emsig war er damit beschäftigt, sechs Räuber zu zermürben, um als Futter für die vielen Schlangen auf dem Haupt der Medusa zu dienen. Gerade noch rechtzeitig hob er den Kopf und riss die Augen auf.