Die weise Schlange

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Schwer seufzend warf Viviane ihr rechtes Bein in die Höhe und das linke hinterher, sodass ihre Seidenkleider luftig flatterten, ehe sie wieder alles an sich raffte. Eine Handvoll Seide, noch eine Handvoll … ihr rechtes Bein senkte sich graziös und das linke schmiegte sich mit sanftem Druck darüber. Ein dumpfer Schlag ließ die Römer zusammenzucken. Wer störte? Gerade jetzt, wo die feine Seide festklemmte, rosa zwischen zarten Schenkeln.

Erst nach einem strafenden Blick zur Seite stellten sie fest, dass niemand sie ablenken wollte: Die Wirtin hatte bloß den bestellten Krug Wein und zwei Becher abgestellt, und eine Schale mit schaumig geschlagenem Eiweiß.

Letztere war für Viviane und sie stürzte sich darauf, als hätte sie seit drei Tagen nichts mehr gegessen; der Faltenwurf ihrer Stola geriet in Schwung und ihr Busen kam hervorragend zur Geltung.

„Oh, ich liebe diese Delikatesse“, jauchzte sie und vergaß, sich ordentlich hinzusetzen. Halb über den Tisch gebeugt tauchte sie einen winzigen Silberlöffel in den weißen Schaum, hob ihn an und ließ sich nun zurücksinken. „Ja, dieser Eischnee ist besonders gelungen … wie eine luftige Wolke!“ Sie betrachtete den extrem hohen Schaumberg auf ihrem Löffel und saugte ganz vorsichtig daran. „Mmh, steif und … ah, so lecker!“

Die beiden Römer merkten nicht, wer ihnen Wein einschenkte. Sie starrten weiter auf Vivianes glänzend rote Lippen, den Schaum, den sie Zug um Zug einsaugte, und hoben die Becher dank jahrelanger Übung automatisch an die Münder. Erst, als der Berg auf Vivianes Löffel nur noch ein Hügelchen war und sie ihn mit einem gezierten: „Deliziös!“ in den Mund schob, fiel ihnen auf, dass sie das Trinken vergessen hatten.

Schnell schlürften sie gierige Schlucke aus ihren Bechern und hätten beinahe wieder alles ausgespuckt, als Viviane den Löffel mit langer Zunge abschleckte.

Viviane sah aus den Augenwinkeln, dass die beiden sie mit Blicken verschlangen, und schob einen winzigen Klecks Eiweiß wieder zurück auf den Löffel, um ihre Zungenspitze noch einmal darüber gleiten zu lassen. Bohne biss fast in seinen Becher, Kohlkopf tropfte der Schweiß von der Stirn, Merdin fläzte sich noch römerhafter auf seinem Stuhl und hatte schon halb die Augen zu.

„Wirklich hervorragend!“ Beschwingt tauchte sie ihren Löffel wieder tief in „dies schaumige Vergnügen!“

Oh ja, es war wirklich ein Vergnügen gewesen, befanden die beiden Römer, sobald sie allein am Tisch saßen. Mit glasigen Augen bestellten sie noch einen Krug Wein und einen dritten, denn Viviane hatte ihnen reichlich Sesterzen dagelassen. ‚Eine kleine Vergeltung für die Mühen, die sie verursacht hatte‘, so waren ihre Worte gewesen. Und sie hatte darauf bestanden, einen doppelten Aureus für die Schiffspassagen zu bezahlen. Ein Binio müsse sein, denn was man von anderen bekomme, müsse man immer ordentlich vergelten, am besten doppelt, wenn man es schaffte. Dabei hatte Viviane süffisant gelächelt und den Binio mit spitzen Fingern überreicht, damit die Prägung von Nero im Profil auch gut zu sehen war.

Leider kam diese Römerin nicht wieder zurück – als Appetithäppchen wäre sie hervorragend geeignet – aber sie waren auch mit einer neuen Ladung Sklavinnen als schlichte Hauptspeise zufrieden. Sie grinsten sich an und bestellten noch einmal Wein, den besten, unverdünnt.

Viviane und Merdin ritten unterdessen zum Anleger, wo der Kapitän des Schiffes schon zu ihrem Empfang bereitstand. Allerdings schien er etwas anderes erwartet zu haben, denn bei Vivianes Anblick geriet er arg ins Wanken.

„Mein … meine Schöne, du bist so jung“, stotterte er fassungslos. „I… ich habe nicht erwartet …“ Er ruderte mit den Armen, als bräuchte er unbedingt Rückenwind.

„Ach. Was hast du denn erwartet?“, trällerte Viviane in bester latinischer Mundart und beugte sich von ihrer kleinen Stute zu ihm hinüber. „Eine hässliche alte Jungfer, die ihren kranken Onkel noch einmal lebend sehen will, und die deshalb auf einem Sklavenschiff mitschippern muss, weil gerade nichts Besseres vor Anker liegt? Oder eine hässliche alte Jungfer, die auf besagtem Sklavenschiff mitschippert, damit sie noch rechtzeitig einen Gatten abkriegt, bevor sie vertrocknet?“ Sie stach einen rot lackierten Fingernagel unter sein Kinn und klappte ihm den gerade zum Protest ansetzenden, weit aufgerissenen Mund zu. „Nun ja. Eine Jungfer bin ich. Doch wie du siehst, brauche ich mir ansonsten keine Sorgen zu machen. Oder was denkst du?“

„Oh nein, ich denke gar nichts! Ich dachte auch gar nichts“, beteuerte der Kapitän. Er schüttelte vehement den Kopf, obwohl Vivianes Finger immer noch unter seinem Kinn steckte und sie genau das ausgesprochen hatte, was er wirklich gedacht hatte. „Ich war nur …“ Er riss die Hände hoch und bettelte fast: „Schönste der Schönen, schau mich bitte nicht so tadelnd an! Und versteh mich bloß nicht falsch! Es ist alles für eure Reise vorbereitet. Ich habe ein Zelt an Deck und genügend Platz für die Pferde …“ Hastig schielte er zu Merdin, konzentrierte sich jedoch gleich wieder auf Viviane. „… und ich bin begeistert von deinem Liebreiz! Doch du kannst unmöglich auf meinem Schiff mitfahren! So gerne ich das auch hätte!“ Mit einem entschuldigenden Lächeln sah er zu Merdin. Um ihn machte er sich offensichtlich keine Sorgen.

„So, so.“

Viviane zog ihre Hand zurück und glitt von ihrer Stute. Ehe sich der Kapitän das Kinn reiben konnte, hatte sie ihm drei Finger darum gekrallt und fauchte: „Ich bin es nicht gewohnt, abgewiesen zu werden. Gerade eben wurde mir von höchster Stelle versichert …“

„Das ist kein abschlägiger Bescheid, oh schönste aller Römerinnen!“, quiekte der Kapitän und deutete rasch auf sein Schiff. „Es liegt an den anderen Weibern! Du kannst unmöglich mit diesen dreckigen Barbarenweibern auf einem Schiff hausen. Sie schreien und kreischen und jaulen. Ich fürchte um deine Sicherheit! Du bist so jung, du bist so schön!“

„Wenn ich also eine hässliche alte Jungfer gewesen wäre, hättest du damit kein Problem?

Ts, ts, ts.“ Viviane spitzte die Lippen und beugte sich ganz nah an den Kapitän heran.

„Da, wo ich herkomme, habe ich schon viele Barbarenweiber schreien hören. Sie können von mir aus nackt und von Kopf bis Fuß beschmiert sein; sie können toben und kreischen so viel sie wollen; Hauptsache, ich komme schleunigst an mein Ziel. Ansonsten …“

Sie deutete auf Merdin, der mittlerweile ebenfalls vom Pferd gestiegen war und nun mit der Hand auf dem Schwertknauf neben sie trat.

„Zenturio“, jaulte der Kapitän und sprang rückwärts, wodurch Viviane lächelnd sein Kinn freigab. „Gut, gut. Wenn dir die Umstände nichts ausmachen und für deine Sicherheit gesorgt ist …“ Er machte eine hastige Verbeugung und bedeutete Viviane, sie dürfe nun an Bord gehen.

Sie reckte Kinn und Nase in die Höhe, stolzierte an ihm vorbei und trällerte gelangweilt:

„Mein teuerster Bruder wird sich um den Rest kümmern.“

„Den Rest?“ Der Kapitän wusste nicht, was er tun sollte – auf Vivianes Wölbungen vorne starren, die sich unter ihren feinen Gewändern abzeichneten, oder auf deren Faltenwurf, der so neckisch auf ihrem Hinterteil wippte, oder …

„Schluss mit Müßiggang! Fracht an Bord! Flut setzt bald ein!“

Der Kapitän zuckte zusammen und starrte verständnislos auf Merdin. Dieser wedelte ungeduldig mit der Hand in Richtung zweier Fuhrwerke, die mit Stroh-, Heuballen und Fässern beladen am Flussufer warteten. Sofort sprangen etliche Träger herbei, die bis jetzt im Schatten einer Weide herumgelungert hatten.

Nun wusste der Kapitän auch wieder, was zu tun war. Er eilte über das Deck seines Schiffes, um den Männern eine gute Stelle für den provisorischen Pferdepferch zu zeigen. Abrupt blieb er stehen und geriet schon wieder ins Wanken.

Viviane war längst dort. Sie stand genau an der richtigen Stelle und deutete gebieterisch auf die Planken. Sie bestimmte, in welchem Abstand die Ballen und Fässer aufgestellt wurden. Sie bestimmte, welches Stroh aufgeschüttet und welcher Deckel geöffnet wurde. Sie führte ihre kleine Stute höchstpersönlich in den provisorischen Pferch und legte ihr Heu vor. Wahrscheinlich hätte sie ihr auch noch den prächtigen Sattel abgenommen, wenn sich nicht eine Hand auf ihren wohlgeformten Arm gelegt hätte.

Als wäre er gerade aus tiefem Schlaf erwacht, starrte der Kapitän von der Hand des Zenturios zu Vivianes Schmollmund hinauf und krächzte: „Schönste aller Römerinnen! Darf ich dir das Zelt zeigen?!“

„Das Zelt? Selbstverständlich. Sehr gerne.“

„Wunderbar“, jauchzte der Kapitän und war schon drauf und dran, Viviane von ihrer Stute wegzuziehen, bis ihm einfiel, dass seine Finger an ihr nichts zu suchen hatten. Zu seinem größten Vergnügen kam Viviane freiwillig an seine Seite, ja, sie rückte so dicht auf, dass er glückselig frohlockte: „Ich habe es am Heck aufgestellt. Windgeschützt, weitab von jeglicher Dekadenz, ich meine, jeglicher Unannehmlichkeit. Was ich damit sagen will …“

Er wurde leicht verlegen und flüsterte: „Ich muss dich darum bitten, dortzubleiben, das wird dir die Reise sehr erleichtern. Es ist alles den Umständen entsprechend bequem und sauber, ja geradezu klinisch rein, und für die anfallenden Arbeiten, oh Schönste …“

Vivianes Hand, die seinen Arm tätschelte, ließ ihn vergessen, dass er der Schönsten ein paar Sklavinnen ausleihen wollte, sogar kostenlos.

„Davon gehe ich aus“, gurrte ihm Viviane ins Ohr. „Mach dir keine Sorgen um mich, du flotter Seemann. Ich werde bestimmt zurechtkommen. Außerdem habe ich noch meinen teuersten Bruder.“ Glucksend hakte sie sich bei dem flotten Seemann unter und zog ihn fest an ihre Seite.

„Ja“, jauchzte der Kapitän und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Der Gute kümmert sich um den Rest.“

 

Es dauerte gar nicht lange und Viviane stand allein auf dem Deck. Die gesamte Schiffsbesatzung war unten bei den Sklavinnen, inklusive Merdin.

Viviane gestattete sich ein grimmiges Lächeln.

Der Kapitän war ganz begeistert gewesen, als Merdin seinen Fuß auf ein kleines Weinfässchen gestellt, einen prall gefüllten Münzbeutel gezückt und verkündet hatte, nun wolle er den wackeren Seeleuten etwas Gutes tun und sich auch selbst ein wenig Vergnügen gönnen. Es dürfe gerne auch etwas mehr sein, wenn er verstehe.

Und wie der Kapitän verstanden hatte. Man konnte förmlich sehen, wie er die Preise für Vergnügungen aller Art ausrechnete und nebenbei einen Becher Wein nach dem anderen in seinen gierigen Schlund kippte. Er konnte Merdin gar nicht schnell genug die Leiter abwärts komplimentieren.

Mit gelangweilter Miene schlenderte Viviane über das Deck hinüber zu den Pferden. Da sich niemand in Hörweite befand, hätte sie nun in gewohnter Weise auf die Tiere einreden können, doch zur Sicherheit tat sie es in der Sprache der Latiner. Dina und Arion verstanden sie trotzdem.

Ruhig fraßen sie ihr ein paar kleine Äpfel aus den Händen und steckten ihre Köpfe danach in den Berg Heu, den sie ihnen aufgeschüttet hatte. Doch kaum schlitzte Viviane die Stricke der anderen Heuballen auf, hörten sie beide auf zu fressen und schauten ihr interessiert zu. Arion rupfte sich ein Stück vom nächstbesten Ballen ab.

Viviane wollte ihn schon wegen seiner Gefräßigkeit rügen, doch er hatte so ein seltsames Funkeln in den Augen, sodass sie ihm stattdessen zuzwinkerte. Als sie den ersten Deckel an den Wasserfässern anhob und Arion ihr einen sanften Nasenstüber in den Rücken verpasste, hätte sie beinahe laut gelacht. Das konnte sie sich natürlich nicht leisten, daher zwang sie sich, über Holzfässer nachzudenken. Wer auch immer diese erfunden hatte, dem konnte sie gar nicht genug danken. Denn die Einstiegsöffnung, durch die man normalerweise ins Fass kletterte, um es zu säubern, bot auch genug Platz für einen Drachenkrieger mit Gepäck.

„Wartet auf mein Zeichen“, flüsterte sie, während sie den letzten Deckel kaum merklich schräg auf seinem Fass platzierte, und das dumpfe Grollen aus dem Inneren brachte sie zum Schmunzeln. Fast hätte sie dieser Rettungsmission eine lustige Seite abgewinnen können, doch das Lächeln rutschte ihr aus dem Gesicht, als unter Deck ein lautes Johlen ansetzte.

Das waren eindeutig die Seemänner. Wahrscheinlich teilten sie gerade die Sklavinnen unter sich auf.

Kurz wunderte sich Viviane, warum von den Frauen kein einziger Laut kam, aber vielleicht hatten sie es mit der Zeit einfach aufgegeben, sich zu wehren. Wahrscheinlich besaßen sie auch gar keine Kraft mehr dazu.

„Gleich vorbei“, knurrte Viviane, als die Männerstimmen wieder und wieder anfingen zu johlen. Bedächtig trat sie hinter Dina, atmete ruhig und behielt die Luke zum Unterdeck im Blick.

Alsbald stiegen drei Frauen nacheinander daraus empor. Alle drei hätten hübsch sein können, wenn sie nicht zerzauste Haare gehabt hätten, wenn ihre Kleider nicht zerrissen und ihre Gesichter nicht grün, blau und gelb geschwollen gewesen wären. Hinter der letzten kam Merdin in Sicht. Er schaute sofort in Vivianes Richtung und warf ihr einen Blick zu, in dem sich Kummer, Zorn, Ekel, Entsetzen und Abscheu mischten.

Viviane nickte kaum merklich und atmete erleichtert auf, als sie sah, dass Merdin sein Gefühlschaos rasch in den Griff bekam. Er behandelte jede einzelne der Frauen mit Respekt, redete sanft auf sie ein und dirigierte sie nach rechts Richtung Zelt. Seine höfliche Art schien keinerlei Wirkung zu zeigen.

Mit leerem Blick schlurften die Frauen kraftlos vor ihm her, wobei die erste noch am aufrechtesten ging. Sie schien in besserer Verfassung als die anderen beiden, doch das täuschte. Kaum wollte sie sich unter der Zeltleinwand hindurchbücken, presste sie die Hände auf die Rippen und atmete scharf ein. Die zweite hinkte stark und ihr rechter Arm hing schlaff herab; mit dem linken stützte sie die dritte, die stöhnend ein Bein nachzog, der Fußknöchel dick geschwollen.

Ihr Stöhnen wurde jäh von Babygeschrei übertönt. Abrupt richtete sich die Frau mit den gebrochenen Rippen wieder auf, biss die Zähne zusammen und starrte mit den anderen beiden zur Luke hinüber, von wo das Greinen zu kommen schien. Mit einem Schlag ging es in gepresstes Wimmern über, und ein Paar Stiefel stampften nun die Leiter empor.

Viviane fühlte tatsächlich die Planken unter ihren dünnen Korksohlen vibrieren. Der Mann, der die Stufen emporstieg, musste groß, schwer und sehr wütend sein. Mit jeder Sprosse, die er erklomm, wurde sein Tritt derber.

Tief hinter ihre Stute geduckt, knurrte Viviane leise: „Da kommt eine unerwartete Komplikation, aber damit werde ich fertig, keine Bange. Ihr wartet wie verabredet auf mein Zeichen.“

Aus den Wasserfässern, Stroh- und Heuballen kam zustimmendes Brummen in elf verschiedenen Tonlagen. Viviane nahm es nur nebenbei wahr. Sie konzentrierte sich voll und ganz auf sich selbst. Sie musste sich wappnen, denn die bangen Blicke, mit denen die drei Frauen zur Luke starrten, versetzten sie in Kampfbereitschaft. Sie ahnte, dass ihr keine Zeit bleiben würde, über richtige oder falsche Taktik nachzudenken.

Auch Merdin machte sich zum Angriff bereit, doch er hatte offensichtlich Schwierigkeiten, sich zu entspannen, seine Kiefer mahlten, ein Augenlid zuckte. Vielleicht lag es an den Frauen, die nun aufgeregt miteinander tuschelten, vielleicht war es auch das schlagartig kreischende Baby, was ihn die Fäuste ballen und die Ader am Hals hervortreten ließ. Als die schweren Stiefel die letzten Sprossen emporstampften und ein dunkler Haarschopf, Kopf und Schultern sichtbar wurden, tastete Merdin nach seinen Schwertern. Sie waren nicht da.

Kein Langschwert, kein Kurzschwert, er hatte keines davon – er hatte das originale Schwert eines Zenturios. Seine rechte Hand griff nach links, packte den Schwertgriff, doch Viviane riss drohend ihren Finger hoch über den Pferderücken und Merdins Hand zuckte zurück. Er schaute wie ein gescholtenes Kind zu ihr hinüber. Diesmal konnte sie nicht darüber lachen. Ihr verschlug es den Atem, allen verschlug es den Atem bei dem Anblick, der sich ihnen nun bot.

Mit einem mächtigen Satz sprang ein riesiger Mann aus der Luke, stampfte zur Reling und schleuderte ein zappelndes, schmutziges Bündel weit über Bord. Noch im Flug klaffte das völlig verdreckte Tuch auseinander, winzige Beine strampelten sich frei, riesige blaue Augen suchten Halt, dünne Fingerchen griffen ins Leere …

Laut klatschte das Baby ins Wasser.

Die drei Frauen kreischten auf, brüllten, fluchten, schworen Rache … Viviane kannte kein Halten mehr. Tief hinter ihre Stute gebückt, riss sie sich die Kleider vom Leib.

Stola, Tunika, Haarnadeln, rosa Seidendahlie flogen ins Stroh. Sie schaute auf, lugte über Dinas Rücken. Der Riese hatte nichts bemerkt; mit mächtigen Schritten stampfte er wieder zurück über das Deck, den Blick stur auf die Luke gerichtet. Abrupt zuckte sein Kopf nach rechts, wo die Frauen in die Knie sanken und laut schluchzten. Doch das war es nicht, was seinen Blick auf sich gezogen hatte; es war Merdin. Merdin hatte den rechten Daumen gehoben - er hatte erkannt, was Viviane vorhatte, und schon glitt sie bäuchlings über die Reling -, doch der Riese bezog die Geste prompt auf sich. Er grinste breit, machte sogar eine kleine Verbeugung, als würde er sich geehrt fühlen, und hob ebenfalls den rechten Daumen. Dann stampfte er weiter über das Deck.

Viviane ließ sich am Schiffsrumpf hinab; die Finger fest an die Reling geklammert, hing sie da. Wo war das Baby? Sie schaute abwärts, sah nichts als trübes, brackiges Wasser, das langsam dahinfloss – kein Baby. Sie stieß sich mit dem linken Fuß ab, hing jetzt nur noch an der linken Hand. Sie reckte sich. Da war es! Dreißig Schritt entfernt, etwa mittig im Fluss, sah sie einen großen, hellen Fleck im Brackwasser treiben. Unter Wasser!

Viviane stieß sich ab und sprang.

Sie bemühte sich, so geräuschlos wie möglich einzutauchen, Füße voran, lang gestreckt; trotzdem konnte sie den kurzen Schlag beim Eintritt ins Wasser nicht verhindern. Unter Deck war es im Moment verdächtig still; die Seeleute gönnten sich garantiert ein paar Becher Wein, ließen sich womöglich noch von den Sklavinnen bedienen. Von dort drohte keine Gefahr, aber an Deck … Der Riese polterte wahrscheinlich gerade die Leiter hinab, ein lautes Platschen würde ihm bestimmt nicht verborgen bleiben. Und wenn schon. Merdin würde sich um ihn kümmern. Sie musste ein Kind retten.

Vivianes Kopf samt Rumpf schoss aus dem Wasser; hastig sah sie sich um, das Baby war weg, war längst schon weitergetrieben. Sie musste hinterher, musste mehr in die Mitte.

Ein Atemzug und sie warf sich kopfüber ins Trübe; unter Wasser war sie schneller. Mit kräftigen Stößen tauchte sie voran. Sie konnte lange die Luft anhalten, sie würde viel schneller sein als die Strömung. Sie musste das Baby einholen, doch sie fand es nicht.

Sie fand es einfach nicht. Viviane holte stärker aus, schaufelte das Wasser hinter sich; die Augen weit offen, sah sie nach oben, unten, rechts, links, gerade aus … Wo war das Baby? Es war schier zum Verzweifeln. Nichts war zu sehen außer Schlamm, Kieselsteine, Krebse, ab und an Fische; langsam kam ihr der Verdacht, sie würde es nie finden. In dieser trüben Brühe schien alles zu verschwinden – das Baby und auch ihre Hoffnung.

Es war sinnlos.

Eine jähe Trägheit ergriff von Viviane Besitz, lähmte ihre Glieder, erdrückte sie wie eine sanfte, warme Woge und schob sie rückwärts, statt vorwärts. Nein. Nein! Sie durfte nicht aufgeben, und das war auch keine Trägheit, die sie rückwärtsschob, das war warmes Wasser! Warmes, salziges Meerwasser! Die Flut hatte eingesetzt, klar und voller Fische! Hechte, Barsche, Grundeln, Forellen, Dorsche und mitten unter ihnen schwamm das Baby! Bei allen Göttern, da schwamm das Baby! Wie ein Fisch im Wasser! Es paddelte ihr entgegen, den Mund weit offen, selenruhig lächelnd und von der Flut getragen.

Viviane riss die Augen auf und ehe sie begriff, streckte sie die Arme aus und fing das Baby ab; die Fische zogen weiter.

Für einen Moment betrachteten sich die beiden, Viviane und das Kind, landeinwärts getragen von der Flut. Sie strahlten sich an, als wäre diese Zusammenkunft unter Wasser mitten im Fluss eine Art Verabredung, getroffen vor langer Zeit und nun eingehalten. Unendlich glücklich schob Viviane das Kind hinauf gen Wasseroberfläche und schon holten sie das nach, auf das sie offensichtlich beide recht lange verzichten konnten.

Viviane trat kräftig nach unten aus, hob das Baby an, prüfte seine Atmung und stellte verblüfft fest, dass es überhaupt kein Wasser geschluckt hatte, kein winziges bisschen. Natürlich wusste sie, dass Babys lange tauchen konnten, aber es war etwas völlig anderes, dieses Phänomen auf solch spektakuläre Art selbst zu erleben. Ein wahrhaft göttliches Ereignis, und jetzt lächelte dieses Kind sie auch noch an; fast hätte sie vergessen, warum sie beide überhaupt hier im Fluss waren. Sie spürte die vielen Fische an sich vorbeiziehen und wandte sich um Richtung Schiff. Der Weg bis dorthin war weit. Doch was waren schon ein paar Hundert Schritt, wenn man sich von der Flut tragen lassen konnte? Viviane zwinkerte dem Baby zu, legte es sicher auf ihre Brust und stieß sich rückwärts ab.

Die Frauen krümmten sich vor Schmerz, Wut und Trauer. Wehklagend streckten sie die Arme gen Himmel und flehten ihre Götter an, das Baby zu retten. Die Götter im Himmel, die Götter auf Erden, die Götter unter der Erde, im Wasser, im Wind … irgendeiner musste doch helfen können.

Merdin konnte es nicht mehr mit ansehen. Vorsichtig fasste er eine Frau an der Schulter, rüttelte sie ein wenig und beugte sich nah an ihr Ohr. Prompt hörte sie auf zu wimmern und Merdin nutzte seine Chance.

„Hilfe ist längst da“, flüsterte er hastig. „Seid still und gebt auf die Luke acht. Ich will keine neue Überraschung.“ Er drückte noch einmal ihre Schulter und ging.

Sofort herrschte Ruhe.

Verständnislos starrten sich die drei Frauen an, dann schauten sie Merdin hinterher, der hinüber zu den Pferden eilte. Er klopfte einmal kurz gegen eines der Wasserfässer und griff sich den Eimer daneben. Sorgsam prüfte er dessen Henkel, Knoten und Seil, schließlich beugte er sich über die Reling und ließ ihn langsam ab. Während er zusah, wie der Eimer geräuschlos am Schiffsrumpf hinabglitt, murmelte Merdin wie zu sich selbst: „Wenn ihr das gesehen hättet. Vivian hat es tatsächlich geschafft. Sieht gut aus, das Baby bewegt sich, es lacht sogar. Sachte nun. Sie muss den Schöpfeimer greifen, ausleeren und das Kleine hineinlegen. Gar nicht so einfach; jetzt fängt es auch noch an zu strampeln und holt mit seinen winzigen Fäusten aus. Bloß gut, dass die Tamesas hier schön behäbig dahingleitet; ja, die Flussgöttin meint es gut mit unserer Vivian. Oh weh, jetzt ist sie abgerutscht. Nein, keine Bange, nur der Eimer ist ihr entglitten, das Fischlein zappelt noch an ihrer Schulter. Nochmal, Vivian, pack den Eimer. Ja, gut. Leg den kleinen Zappler rein, ich zieh ihn hoch, keine Sorge. Was sagst du, Zoak? Das Fischlein ist genauso quirlig wie du? Na, zum Glück passt es in einen Eimer. Vielleicht hat es später mal Lust, in einem Wasserfass transportiert zu werden, aber bis dahin … Ruhe jetzt, Zoak, gleich hab ich’s, und ihr wartet auf mein Zeichen.

 

Erst das Baby, danach kümmern wir uns um den Rest.“

„Improvisieren ist prima“, gluckste Merdin und lugte in den Eimer. In diesem Moment fühlte er sich so glücklich, als hätte er die gesamte Rettungsaktion schon erfolgreich hinter sich und all seine Wünsche wären wahr geworden. Noch einmal schaute er auf Viviane hinunter, auf seine Vivian, die gemütlich Wasser trat und eine kurze scheuchende Handbewegung machte. Lachend gestikulierte er, sie wäre gleich die Nächste, und beugte sich aus ihrem Sichtfeld.

Vorsichtig stellte Merdin den Eimer ab, dann breitete er seinen Mantel auf dem Stroh aus, zerrte seine Tunika über den Kopf und legte sie fürsorglich auf den Mantel. Nun erst hob er das wild strampelnde Baby aus dem Eimer. Es war ein kleiner Junge, und zum Dank für seine Rettung urinierte er fröhlich drauflos. Merdin konnte gerade noch rechtzeitig die Arme vor und zur Seite strecken.

Es dauerte nicht lange, da versiegte der Strahl. Merdin legte den Kleinen auf seine immer noch schön warme Tunika, deckte ihn gut damit zu und rieb ihn rasch, aber sanft trocken. Nebenbei prüfte er Atmung, Herztöne und Reflexe. Der Kleine ließ alles ruhig mit sich geschehen. Ja, er beobachtete Merdin die ganze Zeit aus seinen großen blauen Augen, als wüsste er genau, was er da tat. Vielleicht wunderte er sich auch, wo seine Retterin abgeblieben war. Merdin musste schmunzeln. Geschickt zog er seine Tunika von dem Kleinen ab und schlug ihn nun warm und trocken von Kopf bis Fuß in seinen Mantel ein. Am Ende schaute nur noch das niedliche Gesichtchen heraus, die fein geschwungenen Lippen verzogen sich zu einem faszinierenden, zahnlosen Lächeln; offensichtlich fühlte sich der Kleine wohl. Während Merdin die Enden seines Mantels gut feststeckte, damit sich das agile Kerlchen nicht freistrampeln konnte, sah er aus den Augenwinkeln die drei Frauen näherkommen.

Schwer stützten sie sich aufeinander und obgleich sie immense Schmerzen litten, trieben sie sich gegenseitig zur Eile. Ihre Gesichter glühten vor Anstrengung, aber auch vor Glückseligkeit.

„Danke dir, danke dir. Bei allen Göttern, danke dir“, keuchten alle drei außer Atem, sobald sie dicht neben Merdin standen. „Wie hast du das gemacht? Wie …“

„Welche von euch will ihn haben? Frisch aus dem Wasser, der kleine Fisch! Sieht jetzt allerdings mehr nach einem fetten, roten Würmchen aus.“

Merdin musste lachen, weil die Frauen mit großen Augen dastanden und keine Antwort gaben.

„Nun guckt nicht so entgeistert! Ihr könnt es ruhig glauben! Der Kleine lebt! Gesund und …“ Merdin starrte auf das Baby, das immer noch zwischen seinen ausgestreckten Armen hing, dick verpackt in seinem Mantel, den Kopf schlaff nach vorne gekippt, Augen zu, Mund auf …

„Eingeschlafen. Wie kann man in der Position schlafen?! Na, egal, ich muss mich sputen. Hier, nimm du ihn.“

Er drückte der erstbesten Frau das Baby in den Arm, griff sich den Eimer - eigentlich brauchte er nur das Seil, aber wozu den Knoten lösen? – und ließ ihn wieder abwärts.

Jetzt erst kam Bewegung in die Frauen. Keine dachte mehr an Leid oder Schrecken; sie waren so mit dem Baby und mit dem Stammeln von Dankesworten beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkten, wie das Seil an der Reling scheuerte. Doch just in dem Moment, da Viviane neben dem strahlenden Merdin an Bord kletterte, verschlug es ihnen erneut die Sprache. Mit offenen Mündern starrten sie auf Vivianes klatschnasse Zöpfe, ihre Brüste unter dem völlig durchweichten römischen Busenband, die Muskelstränge am Bauch, die langen Beine, die rot lackierten Fußnägel, Fingernägel …

Viviane war sich ihrer schlecht sitzenden Frisur und der Rinnsale auf ihrer eingecremten Haut wohl bewusst, doch sie hackte mit einer herrischen Geste die Luft in zwei Teile und zischte: „Jetzt ist keine Zeit zum Starren. Wenn ihr euer Los und das eurer Leidensschwestern ändern wollt, dann gebt ab sofort keinen Mucks mehr von euch. Absolut keinen Laut. Und jetzt leise, ab zum Heck und rein ins Zelt.“ Deutlich zeigte Viviane die Richtung an und machte scheuchende Handbewegungen. „Hurtig, hurtig!“

Auch wenn sie schon wieder nichts begriffen, setzten sich die Frauen folgsam in Bewegung und gaben sich redlich Mühe, so schnell wie möglich über das Deck zu schleichen. Sie nahmen sich nicht die Zeit, zurückzublicken.

Zufrieden formte Viviane mit den Fingern einen Trichter und drückte ihre Lippen dagegen.

Als die Frauen einen Raben dreimal krächzen hörten, blieben sie doch stehen und drehten sich um. Sie sahen Männer aus Fässern, Heu- und Strohballen steigen, und endlich verstanden sie. Ihre Blicke trafen sich, beide Seiten reckten die Fäuste und jeder schlich, so schnell er konnte, an seinen Platz.

Wie geisterhafte Schattenkrieger huschten die Männer übers Deck und die Leiter hinab, mit einem letzten Winken schloss Merdin die Luke von unten.

Der Zelteingang wurde zugezogen.

Allein Viviane blieb auf dem Deck zurück und war froh über ihren Posten als Späher. Während sie sich die Zöpfe auswrang, die Haut mit ihrer langen Seidenstola trocken rubbelte und zurück in ihre schöne warme Tunika schlüpfte, beobachtete sie aufmerksam die Gegend flussauf, flussab.

Das gesamte Hafengelände war nun menschenleer, auch die Schiffe rechts von ihr.

Offensichtlich waren alle Arbeiter nach Hause gegangen und die Seefahrer vertrieben sich ihre Zeit irgendwo an Land.

Nur links von ihr, auf dem letzten Schiff, herrschte reges Treiben. Es schien bald auslaufen zu wollen. Männer eilten hierhin und dorthin, schleppten Lasten, riefen sich etwas zu, lachten; der Kapitän bellte Befehle. Doch niemand, kein Einziger von ihnen, nahm sich die Zeit, herüberzublicken.

Viviane konnte das nur recht sein; gleichwohl fand sie es eigenartig, wenn zwei Schiffe so nah hintereinander am Ufer lagen. Andererseits musste man schon direkt hier bei ihr an Bord sein, um die Situation richtig deuten zu können. Doch halt, was hatte Akanthus gesagt? ‚Zufällig steht uns ein großes Handelsschiff zur Verfügung. Es wird euch im Hafen ausreichend Deckung verschaffen.‘ Erleichtert atmete Viviane aus. Das tat gut.

Scheinbar den Sonnenuntergang genießend, lehnte sie an der Reling. Bis auf gedämpftes Geschrei und Gepolter aus dem Bauch ihres Schiffes war nichts zu hören. Die Pferde waren satt und dösten im Stehen vor sich hin. Viviane hatte nichts mehr zu tun, als sich die Zöpfe aufzudröseln und die nun offenen Haare noch ein bisschen besser zu trocknen.

Doch nein, zu früh gefreut. Rechts von ihr blitzte etwas golden auf.

Schnell ließ Viviane ihren Blick über das Schiff zu ihrer rechten Seite gleiten.

Wie alle anderen Handelsschiffe, die hier im Hafen lagen, war es lang und breit und hatte einen plumpen Rumpf. Dennoch wirkte es schnittiger als die anderen. Es dauerte eine Weile, bevor sie erkannte, woran das lag: Die anderen Schiffe, ihres inbegriffen, hatten nur ein großes Segel – dieses Schiff jedoch verfügte über drei, ein großes und zwei kleinere.