Die weise Schlange

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

„Lass das Vivian, ich bitte dich!“ Merdin klatschte sich die vielen Lederstreifen seines Waffenrockes wieder gegen die Schenkel und packte ihre Hand. „Das ist doch bloß unsere Verkleidung, damit wir ungehindert durch die romtreuen Gebiete kommen!“ Er starrte auf Vivianes schmale Hand in seiner großen Pranke und schien jetzt erst zu merken, wie stark er sie drückte. Schnell fasste er um und streichelte ihre Finger mit seinem Daumen. „So können wir die Heeresstraßen benutzen und kommen viel schneller vorwärts.“

„Ach, verstehe. Prima Idee. Das ist wirklich täuschend echt! Womöglich original?“

Sie zwickte Merdin in die Kniekehle und als er zuckte, schnippte sie ihm einen Finger unter die Nase.

„Auuu…ch brauchst du keine Bange haben, Vivian. Kein römischer Legionär musste dafür sein Leben lassen. Schon vor längerer Zeit ist einer unserer Drachenbrüder losgezogen und hat seine Kontakte genutzt. Über zehn Ecken haben wir die Waffenröcke, die Beinschienen, die Schilde, die Schwerter, die Rangabzeichen, meine besonderen Auszeichnungen, also die gesamte Ausstaffierung redlich erworben, sogar die Unterkleider und Mäntel. Ein Extra für unsere Haare und deine Extravaganzen haben unsere Drachenfreunde, also diese hier, selbst gefertigt.“ Er machte eine vage Geste rundum in Richtung der wieder zum Leben erwachten Dorfbewohner.

„Alles Originale, sagst du? Dieses Sagum auch? Beim Geweih von Cernunnos, ich wollte schon immer mal die römische Webarbeit testen!“ Viviane zerrte Merdin an seinem roten Mantel ganz nah an sich heran. „Nun ja, ziemlich dichte Filzwolle, recht annehmbare Güte, haben die bestimmt von uns gekauft. So, und jetzt, Zenturio, hätte ich gern meine erste Frage beantwortet.“

„Ach so. Also die Helme sind auch redlich erworben. Es gibt verschiedene Größen. Wer wenig Haare hat, bekommt einen engen Helm. Wer mehr Haare hat, bei dem ist der Helm weiter und er bekommt ein Haarnetz, damit nichts rausrutscht.“ Eilfertig hob Merdin seinen Helm an und deutete auf seine frisch gefärbten Haare, die dunkelbraun und eng um seinen Kopf lagen. „Gefangen im Miniatur-Netz unserer Drachenfreunde.“

Viviane schürzte die Lippen.

„Hm. Das muss ich mir haargenau ansehen. Ich brauch mehr Licht.“ Sie zerrte Merdin Richtung Tür. „Also wirklich schick, so eine römische Suppenschüssel-Frisur.“ Sie zog an dem Haarnetz und murmelte verblüfft: „Das lässt sich tatsächlich ein wenig dehnen. Ist aber keine Spinnenseide, sondern Leder. Feinste Lederstreifen, sehr kunstfertig geknüpft.

Du sagst, dieses Extra haben unsere Freunde hier gefertigt? Beachtlich.“

Sie wandte sich an die Dorfbewohner und nickte ihnen sehr freundlich zu. „Verzeiht mir meine harschen Worte und nehmt mir nichts übel. Normalerweise benehme ich mich nicht wie eine Furie. Also, meine lieben Gastgeber, nehmt ihr meine Entschuldigung an?“

„Selbstverständlich! Selbstverständlich!“, riefen die Dorfbewohner mehr als erleichtert und wuchsen zusehends in die Höhe.

„Sehr gut. Und natürlich möchte ich mich auch bei euch bedanken für die Arbeit, die ihr hier geleistet habt. Diese Haarnetze sind wirklich eine geniale Idee. Ich würde mir gerne mal die Knüpftechnik zeigen lassen, aber vorher will ich meine dritte Frage beantwortet haben.“

„Ja, die Knüpfarbeit ist wirklich sehenswert.“ Merdin legte einen Arm um Viviane und führte sie aus dem Langhaus. „Bei der Gelegenheit zeig ich dir gleich, was die Leute noch alles schaffen, wenn der Winter lang ist.“ Glucksend riss sich Merdin den Helm vom Kopf und stülpte ihn Viviane über.

„Wir haben auch deine Utensilien parat gelegt!“, rief der Dorfvorsteher und eilte Viviane nach zur Tür. Dabei wedelte er entschuldigend mit den Händen, weil ihm das erst jetzt eingefallen war. „Akanthus hat uns bestens instruiert! Es wird dir gefallen! Allein die Kleider …“ Als Viviane abrupt stehen blieb, hörte er sofort mit dem Rufen und Wedeln auf. Er sah ziemlich besorgt drein und machte einen Schritt rückwärts, als befürchte er einen neuen Wutausbruch ihrerseits, doch sie klatschte sich nur die Hand auf den Helm.

Viviane hatte nicht bedacht, wie laut der Schlag in ihren Ohren scheppern würde, aber das geschah ihr nur recht. Sie hatte tatsächlich vergessen, dass Akanthus ihr gesamtes Gepäck zur dritten Rast schicken wollte, und der Aufenthalt in diesem Dorf war die dritte Rast. Was sie allerdings nicht wissen konnte, war erstens, dass Akanthus eine komplette Reisekutsche mitlieferte, und zweitens, dass sie einen römischen Markt besuchen würde. Viviane blinzelte heftig. Vor einem der anderen Häuser im Dorf stand nun tatsächlich eine prächtige Kutsche. Doch ihr blieb keine Zeit, diese zu bestaunen, denn kaum, dass ihr Merdin den Helm abgenommen hatte, schob er sie in das Haus hinein.

Darin hatten sich sämtliche Frauen versammelt und präsentierten die feinsten Kleider aus Wolle, Leinen und Seide – allesamt im römischen Stil gehalten und mit sämtlichem Zubehör versehen. Da die Dorfbewohner mit ihren Näharbeiten ehrlichen Handel trieben, konnten sie Viviane nicht nur ausstaffieren, sondern ihr auch noch wertvolle Ratschläge mit auf den Weg geben.

So kam es, dass Viviane wenig später frisch frisiert in echten römischen Gewändern steckte und gar nicht mehr aufhören konnte, freudig vor sich hin zu murmeln.

Alles war komplett aus feinster Seide gefertigt. Ihre Tunika war sonnengelb mit hellgrüner Borte und reichte ihr bis zu den Knöcheln; darüber trug sie eine bodenlange hellgrüne Stola mit aufgestickten rosa Dahlien. Sie war so von ihrer neuen Gewandung fasziniert, dass sie überschwänglich von einem Dorfbewohner zum nächsten tänzelte, um sich zu verabschieden und für die Gastfreundschaft zu danken. Jenen, die vor Kurzem noch ihren Zorn hatten erdulden müssen, hauchte sie einen Kuss auf die Wange. Merdin stellte sich einfach mit dazu, und sie erwischte ihn tatsächlich gleich mehrmals, ohne sich zu beschweren. Es war ihm ein Leichtes, sie nach unzähligen „Auf Wiedersehen!“ und „Besten Dank für die schönen Kleider! Und natürlich besten Dank für die Bewirtung!“ in die Kutsche zu heben.

Nachdem er die Tür ganz leise zugedrückt hatte, hörte er Viviane drinnen murmeln:

„Also dieses Busenband, an das muss ich mich erst gewöhnen, aber das Tunika-Kleid ist dermaßen anschmiegsam … sehen doch recht hübsch aus, wie saftig gelbe Äpfelchen … und diese Stola mit den feinen rosa Blümchen, die kann ich bestimmt auch anders schick drapieren.“

Zwei Tage später ging Viviane in leuchtend rosa Gewändern über das Dach einer echten römischen Villa und war immer noch dabei, die Stola auszuprobieren. Mal ließ sie die Seide vorne wie hinten locker fallen, mal raffte sie sie an den Schultern zusammen und prüfte den Faltenwurf, besonders über ihren Brüsten … sogar mit einem weichen Ledergürtel um ihre Taille herum sah es interessant aus.

Merdin hätte ihr ewig zusehen können. Ihr anmutiger Gang, die Art, wie sie redete und das Kinn hob … selbst ihre Frisur war eine Augenweide.

Wie es Mode war, trug Viviane ihre langen Haare, zu Zöpfen geflochten, in einer komplizierten Hochsteckfrisur. Haarnadeln, aus Silber und mit Perlen besetzt, hielten das Kunstwerk zusammen und eine zartrosa Dahlie aus Seide zierte die hintere Partie – ihr Kopf war ein Schmuckstück, genau wie es sich für eine wohlhabende Römerin gehörte.

Merdin begutachtete mit Wehmut seine neue Haarfarbe in einem auf Hochglanz polierten Kupferspiegel und machte es sich auf einer Ruheliege bequem.

Die erste Hürde hatten sie geschafft.

In Windeseile waren sie durch sämtliche romtreuen Gebiete gereist. Niemand hatte sie angehalten, denn keiner wollte einer Söldnertruppe in die Quere kommen. Die echten römischen Legionärstruppen hatten selbstverständlich keine Probleme damit, doch selbst sie erkannten die falschen Römer als ihresgleichen an. Dabei war es von Vorteil, als Eskorte von reichen Römern getarnt zu sein – Zenturio mit Schwester, unterwegs wegen Erbschaftsangelegenheiten – so blieb keine Zeit für lange Reden. Die Zusammentreffen reichten höchstens für ein paar freundliche Worte nach dem Woher und Wohin und darüber, wie die Straßen waren. Bei ihrer fünften Begegnung mit echten Legionären ließen sie die Frage nach Löchern in Schotterpisten weg – diese waren nämlich gerade von ebenjenen Legionären auf der gesamten Strecke ausgebessert worden.

Mit wehenden Umhängen und blank polierten Helmen preschten sie schließlich auf Londinium zu und hielten vor dem besten Gasthaus am Hafen.

Viviane entstieg der Kutsche wie eine sehr verwöhnte reiche Römerin, bedankte sich wohlerzogen in latinischer Sprache bei der Eskorte und überreichte mit großer Geste einen prall gefüllten Lederbeutel. Danach hakte sie sich bei Merdin ein und stolzierte Richtung Gasthaus.

„Bruderherz, wie denkst du darüber“, entrüstete sie sich laut und blieb ein paar Schritt vor dem Eingang stehen. „Ich bin dermaßen brüskiert! Ich will einfach nicht verstehen, warum eine derart luxuriöse Villa nun als Gasthaus herhalten muss!“ Da Merdin traurig nickte, tätschelte sie ihm tröstend den Arm und tönte noch lauter: „Ob ich mich nun lautstark echauffiere oder nicht – wenigstens bekommen unsere treuen Pferde die beste Pflege. Selbst unsere Ansprüche dürften leidlich befriedigt werden. Ich brauche sofort mein tägliches Schaumbad, beim Jupiter, ist das staubig hier!“

Sämtliche zufällig Anwesende – ob Seemann, Hafenarbeiter, Bauersfrauen, Kinder, Hunde oder Katzen – starrten ihr hinterher, selbst dann noch, als sie schon längst im Gasthaus verschwunden war. Ein paar alte Männer steckten die Köpfe zusammen und tuschelten aufgeregt. Händler eilten von ihren Schiffen und gesellten sich hinzu; besonders zwei griechische fielen auf, da ihre weißen Togen wild flatterten, so schnell hasteten sie herbei, um bloß nichts zu verpassen.

 

Die römische Eskorte aus nunmehr elf Legionären beobachtete den Menschenauflauf eine Weile. Aber da ihr Zenturio sicher angelangt war und hier offenkundig auch nicht gegen Rom gemeutert, sondern nur über seine Schwester getratscht wurde, ritten sie mitsamt der Kutsche ihrer Wege. Genauer gesagt ritten sie bloß ein Stück weg vom Fluss bis zum nächsten billigen Gasthaus und quartierten sich dort ein – sie wurden schon erwartet.

Viviane und Merdin spielten allein weiter Theater und nannten sich nur noch ‚teuerste Schwester‘ und ‚teuerster Bruder‘.

Sie waren Nichte und Neffe eines reichen römischen Ritters, uralter Adel, schwer erkrankt. Wie es sich für einen ordentlichen kinderlosen römischen Ritter-Onkel gehörte, war er sehr stolz auf Merdin, der mit seinen zwanzig Lenzen bereits zum Zenturio gewählt worden war. Dieser war von Geburt her leider ein Bastard seines Bruders, aber das war nur eine Formalität. Mittels Adoption war er nun adelig und konnte offiziell das gesamte Rittergut erben. Viviane sollte einen befreundeten Ritter heiraten, ebenfalls uralter Adel – zwar alt, aber tadellos gesund. Somit war die Familientradition gesichert und der Onkel konnte in Frieden sterben. Es bestand allerdings noch Hoffnung, er könne sich auf wundersame Weise erholen, sobald er seine liebreizende Nichte in die Arme schloss.

Merdin seufzte. Eine derartige Geschichte konnte sich auch nur seine Vivian ausdenken, einfach so, von einem Augenblick zum nächsten. Wie sehr er sie für diese spontanen Einfälle beneidete. Aufmerksam beobachtete er nun, wie sie sich weit über die Dachterrasse beugte, um die Hafenanlage besser im Blick zu haben. Ihre Stola wehte leicht im Wind.

„Bloß keine Langeweile aufkommen lassen, unsere Schiffspassagen müssten bald auftauchen“, murmelte sie und lehnte sich noch weiter über die Brüstung hinaus. „Zwei echte römische Beamte. Bin gespannt, wie die beiden aussehen. Und du?“

„Gespannt wie ein Langbogen.“ Merdin verzog das Gesicht zu einem Grinsen, das allerdings immer schiefer geriet und ganz verschwand, sobald er den Kopf hängen ließ.

Viviane schaute nicht hin, sagte jedoch: „Keine Müdigkeit vorschützen, teuerster Bruder.“

Aber Merdin war es langsam müde, wirklich.

Schon hundertmal hatte er versucht, Viviane seine Gefühle zu offenbaren, doch ständig war etwas oder jemand dazwischengekommen. Fünf Tage lang waren sie geritten und geritten. Zwischendurch hatten sie auch mal geschlafen oder etwas gegessen - aber mit Viviane allein zu sein, das war nicht machbar gewesen. Selbst hier, in dieser riesigen Villa, war es schwierig, da sie von ihren Gastgebern oder deren Kindern umgeben waren.

Und gleich, wenn sie auf dem Schiff waren, würde es schlichtweg unmöglich sein.

Was er brauchte, war Zeit. Ein perfekter Augenblick reichte nicht, er brauchte einen perfekten Tag. Schließlich wollte er nicht mit der Tür ins Haus fallen. Er wollte anklopfen, wie es sich gehörte, und um Einlass bitten. Er wollte mit ihr durch den Wald schlendern und im klaren Wasser baden. Er wollte mit ihr im warmen Gras liegen und die Frühlingssonne genießen. Er wollte sie umarmen, streicheln und küssen. Er wollte mit ihr Brot backen, Butter stampfen und Suppe löffeln, er wollte mit ihr ein Haus bauen und Kinder kriegen – aber nein: Sie mussten Römer spielen.

„Fast hundert Jahre alt, eine vierseitige Villa mit Parkanlagen innen und außen. Also ich frage mich wirklich, wie Akanthus das alles fertiggebracht hat“, murmelte Viviane und goss Buttermilch aus einer bauchigen Kanne in zwei Tonbecher.

Merdin beobachtete jede ihrer Bewegungen von seiner bequemen Ruheliege aus und murmelte: „Es ist nicht nur mein Großonkel Akanthus, sondern auch mein Vater und meine gesamte Sippschaft. Du weißt doch, Vivian, wir gehören allesamt dazu.“

„Selbstverständlich weiß ich das. Ich nehme bloß Akanthus, weil ich ihn länger kenne.

Er steht sozusagen stellvertretend für deine gesamte Sippe. Ihr müsst Unmengen an Kontakten haben, sonst wäre das alles hier nicht machbar.“

Begeistert zeigte sie über die Dachterrasse, auf der kleine Tische neben großen Liegen aus Weidengeflecht standen. Die kniehohe Brüstung war mit riesigen Kübeln dekoriert, in denen ganze Wiesen wuchsen. Da sprießten tatsächlich sonnengelbe Primeln, schneeweiße Gänseblümchen, zierliche Gräser, duftende Kräuter und sogar Haselnussbüsche.

„Man hat das Gefühl, am Waldrand zu liegen. Nebenbei kann man sich sonnen und nachdenken.“ Viviane gluckste und drückte Merdin einen der Becher in die Hand. „Zum Beispiel kann man überlegen, warum die Römer immer auf diesen breiten Liegen liegen, die sie Klinen nennen, und auf klinische Sauberkeit beim Essen achten, wo doch jeder weiß, dass sie dabei schiefliegen. Rutsch mal ein Stück, ich will auch so fein essen wie die Römer. Unsere Schiffspassagen sind noch nicht in Sicht und ich würde es gern mal mit diesen interessant kandierten Honignüssen probieren. Ist da Pfeffer dran? Na, egal, vielleicht kann ich danach ja Feuer speien.“

Sie schwenkte eine leuchtend blaue Glasschale mit besagten Nüssen vor sich her und legte sich graziös neben Merdin auf die Kline. Doch obwohl er ausreichend Platz machte und Viviane sogar die Schale abnahm, sprang sie sofort wieder auf, um die Falten ihrer Stola zu richten; angeblich waren sie schief.

Merdin ballte seine Finger zur Faust und stopfte sich Nuss um Nuss in den Mund. Wieder war ihm eine Gelegenheit abhandengekommen. Ob an seiner Seite hier oben auf der Terrasse oder bei der Besichtigung der Villa - sie flatterte hierhin, flatterte dahin; nirgends verweilte sie lange genug. Wie sollte er sie da zu fassen kriegen, geschweige denn in Ruhe mit ihr reden können? Noch nie hatte er sie derart unruhig, ja, sprunghaft erlebt, nicht einmal vor ihren Prüfungen zum Drachenschwert. Selbstverständlich war diese Mission hier etwas anderes und darum ahnte er, was sie derart umtrieb: Sie hatte Angst. Sie fürchtete sich vor dem anstehenden Kampf und ihr graute vor dem, was sie sonst noch auf dem Schiff erwartete.

Vielleicht brauchte sie einfach diese Unruhe nach außen hin, um sich nicht dem Aufruhr in ihrem Innern stellen zu müssen. Womöglich war es gar eine Art Transport von innen nach außen, um Platz zu schaffen für die Ruhe, die sie so dringend benötigte. Es musste schlimm sein für Viviane, warten zu müssen. Ein Schiff vor Augen, auf dem junge Frauen eingepfercht waren wie Vieh, und nicht sofort etwas dagegen unternehmen zu können … das war grauenvoll.

„So, mein teuerster Bruder, alle wieder gut in Schwung.“ Viviane feixte, streichelte sanft die Falten ihrer Stola von einer Schulter zur anderen und schnappte ihm eine Nuss vor dem Mund weg. „Wirklich prima, diese Mission. Römische Küche hab ich schon immer mal probieren wollen. Hm, ganz schön scharf.“

Sie stibitzte Merdin noch eine Nuss und tänzelte zur Brüstung zurück, von wo sie ihren Blick die Straße entlangwandern ließ, an Häusern und Feldern vorbei und wieder zurück bis hinunter zum Hafen. Jedes Schiff, das am Flussufer vor Anker lag, gerade davonsegelte oder einlief, war von hier aus bestens zu erkennen. Jeder Bauer, der sein Feld bestellte, war bestens zu erkennen. Jedermann, der in Londinium ein und aus ging, war bestens zu erkennen.

„Ich kann sogar unsere Leute dahinten vor dem billigen Gasthaus sehen. Sie rollen gerade mit ein paar mir Unbekannten Fässer in einen Schuppen. Es ist wirklich faszinierend, zu sehen, wer zu uns gehört. Und von dieser Dachterrasse aus behält man alles im Blick, als stünde man auf einer Warte.“ Vergnügt schnippte Viviane mit den Fingern. „Wir machen es uns auf einem Wachturm gemütlich. Dem besten landauf, landab.“

„Hm“, brummte Merdin und hielt ihr zwei Nüsse hin. „Das hast du gut erkannt.“

Vor fast hundert Jahren war die Villa erbaut worden, aus bestem Tonziegel, drei Etagen hoch und teuer eingerichtet. Im Moment gehörte dieses Prachtstück römischer Baukunst einem reichen Römer und seiner Gattin. Er gab Lektionen in Rhetorik, sie bewirtschaftete eine Garküche – Caupona, wie die Römer sagten – und ein dazugehörendes Gasthaus mit den besten Zimmern weit und breit.

Das war jedenfalls die offizielle Version für alle, die danach fragten. In Wirklichkeit waren die Besitzer nämlich Druiden der Rechtsprechung und bevor sie in diese Villa gekommen waren, hatten sie sich noch nie gesehen. Sie stammte aus dem Noricum und er aus Iberien. In Britannien führten sie ein neues Leben mitten unter Römern; selbstredend war es von Vorteil, als Druide die Sprache der Latiner zu beherrschen.

Leute aus vielen römischen Provinzen gingen in dem Gasthaus ein und aus. Im unteren Bereich aßen sie römische Speisen und tranken die besten Weine. Im mittleren bewohnten sie die Gästezimmer und im oberen lernten sie, wirklich gute Reden zu halten. Ein Teil des Gebäudes war für Gäste nicht zugänglich, dort lebten die Eheleute mit ihren drei Kindern.

Die zwei jüngeren hatten noch keine Ahnung, dass ihre Eltern gar keine Römer waren. Aber dafür wussten sie, genau wie ihr großer Bruder, dass sie sich sehr gern hatten und haufenweise Sesterzen verdienten, denn mittlerweile hatte es sich im ganzen römischen Imperium herumgesprochen, wie gut man hier, in der britannischen Provinz, versorgt wurde. Für reiche Reisende war es ein Muss, wenigstens eine Nacht zu verweilen.

Viviane schmunzelte vor sich hin und strich sich über ihre feine rosa Seidenstola. Natürlich waren unter den vielen Gästen auch immer mal welche, die es besser wussten: In diesem Hafen wechselten nicht nur Handelsgüter den Besitzer, man konnte auch in den Besitz von Informationen gelangen, und zwar ohne Bezahlung. Es war die gemeinsame Aufgabe, für die es sich lohnte.

„Vivian, Achtung, die Luke geht auf! Ich glaub, die Römer kommen an Deck! Ja, unsere Schiffspassagen sind gleich in Sicht!“

Viviane blinzelte heftig. Jetzt war sie tatsächlich in Gedanken versunken und hatte sogar Honignüsse geknabbert, ohne es zu merken, was ihr – bei den Massen an Pfeffer drum herum – eigentlich hätte auffallen müssen. Wenn Merdin nicht ihre Hand getätschelt hätte, wäre ihr die Bewegung auf dem vorletzten Schiff flussabwärts entgangen. Da erschien eindeutig ein Kopf in der Luke, dann schob sich der restliche Körper heraus.

„Donar steh uns bei, es beginnt“, hauchte sie. „Merdin, ich hab Angst. Ganz schreckliche, schreckliche Angst. Diese armen Maiden, in welcher Verfassung werden wir sie vorfinden? Wie zerrüttet werden sie sein, körperlich wie geistig, nach all der Zeit?“ Sie verschränkte ihre Finger mit seinen und holte zittrig Luft. „Und da ist noch etwas … Ich würde was drum geben, wenn ich nicht töten müsste. Ich hab doch noch nie in echt …“

„Ganz ruhig, Vivian. Denk jetzt nicht daran. Wir wollen die Maiden befreien und das werden wir tun. Deine List wird gelingen. Und falls es Komplikationen gibt … Wir können blitzschnell denken, kämpfen und improvisieren. Vielleicht kommt es nicht mal zum Kampf. Wenn doch, hältst du dich einfach raus. Mit den paar Seemännern werden wir allemal fertig, keine Bange.“

Viviane fühlte seinen starken Händedruck und atmete gleich viel ruhiger.

„Bei allen Göttern, deinen und meinen, was bin ich froh, gerade dich an meiner Seite zu haben, mein teuerster Bruder.“

Sie schenkte ihm ein liebevolles Lächeln und schaute ihm tief in die Augen. Am liebsten hätte sie sich darin verloren, in diesem himmlisch strahlenden Blau, doch etwas hinderte sie daran. Sie wusste nicht genau, was es war oder wie sie es benennen sollte … sie zwang sich, wegzusehen.

Seufzend starrte sie das Flussufer entlang zum vorletzten Schiff. An Deck redete gerade ein Seefahrer recht überschwänglich auf die beiden Römer ein, während sich Letztere die Kleider richteten. Besonderen Wert schienen sie auf den Faltenwurf ihrer Togen zu legen, sie zupften und begutachteten, zupften und begutachteten … Vom Ausfertigen irgendwelcher Dokumente konnten doch weder Toga noch Tunika derart verrutschen.

Prompt kroch Viviane ein Schauder über den Rücken und es wurde ihr mächtig flau im Magen. Doch es war nicht Angst, die sie erbleichen ließ, es war auch nicht Mitleid für diese armen Frauen dort auf dem Schiff. Sie wusste nicht einmal genau, ob es überhaupt ein Gefühl war, was sie da wahrnahm. Es fühlte sich eher wie ein Ding an, für das sie noch keinen Namen hatte.

Es wand sich in ihren Eingeweiden, streckte sich und dehnte sich, wälzte sich in ihrem Blut und kreischte: ‚Ich will mehr Blut! Viel mehr Blut! Lass mich raus! Ich will kämpfen! Ich will töten! Ich will siegen!‘ Dabei wollte sie doch gar nicht töten. Selbstverständlich wollte sie siegen und um das zu erreichen, musste sie höchstwahrscheinlich kämpfen. Aber am liebsten hätte sie auf Letzteres verzichtet, und töten … nein, das wollte sie erst recht nicht. Nicht nur aus Gnade für ihre Gegner, sondern auch weil das Ding in ihr, dieses blutgierige Biest, sonst noch stärker geworden wäre. Womöglich wuchs es aus ihr heraus und machte sich selbstständig. Wo blieb dann die gute, freundliche Viviane mit all ihrem Mitgefühl? Andererseits hatte sie stets und ständig diese jungen Maiden vor Augen, sah sie zusammengedrängt und schwach, gepeinigt, geschändet, gefoltert. Was nützte diesen hilflosen Wesen ihr Mitleid? Wäre nicht eine Viviane, die nur aus Zorn und Hass und Blutgier bestand, genau das Richtige für sie? ‚Ja! Lass mich kämpfen! Lass mich töten! Lass mich raus!‘

 

Genau deshalb hatte sie das Schiff bis jetzt nur einmal, bei ihrer Ankunft, angesehen und dann nicht wieder. Dieses Chaos tief in ihr drinnen war schlichtweg nicht auszuhalten gewesen. Wer wollte schon einen Kampf gegen sich selbst ausstehen, ihr Mitgefühl gegen das Ding ohne Namen? Wer würde diesen Kampf für sich entscheiden? Sie hatte alles betrachtet, bloß nicht dieses vorletzte Schiff. Sie wollte sich nicht vorstellen, was dort gerade mit den gefangenen Frauen passierte.

Wie lange waren sie jetzt auf diesem Schiff? Wie oft hatte dieses Schiff schon irgendwo vor Anker gelegen? Immer mit ähnlicher Fracht? Und wenn ja, was taten die Seefahrer wohl mit so vielen Frauen, bis sie irgendwann im Zielhafen ankamen – weit, weit über dem Meer, wo ihr Handelsgut zum nächsten Sklavenmarkt verfrachtet wurde? Was nützte es den Frauen dort auf diesem vorletzten Schiff, wenn sie, Viviane, die Ärztin und Drachenkriegerin, wie gelähmt war vor lauter Angst vor sich selbst?

„Schau, Vivian, sie laufen die Planke runter, genau wie uns die Wirtin beschrieben hat. Der eine schwankt, als würde er gleich umfallen und ist so dünn wie eine Bohne. Der andere trippelt auf kurzen Beinchen und ist so dick wie ein Kohlkopf.“

„Oh ja, sehr interessant. Bohne hat eine grüne Tunika und Haare so wirr wie Bohnenkraut. Kohlkopf trägt eine zartgrüne Tunika und sein Schädel ist kahl. Die Namen passen perfekt.“ Aus schmalen Augen beobachtete Viviane die Römer, die am Flussufer verharrten und majestätisch zu dem Seefahrer hinaufwinkten. Am liebsten hätte sie mit Pfeil und Bogen auf die drei angelegt. Vergiftete Blasrohrpfeile wären auch gut geflogen oder ein paar Schleudersteine. Oder sie hätte vom Dach springen und ihnen entgegenstürmen können mit dem Schwert in der Hand, mit zwei Schwertern, mit der Axt, mit bloßen Händen … alles wäre richtig gewesen, alles zusammen.

Die Vorstellung war allzu verlockend, und sie war froh, wieder Merdins starken Händedruck zu spüren. Er hegte ähnliche Gedanken, das wusste sie, auch wenn er nichts sagte, und plötzlich war es ihr wichtig zu trällern: „Komm, mein teuerster Bruder, runter zur Caupona, wir wollen unsere Schiffspassagen in Empfang nehmen!“ Schon eilte sie Merdin voraus über die Dachterrasse und die Treppe hinunter. Sie wurde immer schneller, bis sie durch eine schmale Tür in das hintere Ende des Speiseraums preschte. Nun rannte sie fast vorbei an Tischen und Korbstühlen und der ewig langen Theke, bis diese einen Knick nach rechts machte und auslief. Dort, am Eingang, an der Schmalseite der Caupona, stand die Wirtin mit ihrem ältesten Sohn hinter der Theke. Sie stellten gerade ein neues Fass Wein auf, hielten aber sofort inne, als Viviane und Merdin um die Ecke bogen.

Beim Anblick ihrer grimmigen Mienen wusste die Wirtin sofort Bescheid. Sie schickte ihren Sohn fort, um den anderen Drachenkriegern Meldung zu machen. Dann schlug sie, wie mit Viviane verabredet, ein paar Eier auf. Rasch trennte sie Eigelb von Eiweiß, gab eine Prise Salz in Letzteres und langte hinter sich auf ein Regal, wo schon ein Zwiesel bereitlag. Dieser war letzten Winter aus der Spitze eines Tannenbaums gefertigt worden, mit eingekürzten Ästen und glatt geschnitzt. Wenn der Stiel geschickt zwischen den Handflächen gerieben wurde, verquirlten die kleinen Astenden alles Mögliche an Essbarem und Trinkbarem, ja, Soßen rührten sich fast von alleine sämig.

Bei der grimmigen Miene, mit der die Wirtin den Zwiesel zwischen den Handflächen rubbelte, hätte man allerdings etwas anderes im Krug vermutet als Eiweiß. Nun gut, es war nicht einfach nur Eiweiß. Es war eine Art Geheimwaffe, wenn sie auch weder erschrecken noch wehtun würde. Viviane wollte es anfangs gar nicht glauben, aber ihre Gastleute hatten ihr versichert: Mit Eischnee brächte man Eisberge zum Schmelzen, römische seien besonders empfänglich. Dann hatte die Wirtin eine Kostprobe zum Besten gegeben und gezeigt, was es noch zu beachten gab. Viviane hatte nur staunen können – zum einen über die Fingerfertigkeit und zum anderen über die Raffinesse dieser Druidin, die vom Alter her gut ihre Mutter hätte sein können.

Sie staunte auch jetzt darüber, wie das Eiweiß unter diesen fähigen Händen immer höher schäumte. Es war ein faszinierender Vorgang, doch sie wandte den Blick ab, ging zu Merdin, der unschlüssig an einem Tisch nahe dem Eingang stand, und schubste ihn auf einen dazugehörenden Korbstuhl. Sie brauchte nur den Finger zu heben, schon gähnte er und fläzte sich in eine gelangweilte Schräglage – als Erbe eines adligen römischen Ritters war er für langes Sitzen ohne Pferd unter sich nicht geschaffen.

Viviane war sehr zufrieden mit seiner Pose. Sie setzte sich auf den Stuhl neben Merdin, reckte den Hals, um zu prüfen, ob die Straße durch die offene Tür gut im Blick lag, und beschäftigte sich nun mit sich selbst.

Sie hatte jede Menge zu tun. Sie musste graziös dasitzen; sie musste das mordlustige, nach Blut kreischende Biest in ihrem Innern in ein wohlig schnurrendes Schmusekätzchen verwandeln; und sie musste sich auf zwei Frauenschänder freuen.

Wider Erwarten schaffte sie all das recht schnell, obwohl die freudige Erwartung mit der Zeit verging und einem leicht gereizten Mienenspiel Platz machte. Offenbar waren die Frauenschänder in einem früheren Leben als Schnecken unterwegs gewesen; es dauerte ewig, bis sie in Sicht kamen.

Der eine mit schlaksigen, der andere mit gewichtigen Schritten, schlenderten sie die Hafenstraße entlang direkt auf die Caupona zu. Kaum zur Tür herein riefen sie nach Wein aus Mediolanum – den besten, unverdünnt, einen ganzen Krug voll – und schlenderten zu dem Tisch hinüber, an dem Viviane mit Merdin saß. Dabei hielten sie die Augen stets auf Viviane gerichtet, und so war sie es auch, die beide ansprach.

„Bei Neptunus und Mercurius, ich hoffe, das Schiff ist nun endlich zum Auslaufen bereit?!“ Sie setzte eine Miene auf, als würde sie schon ewig auf dieses Ereignis warten. „Konnte die Freigabe erteilt werden? Darf es fahren?“ Graziös schlug sie die Beine übereinander und wippte höchst pikiert mit dem rechten Fuß.

Beim Anblick ihrer rot lackierten Fußnägel vergaßen die Römer, dass die fremde Römerin erst gestern angekommen war. Sie vergaßen zu fragen, von wo genau sie herkam, wie ihre Eltern hießen und wie diese ihren gehobenen Lebensstil finanzierten. Ja, es schien sogar, als könnten die Römer rein gar nichts mehr denken, nachdem Viviane einmal mit ihren Fingern geschnippt hatte. Sofort zuckten ihre Köpfe hoch und ihre Blicke saugten sich an Vivianes Schmollmund fest, bis sie unvermittelt ihr Kinn reckte. Prompt rutschten die Blicke ihren schlanken Hals hinab und blieben an ihrem Busen hängen.