Die weise Schlange

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Viviane biss sich schnell auf die Lippe, sonst hätte sie vor Freude gejauchzt; allerdings wollte sie vorher noch eine Frage klären: „Was hat es mit diesen Sklavinnen auf sich, kannst du mir das sagen, oder besser, darfst du es?“

„Ja, ich darf“, bestätigte Akanthus, „doch ich muss dich warnen. Wappne dich und bleibe ruhig.“

Viviane nickte und schaute ihren Meister erwartungsvoll an.

„Ein Dutzend römische Söldner haben drüben im Osten, bei den Trinovanten, eine Hallstatt ausgeraubt.“

„Nein“, keuchte Viviane und schlug sich die Hände vor den Mund.

„Oh, doch, sie habe es tatsächlich gewagt, die Grabhügel ehrbarer Trinovanten zu schänden, heimlich bei Nacht und Nebel. Aber damit nicht genug.“

„Es kommt noch schlimmer?“ Viviane riss die Augen auf.

Akanthus nickte traurig. „Als die dort ansässigen Trinovanten bemerkten, was vor sich ging, haben sie sich schleunigst zusammengerottet. Und kaum hatten sie einen Fuß auf ihre eigene Hallstatt gesetzt, waren sie von einem ganzen Heer umzingelt. Es war ein Hinterhalt, verstehst du? Eine ausgeklügelte List der Römer, um an Gold zu kommen und gleichzeitig Aufsässige zu beseitigen. Die Trinovanten waren hoffnungslos in der Unterzahl, alle starben im Kampf. Gestern gab es eine Gerichtsverhandlung – Militärgericht, wie du dir denken kannst – und die Römer bekamen recht. Sie wollten doch bloß ein Übungslager aufschlagen und waren völlig grundlos angegriffen worden. Es war ihr Recht, sich zu verteidigen. Als Wiedergutmachung …“, Akanthus knurrte, wie es Viviane noch nie von ihm gehört hatte, „… als Ausgleich für ihre Verluste forderten sie die schönsten Maiden von dem betreffenden Trinovanten-Clan. Gestern, am späten Abend, erreichte uns ihr Hilferuf.“

„Gestern Abend?“, entfuhr es Viviane. „Während ich fröhlich feiere, werden woanders junge Maiden versklavt?“ Beschämt schlug sie die Hände vors Gesicht.

„Du brauchst dir keine Vorwürfe machen“, beschwichtigte Akanthus und beugte sich vor, um ihr die Hände herunterzuziehen. „Mein Bote musste doch erst die Taube in Empfang nehmen und herreiten. Zu der Zeit hatte ich dich bereits unter Hypnose gesetzt und ich hätte sowieso niemanden in der Nacht reiten lassen; keiner von uns war einsatzfähig, schon gar nicht übereilt, halb im Tran und ohne Plan. Immerhin habe ich bereits einiges in die Wege geleitet: Unsere Drachenkrieger und Helfer sind instruiert; das Schiff dürfte mittlerweile auch lahmgelegt sein, allerdings kann man es nicht ewig aufhalten.“

„Das Schiff?“

Akanthus seufzte. „Die Maiden sollen heute, wohl gegen Mittag, nach Londinium aufbrechen. Wie lange sie für diese Strecke brauchen, kann ich nicht sagen; jedenfalls sollen sie auf ein Sklavenschiff gebracht werden, das zufällig im Hafen vor Anker liegt.“

„Na, das haben die Römer ja geschickt eingefädelt. Egal, ob diese armen Maiden jemals wieder lachen können, Hauptsache, die Münzen klingen fröhlich. So einfach ist das. Ich hasse Sklaverei. Und die Trinovanten haben sich nicht gewehrt, sonst wäre es noch schlimmer gekommen. Womöglich wäre der ganze Clan versklavt worden.“ Viviane nickte bedächtig. Es war gut, dass Akanthus ihre Hände in den seinen hielt, sonst hätte sie nicht so ruhig reden können. „Wirklich sehr raffiniert, diese Römer. Und wer weiß, vielleicht haben sie sogar gehofft, dass sich sämtliche Clans auflehnen. Dann hätten sie die ewig aufsässigen Trinovanten ein für alle Mal vernichtet und der Statthalter von Britannien würde sogar noch als Friedensstifter gefeiert. Aus Sicht der Römer völlig zu Recht.“

„Ja“, bestätigte Akanthus, „dem Sieger gebührt das Recht. Doch so wahr ich der Anführer der Drachenkrieger bin: Jenem, der für Blut und Schande Verantwortung trägt, sage ich einen Tod voraus, der seinen Taten entspricht.“ Er bog seinen Kopf zurück und mit einem monströsen Grollen aus seinem tiefsten Inneren knurrte er: „Quintus Veranius, ich werde dich finden, wo immer du bist.“

Unwillkürlich schaute Viviane gen Osten und fragte sich, ob Quintus Veranius, der Statthalter Neros, wohl wusste, was für Qualen seiner harrten.

„Bei dieser Gelegenheit muss ich noch eines ausdrücklich klarstellen“, sagte Akanthus sehr ernst, nun wieder in seiner normalen Tonlage. „Es gibt Situationen, da auch ein Drachenkrieger kämpfen und töten darf, ohne angegriffen zu werden.“ Er lächelte matt, weil sich Viviane prompt versteifte, und fuhr fort: „Ja, meine gelehrige Schülerin, schau nicht so entsetzt. Selbstverständlich muss man seine Taten rechtfertigen, aber auch unsereins darf ohne Strafe die eigenen Regeln brechen, wenn es keine andere Möglichkeit gibt und wenn es einem höheren Zweck dient. Das musst du begreifen, hier und jetzt.“ Er sah Viviane tief in die Augen und tätschelte sanft ihre Hände.

„Gut“, sagte sie völlig ruhig, aber zu allem entschlossen. „Ich werde diese armen Maiden befreien. Wer ist noch dabei?“

Statt eine Antwort zu geben, ließ Akanthus ihre Hände los und deutete auf einen Erdofen gleich in ihrer Nähe. Die zwölf Männer, die sich dort bislang schlafend gestellt hatten, schlenderten nun in ihre Decken gehüllt herbei. Merdin befand sich unter ihnen. Er warf seine Decke über Viviane, dann schlüpfte er selbst darunter und wickelte sie beide darin ein.

Verdutzt schaute sie ihn an, doch just in diesem Moment wurde ihr so schön warm, dass aus ihrem fragenden Blick ein dankbares Lächeln wurde. Gerade wurde ihr bewusst, wie kalt ihr vorher gewesen sein musste, dabei hatte sie ihre beiden Decken bislang gar nicht vermisst. Blieb nur noch zu klären, wieso er seinen Arm dermaßen fest um ihre Taille schlang.

Vielleicht hatte er gemerkt, wie schlecht es ihr ging. Oder es ging ihm schlecht und er musste sich irgendwo festhalten, damit er nicht umkippte und alle lachten. Der erste Kontakt mit Alkohol lag bei den anderen Kriegern schon eine ganze Weile zurück, wenn sie sich an die gestrigen Gespräche mit ihnen richtig erinnerte. Und nun, da sie ihr freundlich zunickten, fiel ihr auch ein, dass sie noch mehr von ihnen wusste.

„Mittlerweile kennt ihr euch ja alle.“ Akanthus schaute von einem zum anderen. „Und jetzt, da auch unsere Vivian weiß, wo der Hase langläuft, kann ich gleich mit der Tür ins Haus fallen. Euer Weg ist weit und die Zeit knapp bemessen. Dennoch lege ich Wert auf Waschen, Essen und Verabschieden. Ihr nehmt die Reste vom Festessen mit, das reicht als Proviant für einen Tag. Die erste Nacht seid ihr zwar auf euch gestellt, aber alles Weitere ist vorbereitet, bis hin zur Unterbringung in Londinium.“ Akanthus sah aufmerksam in die Runde seiner Zuhörer.

Viviane konzentrierte sich auf seine Augen und nur auf seine Augen, obwohl Merdins Daumen gerade ihren Bauchnabel streichelte. Das machte er sicher nur aus Versehen, so, wie sie heute selbst ein paar Mal etwas ohne nachzudenken getan hatte. Zu viel Alkohol zu trinken, hatte eben Nachwirkungen.

„Wir wissen, wo und mit welcher Besatzung das Schiff vor Anker liegt, und wir konnten es lahmlegen, damit es nicht verfrüht ausläuft.“ Er machte eine Handbewegung, als wollte er Holz sägen. „Und wir haben Krieger, die nicht nur kämpfen und Schiffe steuern können, sondern auch die Gegend kennen.“ Er deutete auf die Männer rundum und sah dabei aus wie ein stolzer Vater, der die Künste seiner Söhne anpreist. „Sie kennen jeden Weg, jeden Schlupfwinkel und jede helfende Hand. Daher wird es nicht einen Anführer geben, sondern es wird je nach Gegend gewechselt. Zoak macht den Anfang, dann übernehmen Kassus und Thales; Gaed wird euch schließlich sicher ans Ziel bringen.“

Viviane musste grinsen. Zum einen, weil Merdins Daumen gerade ihre Hüfte kitzelte, zum anderen, weil die eben genannten Männer gleichfalls grinsten. Sicher fühlte sich jeder von ihnen sehr geehrt, der Truppe voranreiten zu dürfen.

„Zufällig steht uns ein großes Handelsschiff zur Verfügung“, sagte Akanthus und hob Achtung heischend den Zeigefinger. „Es wird euch im Hafen ausreichend Deckung verschaffen. Der Kapitän gehört zwar nicht zu uns, doch er ist ein ranghohes Mitglied eines anderen Bundes im Kampf gegen Rom. Ich kenne und schätze ihn sehr. Wir können voll und ganz auf seine Findigkeit bauen. Womit alle Probleme gelöst wären, bis auf eines.“

Akanthus’ buschige Augenbrauen zuckten in die Höhe.

„Wie gelangt ihr samt Waffen am helllichten Tag unbemerkt aufs Schiff?“

Viviane saß sofort kerzengerade und dachte über die Frage nach. Was Merdin hinter ihrem Rücken tat, war in diesem Moment egal.

Scheinbar hatten sich schon alle die Köpfe darüber zerbrochen und noch keine sichere Lösung gefunden. Das war die Gelegenheit für sie, Viviane, etwas zum Gelingen der Aktion beizutragen, sozusagen als Einstand für flügge gewordene Drachen.

„Nun ja, ich schlage vor …“, begann sie und schaute sich in der Gegend um, um zu sehen, ob noch jemand zu ihrer Besprechung kommen würde. „Da ich offensichtlich die einzige Maid bin, übernehme ich die Lösung dieses Problems.“

„Du bist dermaßen raffgierig, Vivian.“ Merdin hörte abrupt auf, ihr Rückgrat zu kneten, doch nur, um sogleich an den Schultern weiterzumachen. „Raffgierig wie ein Römer. Ich meinte, Römerin.“

„Das, mein Bester, hast du gut erkannt.“

Viviane drehte sich in die Runde und versuchte sich an einem lasziven Augenaufschlag. Uathach war der Meinung, das würde bei ihr sehr verführerisch wirken, und wenn es die Krieger in ihren Bann schlug, sollte es auch als Ablenkungsmanöver im Hafen funktionieren. Die Männer um sie herum schauten jedoch nur verständnislos drein.

„Ach, mein Gesicht ist ja noch ganz blau“, fiel es ihr nach einem kurzen Seitenblick auf Merdin ein.

Dieser hatte inzwischen verstanden und zeigte ein dementsprechend lüsternes Mienenspiel. „Ihr müsst euch die blauen Spiralen in meinem Gesicht wegdenken, selbstverständlich auch die restliche Körperbemalung. Nur die Zöpfe, die will ich unbedingt behalten. Wenn ich schon in geheimer Mission gegen die Römer ziehe, will ich wenigstens ein Zeichen setzen.“

 

„Vivian! Was genau hast du vor?!“ Merdin grollte, keine Spur von Gier mehr im Gesicht. In seinen himmelblauen Augen zog ein Gewitter auf und seine Finger, die gerade noch sanft ihre Schulterblätter massiert hatten, packten jetzt ihren Nacken ganz fest.

Viviane fand den harten Griff äußerst wohltuend bei all den verspannten Stellen, die immer mehr zu werden schienen.

„Mmh, keine Sorge“, schnurrte sie. „Ich mach es einfach wie du.“ Sie bedachte Merdin mit einem besonders provokanten Augenaufschlag. „Erst kitzle ich mal hier, mal da, dann pack ich zu, genau dort.“ Sie deutete auf die Stelle, an der Merdin offenbar ihr Genick brechen wollte, und trällerte: „Wenn du alles fein weich machst, knete ich dich nachher auch ordentlich durch. Und dann wirst du mein Bruder.“

„Aber ich bin doch schon dein Bruder!“

Beleidigt schob Merdin die Unterlippe vor. Er schnaubte und murmelte noch mehr vor sich hin, doch das ging im allgemeinen Gekicher der Männer unter. Was auch immer er von ihr zwickte und zwackte und kniff und quetschte - Viviane genoss seinen Ärger, bis sich jemand lautstark räusperte.

„Nun, Vivian, ich hätte gerne mehr von deinem Vorschlag gehört“, sagte Akanthus und schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Wie ich dich kenne, hast du alles längst ausgeklügelt. Aber jedwede List – auch eine von weiblicher Raffinesse - bedarf präziser Vorarbeit, wenn sie gelingen soll. Ich sorge mich zwar nicht derart tatkräftig wie Merdin, dennoch: Es könnte hilfreich sein, den einen oder anderen Boten auszusenden.“

Viviane wurde es heiß vor Scham und ihr Gesicht begann zu glühen. Sie war dermaßen eingenommen von sich und ihrer ach so perfekten Idee, dass sie das Pferd von hinten aufgezäumt hatte. Mit einem schmachtenden Augenaufschlag eroberte man noch lange kein Sklavenschiff, dazu brauchte es mehr. Zum Glück kannte sie einen Mann, der weitreichende Kontakte hatte.

„Du hast recht, mein Meister“, sagte sie daher und holte tief Luft. „Wäre es möglich, Schiffspassagen zu bekommen? Für Merdin und mich und unsere Pferde?“

„Du willst offiziell auf dieses Schiff?! Du und Merdin, ganz allein?“

„Und die Pferde.“ Viviane zuckte die Schultern. „Wenn man heimlich etwas tun will und noch dazu am helllichten Tag, dann am besten so, dass es für alle gut sichtbar ist.“

Akanthus starrte sie an und überlegte, endlich nickte er.

„Mit Gold kann man bei den Römern alles kaufen. Eure Schiffspassagen sind so gut wie sicher. Was noch?“

„Wir bräuchten verlässliche Helfer, die uns Wasserfässer bereitstellen. Dazu Stroh und Heu, das man zu großen Ballen binden kann.“

„Das hört sich ganz nach meinem Geschmack an.“ Akanthus schnalzte vergnügt mit der Zunge. „Vielleicht noch ein Fässchen Wein gefällig?“

„Wein?“ Viviane starrte ihren Meister an, als hätte er sich vor ihren Augen in einen roten Drachen verwandelt. „Ja, warum nicht?! Ein Fässchen Wein wäre wirklich hilfreich. Mit der richtigen Droge versetzt, würde er sogar noch schön müde machen. Eine hervorragende Idee, mein Meister, wirklich raffiniert!“

„Sehr gut!“ Akanthus rieb sich vergnügt die Hände und auf seinen Wink rückten alle näher zusammen.

Geraume Zeit später fragte sich Merdin, warum er sich immer noch sorgte. Sämtliche Probleme, auf die er hingewiesen hatte, waren behoben worden. Akanthus erklärte sogar, Vivianes List sei ‚leicht durchführbar‘. Ja, er fragte sich tatsächlich, warum er nicht selbst darauf gekommen war, und sprühte geradezu vor Tatendrang. Dennoch, trotz all der Zuversicht konnte sich Merdin einfach nicht entspannen. Viviane fand, das käme ihr gerade recht, um ihr Versprechen einzulösen.

Systematisch knetete sie ihm jeden einzelnen Zeh durch und arbeitete sich mit viel Gefühl über die Fußsohlen und Knöchel aufwärts. Spätestens bei den Oberschenkeln hatte Merdin seine Sorgen vergessen. Er hatte vergessen, wo er gerade war. Ja, er hatte selbst vergessen, wie er hieß. Ihm war alles egal, Hauptsache, Viviane machte weiter. Pünktlich zum Sonnenaufgang erwachten die restlichen Drachenkrieger und trotteten in den Wald zum Baden. Viviane zog Merdin die Ohren lang, erklärte ihre Massage für beendet und schickte ihn hinterher.

Nachdem Uathach Merdin – hilfsbereit, wie sie war – in den See gestoßen und das kalte Wasser ihm Klarheit verschafft hatte, wusste er sofort wieder alles – wo er war und vor allem, wer.

Als Erstes ging Merdin zu seinem Vater und redete mit ihm über Vergangenheit und Zukunft. Danach schaufelte er jede Menge Gerstenbrei in sich hinein, um Kraft für seine Mission zu bekommen. Vielleicht auch, um diese hinauszuzögern, denn bald, viel zu bald, würde er ohne Viviane sein. Das war schier entsetzlich. Selbstverständlich musste sie ins Land der Hermunduren zurückkehren, musste kämpfen für die Freiheit ihrer Heimat. Aber was war mit seinen Träumen? Genauer: Was war mit seinem Traum von letzter Nacht? Er hatte sich Seite an Seite mit ihr gesehen und zwischen ihnen war ein Kind.

Ihrer beider Sohn, mit blauen Augen und weich fließendem Mahagonihaar. Er war wunderschön. Viviane wusste es vielleicht noch nicht, aber er, Merdin, war überzeugt: Sie hatte empfangen, vorletzte Nacht, bei ihrer Initiation. Und dennoch: Träumen allein reichte nicht. Mit Sicherheit konnte er es nicht sagen. Das konnte nur die Zeit. Ein, zwei Monde, zur Sicherheit drei. Und bis dahin war sie weg. Er würde es nicht einmal mitbekommen, ob sein Traum nun wahr wurde oder nicht. Sein Vater hatte sofort verstanden, in welchem Dilemma er sich befand, und Abhilfe versprochen. Mit seinen weitreichenden Kontakten würde er sie im Blick behalten. Und er hatte ein Geschenk vorgeschlagen, eine Wiedergutmachung, um genau zu sein, denn eines war jetzt schon sicher: Sobald Viviane es wusste, würde sie zornig sein. Niemand, niemand entschied über ihren Leib, außer sie selbst.

Merdin seufzte schwer.

Alles Denken, alles Hinauszögern war umsonst. Ihre Wege würden sich trennen, unvermeidlich. Das Einzige, was er tun konnte, war, ihr seine Liebe zu gestehen. Doch für etwas dermaßen Wichtiges brauchte es einen anderen Ort und eine andere Zeit. Darum sollte er sich endlich aufraffen und von seinem Vater und den anderen Drachenkriegern Abschied nehmen. Allein das war schon schwer genug, denn auch sie würden nicht untätig bleiben, während er seine erste Mission bewältigte. Akanthus hatte recht, wenn er Wert auf die Verabschiedung legte; wenigstens wurde es in der allgemeinen Aufbruchstimmung nicht so schlimm wie befürchtet. Viel schwieriger war es, Uathach von Viviane loszubekommen, sie klebte an ihr wie Harz am Baum.

Beim Anblick ihrer innigen Umarmung fühlte Merdin prompt Neid in sich aufsteigen, mächtig viel Neid. Ihn hatte Viviane noch nie so intensiv gedrückt und getätschelt und geküsst. Geküsst! Drei Mal geküsst! Auf die Wangen und auf den Mund! Und jetzt wollte Uathach noch mal, weil irgendwas verrutscht war! Viviane lachte und gab ihr drei, sechs, neun Küsse extra! Das war zu viel! Merdin platzte fast vor Neid.

Doch die Missgunst verflog recht schnell und machte einer mächtigen Genugtuung Platz: Er war auserwählt worden. Er durfte mit Viviane auf Mission. Und solche Gemeinsamkeiten schmiedeten bekanntlich ein starkes Band.

Uathach hatte einen anderen Auftrag bekommen, der sie leider in die entgegengesetzte Richtung führte. Und so blieb den beiden nichts weiter übrig, als sich viel Glück und eine gute Reise zu wünschen und sich ewige Freundschaft zu schwören. Danach fielen Uathach allerdings noch ein paar wichtige Ratschläge im Umgang mit Schwertern, Speeren, Äxten, Wurfmessern, Blasrohren, Pfeil und Bogen und Römern ein; und sie wollte hören, wie oft Viviane ihre Schwertklingen einzuölen gedachte.

„Weißt du auch noch, wie du die besten Pfeile für deine Blasrohre zurechtschneidest?“

„Ich komme doch wieder“, lachte Viviane und drückte Uathach zum siebten oder siebzehnten Mal ganz fest an sich. Energisch schob sie ihre Freundin schließlich von sich und rannte über die Lichtung zu ihrer kleinen weißen Stute, denn ihre Weggefährten warteten bereits und winkten ungeduldig.

Endlich konnte Merdin auf Arions Rücken steigen und „die Konkurrenz sind wir los“ in sein Ohr knurren.

Wie sehr er sich verrechnet hatte, zeigte sich abends, als sie das erste Mal Rast machten und zwölf Drachenkrieger mit Viviane Wasser holen wollten. Sie alle, einschließlich Merdin, erfanden die tollsten Geschichten von riesigen Bären bis hin zu bärtigen Riesen, die angeblich die Gegend unsicher machten. Sogar bösartige Elfen und Feen sollte es hier geben, winzig zwar, doch absolut gruselig – schließlich hatten sie die Hochebene verlassen, auf der die Drachen hausten, und die Geschöpfe in diesem Tal waren viel gefährlicher als alle Drachenkrieger zusammen.

„Nun macht mal halblang“, gluckste Viviane. „Die Quelle ist bloß zehn Dutzend Schritt von hier entfernt und ich bin keine Jungfer in Nöten. Wer sollte mich angreifen oder gar fressen wollen?“ Demonstrativ schwang sie den Kessel und die Krieger, die ihr gegenüberstanden, rissen die Augen auf; nicht vor Angst, sondern weil sie Arbeit verteilte. „Ihr vier, Gegend absichern nach Norden und Osten. Ihr vier, nach Süden und Westen. Ihr vier, Zelte aufbauen und Feuerholz suchen. Aber Vorsicht, ihr alle, hinter jedem Grashalm könnte eine Fee lauern, wenn nicht sogar ich.“ Viviane schmunzelte und ging kopfschüttelnd ihrer Wege.

Ob sie nun gerade in diesem Seitental rasteten oder den Pfaden gen Osten folgten - sie spähten zwar die Gegend aus, aber sie brauchten sich nicht sorgen. Silurer und Ordovicer waren die Herrscher dieser Lande, wenn die Römer auch ihre Krallen danach ausstreckten. Gut, sie hatten ihre Krallen schon ins Tiefland geschlagen und beiden Stämmen Verluste beigebracht, doch deren Gebiete waren riesig und Silurer wie Ordovicer behielten die Oberhand. Ihre Berge waren das Bollwerk, das jeder Wolfskralle standhalten würde.

Wie geplant erreichten sie am nächsten Tag Zoaks Dorf. Umgeben von mächtigen Buchen und Teppichen aus herrlich blauen Hasenglöckchen, hatte es tatsächlich etwas Mystisches an sich, zumal zwei riesige Bären am Tor standen – zum Glück nur aus Holz. Zoaks Mutter jauchzte glückselig, als er sie im Kreis herumwirbelte, und sobald sie wieder auf ihren Füßen stand, begrüßte sie die restlichen Drachenkrieger mit kräftigem Handschlag.

In Windeseile versammelten sich Zoaks Großeltern, Vater, Brüder, Schwägerinnen, Nichten und Neffen auf dem Dorfplatz, hießen alle Drachen willkommen und geleiteten sie freudestrahlend ins Schwitzbad; danach ging es zum Fluss.

Durch heißen Dampf, Wasser und Seife bekamen die Drachen neue Frisuren; der blauen Hautbemalung wurde mit Butter zu Leibe gerückt; es war von Kopf bis Fuß eine einzige Schmiererei und Dorfbewohner wie Drachenkrieger hatten mächtig viel Spaß.

Auch Viviane und Merdin standen im Wasser, aber sie planschten nicht herum, sondern schauten wehmütig den blauen Schlieren nach, die flussabwärts trieben.

„Kommt mir vor, als hätte ich gerade ein Stück von mir selbst verloren“, murmelte Merdin und wandte sich zum Ufer.

„Was sein muss, muss sein“, sagte Viviane mehr zu sich selbst und fuhr sich durch ihre nassen Haare, die ihr nun lang bis auf die Hüften fielen, ohne Zöpfe. Sie seufzte schwer und wusch sich noch einmal das Gesicht, dann folgte sie Merdin aus dem Wasser.

Zum Abendbrot hatte sie dunkelbraune Haare, genau wie alle anderen Drachen auch.

Merdin musste grinsen, als Viviane ihn mit offenem Mund anstarrte. Aber sie konnte gar nicht anders, es war einfach zu verblüffend: Mit seiner neuen Haarfarbe sah er aus wie ihr Ziehbruder Silvanus daheim. Sogar Merdins verschmitztes Lächeln erinnerte Viviane an ihn. Nur die Augen waren nicht dunkelbraun, sondern immer noch unverkennbar himmelblau.

Viviane war die Ähnlichkeit gleich bei ihrer ersten Begegnung mit Merdin aufgefallen, zumal sie damals, bei Dunkelheit, gedacht hatte, seine Haare wären braun statt rot. Doch jetzt, mit seinen dunkelbraun gefärbten Haaren glichen sich die beiden auf frappierende Weise. Natürlich wusste sie, dass man überall Leute treffen konnte, die einem ähnlich sahen.

Viviane zuckte die Schultern. Ihr war das bislang noch nicht passiert, und sie maß dieser Beobachtung nicht viel Bedeutung bei. Bevor sie sich weiter wunderte, suchte sie lieber die großen Tische danach ab, was es Schönes zu essen gab. Ah, Kräuterquark und frisches Brot.

 

Merdin seufzte. Vivianes moosgrüne Augen schauten nicht mehr auf ihn und strahlten trotzdem noch bewundernd; nein, sie flackerten regelrecht gierig von einer Schüssel zur nächsten. Er musste schleunigst zusehen, genug von dem leckeren Quark abzubekommen.

Viviane aß und aß. Selbstverständlich ließ sie genug für ihre Drachenbrüder übrig, und sie ließ sich auch Zeit zum Genießen; nach dem Festessen und den vielen Fleischresten war ihr die einfache Kost mehr als willkommen. Bald waren alle Krieger so satt und müde, dass sie nur noch schlafen wollten.

Nach dem obligatorischen Zähnepolieren wurden sie zu ihren Schlafplätzen geführt, die Männer auf den Dachboden des Langhauses, Viviane in eines der Grubenhäuser.

Zoaks Mutter, Scilla hieß sie, schob die Tür auf und entschuldigte sich wortreich, weil in dem Grubenhaus sonst nur Flachs gelagert wurde und das Bett recht schmal war. Aber dafür war es von ihr höchstpersönlich mit Stroh und feinen Bettkräutern ausstaffiert worden. Viviane fand es großartig, ein eigenes Zimmer zu haben, von den riesigen Bündeln Flachs mal abgesehen, und versicherte Scilla, das Stroh dufte herrlich, genau wie bei ihrer Mutter daheim.

Das brachte ihre Gastgeberin auf einen Gedanken und sie erzählte, wie gern sie zu ihren fünf Söhnen auch ein Töchterchen gehabt hätte, eines wie Viviane. Fürsorglich wickelte sie ihre neue Ersatztochter in eine flauschige Wolldecke und betrachtete sie mit großem Wohlwollen. Viviane wünschte Scilla eine gute Nacht und schlief fast augenblicklich ein, als wäre sie ein sattes, zufriedenes und sehr müdes kleines Mädchen.

Das war es also, was Akanthus mit ‚bestens vorbereitet‘ meinte.

Am nächsten Morgen, bei Haferbrei mit feinstem Honig, erzählte Viviane von ihrem Traum, bei dem fünf Mädchen im Grubenhaus Verstecken gespielt hatten, und brachte Scilla damit zum Strahlen. Sie hätte Viviane gern ein wenig länger dabehalten, aber die Drachen hatten keine Zeit zum Verweilen. Bald verabschiedeten sie sich von ihren Gastgebern und diese wurden es nicht müde, Scillas Sohn und seinen Begleitern nachzuwinken, bis sie außer Sicht gerieten.

Nun führte Kassus die Truppe an und am Abend kehrten sie in dessen Dorf ein. Nach freundlicher Begrüßung und entspannendem Schwitzbad gab es eine sämige Suppe mit roter Beete zu essen. Viviane unterhielt sich mit Kassus’ Mutter, bei der sie übernachten durfte, und konnte nur an eine kuschelige Decke denken.

Diesmal träumte sie von fünf kleinen Jungen, die auf riesigen Holzlöffeln ritten; mit viel Spaß ging es über Tische und Bänke, die Holzlöffel-Pferde schlürften Suppe und rupften Stroh aus den Betten.

Am nächsten Morgen erzählte sie auch dieser Mutter von ihrem Traum, obwohl ihr das wegen der Ähnlichkeit zum Vortag mehr als seltsam vorkam. Fast hätte Viviane irgendeine Droge in der Suppe oder im Brot vermutet, aber das wäre ihr aufgefallen. Als sie erneut Haferbrei mit bestem Honig vorgesetzt bekam und in zwei strahlende Augen blickte, nahm sie sich vor, gar nichts mehr zu vermuten.

Dieser Vorsatz hielt exakt bis zum Betreten des Langhauses an. Statt ihrer Drachenbrüder standen dort zwölf römische Legionäre in voller Kriegsmontur und grinsten hämisch. Hinter ihnen lagen viele männliche Dorfbewohner auf dem Boden oder hingen über Tischen und Bänken.

Viviane riss die Augen auf und zugleich ihre beiden Schwerter aus den Scheiden. Mit geübtem Blick machte sie die zwei stärksten Gegner aus und sprang auf sie zu.

Kreischend duckten sich die Legionäre hinter ihre Rundschilde und stolperten rückwärts, wobei der größte von ihnen noch brüllte: „Vivian! Wir sind’s! Mach die Augen auf!“ Er packte einen der Dorfbewohner am Hemd und zerrte ihn vom Stuhl hoch.

Viviane verharrte mitten im Schritt, dann setzte sie langsam, sehr langsam den Fuß auf. Sie wusste, warum der Schreihals ihren Namen kannte und ihn für Römer untypisch aussprach. Sie wusste sogar, wie es sich anfühlte, den starken Griff auszuhalten, den der Dorfbewohner gerade ertragen musste. Zur Entlastung tänzelte der Ärmste auf den Zehenspitzen und hob lächelnd die Hände.

„Merdin, ich warne dich. Mach das nie wieder mit mir. Wehe.“

Kopfschüttelnd schob Viviane ihre Schwerter zurück in die Scheiden und stemmte die Hände in die Hüften.

„Das gilt gleichermaßen für euch alle. Und wenn ich alle sage, dann meine ich alle!“

Sie stampfte so wild mit dem rechten Fuß auf, dass die Bodenbretter bebten, und riss ihren Zeigefinger hoch. Jeden einzelnen im Raum durchbohrte sie mit stechendem Blick, obwohl sich niemand traute, aufzusehen – weder vermeintliche Söldner noch Tote, die sich nun so leise wie möglich aufrappelten.

„Bei Hall, seid ihr irre?! Wessen Mut wolltet ihr testen? Meinen oder euren? Ihr Idioten, ihr Schwachköpfe, ihr waghalsigen Trottel, ihr dummen Schafe, was habt ihr im Kopf? Wolle? Zum Donnerwetter! Donars Hammer soll euch treffen! Wenn’s nach mir geht, auf den Kopf, wenn ihr das noch einmal macht!“

„Nein, nein, sei nicht so garstig!“ „Das hast du völlig falsch verstanden!“ Mit erhobenen Händen kamen Dorfbewohner und Drachenkrieger hinter Tischen und Bänken hervor.

„Sei doch wieder lieb mit uns.“ „Unsere Kostüme – wir wollten nur mal sehen, ob sie täuschend echt wirken.“ „Und da dachten wir …“ „Wir wollten dich bloß ein bisschen foppen.“ „Ein Jux.“ „Nur ein kleiner Spaß.“ „Wir haben gewettet, wie du reagierst.“

„Und wie lange du brauchst, zu erkennen …“ „Aber wir konnten doch nicht ahnen …“

Unauffällig schoben sie sich zu einem dichten Pulk zusammen. Da weder beschwichtigende Reden noch abwiegelnde Gesten Wirkung zeigten und Vivianes Augen zornig weiter blitzten, verschanzten sich alle hinter den Schilden und ließen traurig die Köpfe hängen.

Wie eine Herde Schafe im Regen. Viviane grinste breit, was leider keiner sah. Alle Schäfchen duckten sich vor Blitz und Donner.

„So, so, ein Jux und ich ganz flux die ganzen Römer weggeputzt!“ Viviane musste sich die Hand vor den Mund halten, um nicht laut zu lachen. Die ‚Römer‘ hatten ihrer Meinung nach bestens reagiert, sehr schnell und sehr echt. Sich allein zu amüsieren, machte allerdings keinen Spaß. Daher hüpfte sie mit einem winzigen Sprung vorwärts und grollte aus tiefster Kehle. Hastig rückten die Schafe noch enger zusammen; sie hatten keinen Hütehund und Vivianes Grollen völlig missverstanden.

„Keine Bange. Ich bin gleich wieder sanftmütig, aber vorher …“

Wolfsmäßig schlich Viviane vor dem Pulk auf und ab und grinste jedem ins Gesicht, der sich nicht tief genug duckte.

„Wer hat sich den Reflextest ausgedacht?“, knurrte sie. „Nein, nicht vorsagen! Lasst mich raten …“ Langsam, sehr langsam ging sie noch einmal an allen vorbei, dann blieb sie vor Merdin stehen und klopfte ihm leicht gegen seinen römischen Legionärshelm.

„Der hier käme in Betracht.“

Sie fuhr mit einer Hand über den Helmbusch aus rot gefärbtem Pferdehaar und kicherte: „Sehr hübsch und so dicht, damit könnte man prima den Boden fegen. Warum wird der Helmbusch, diese sogenannte Crista, noch mal quer getragen? Weil die Zenturionen dann besser in der Spur laufen? Nein, lass gut sein, Merdin, das war rein rhetorisch gemeint, jetzt kommen erst die Fragen, auf die ich Antworten will.“ Unvermittelt fing Viviane laut an zu grollen: „Erste Frage: Wie habt ihr eure langen Haare da drunter verstecken können? Zweite Frage: Wo habt ihr die vielen römischen Kriegsmonturen her?

Dritte Frage: Wie standen die Wetten, dass ich so reagieren würde? Antworte rasch, sonst …“ Mit der Zunge schnalzend hob sie Merdins Waffenrock und suchte die beste Stelle zum Zubeißen.