Die weise Schlange

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Die anderen Drachenkrieger hatten blankgezogen, senkten nun ebenfalls Schwerter und Häupter.

Gemeinsam gedachten sie der Freunde, die sie in vergangenen Zeiten verloren hatten, und baten Hall um Beistand bei neuen Gefahren. Vielleicht stellte sich manch einer auch vor, wie er ruhmreich in die Anderswelt einzog und die toten Gefährten wiedersah; wie er mit ihnen feierte und durch die Lande ritt auf weißen Pferden. Wer wusste schon, was es in der wundersamen Welt nach dem Leben alles zu entdecken galt, und wer wusste schon, wann es einen dorthin verschlagen würde. Nur eines war sicher: Hall war gerecht.

Als das Schweigen drückend wurde, ließen Viviane und Merdin ihre neuen Schwerter wieder in die Scheiden gleiten, ihre Drachenbrüder und -schwestern taten es ihnen nach, und dieses vielfach leise Sirren schien wie ein Weckruf.

„Ein dreifaches Hoch auf unsere Initianten!“ Akanthus riss die Faust in Siegerpose nach oben und drehte sich einmal um die eigene Achse.

„Hoch! Hoch! Hoch!“, schallte es aus dem großen Kreis mit solcher Wucht zurück, dass es Viviane und Merdin fast schwindelig wurde. Fest packten sie sich an den Händen und wollten schon loslaufen, um sich bei jedem Einzelnen zu bedanken, doch das konnten sie getrost bleiben lassen.

Ehe sie sich versahen, waren sie von einer johlenden Meute umzingelt – sie sahen nur noch Weiß und Blau.

Rabiat wurden sie umhergezerrt, geschoben, gedrückt, geküsst, getätschelt, gekniffen … ganz zu schweigen von dem Jauchzen und Brüllen in ihre Ohren und den Haarmähnen rundum, die kitzelten und stachen und ihnen die Sicht nahmen. Doch sie lachten und schwankten und schwankten und lachten, als gelte es einen Wettstreit im ‚Freuen‘ zu gewinnen.

In Windeseile war ein Fest im Gange, das diesem Freudentaumel in nichts nachstand. Es gab massenweise Hirschbraten, Kräuterbutter, frisches Brot, deftige Zwiebeln, saures Kraut, dicke Bohnen, zarte Sprossen, Met, Korma …

Letzteres schmeckte Viviane zu ihrer eigenen Verwunderung besonders gut und sie überlegte, ob die Gerste hierzulande milder vergoren wurde. Bei ihr zu Hause wäre sie nie und nimmer in die Nähe eines Fasses Korma gegangen, so rauchig-bitter roch das Gebräu schon zehn Schritt gegen den Wind. Hier aber leckte sie sich den Schaum von den Lippen und setzte beschwingt zum dritten Horn an. Es wurde ihr vor der Nase weggeschnappt.

„Meins!“ Viviane klammerte sich an dem Horn fest und hätte wohl zu einem Fußtritt ausgeholt, wenn nicht ein breit grinsender Merdin an dem Horn gehangen hätte. Angriffslustig starrte sie ihm in die Augen. Er hatte mindestens drei davon.

„Du guckst schief, Vivian.“

„Schwachsinn! Ich sehe perfekt aus! Gib mein Horn frei oder ich drück dich, bis dir die Luft wegbleibt!“

„Ooooh, du willst mich quetschen? Welch ein Angebot! Ich werde dich dran erinnern, aber nun haben wir erst mal unseren Einstand.“

„Einstand?“ Viviane schwankte von einem Bein aufs andere und visierte Merdins mittleres Auge an. „Ach, dieser Einstand! Unser Kampfspektakel! Beim Geweih von Cernunnos, und ich bin betrunken!“ Beinahe hätte sie ihr Horn losgelassen, um sich den Kopf zu halten. Sie hatte doch tatsächlich vergessen, dass sie beide für die Unterhaltung zuständig waren. „Wo ist denn Uathach abgeblieben? Sie soll uns doch die Pferde zuführen?!“ Suchend blickte sie sich nach ihrer Freundin um.

Zuerst zweifelte Viviane an ihrem Sehvermögen, aber daran lag es diesmal nicht. Sie konnte sich noch so sehr beugen, strecken, um die Achse drehen und die Augen zusammenkneifen – Uathach war nirgends zu finden, weder in einfacher noch doppelter Ausführung. Es standen einfach zu viele Krieger im Weg, allesamt mit Essen, Trinken und Gestikulieren beschäftigt. Ja, sie redeten dermaßen überschwänglich aufeinander ein, als würden sie nur einmal im Jahr die Gelegenheit dazu bekommen, bis irgendjemand „Jetzt beginnt das Spektakel!“ johlte. Das wirkte wie ein Aufruf zur Flucht.

Die einen sprangen nach rechts, die anderen nach links, schon war die Lichtung wie leer gefegt; alle standen am Rand und drückten einen Brocken Fleisch und ein Horn voll Met an sich, oder was sie sonst in Händen hielten. Nur Viviane und Merdin verharrten wie festgewachsen mitten auf der Lichtung und klammerten sich an das Horn mit Korma, wobei Viviane immer noch um sich blickte. Diesmal wusste sie wenigstens, in welche Richtung sie sich drehen musste, und so fiel ihr die Kinnlade herunter, als Uathach endlich aus dem Wald und in Sicht kam.

„Ja, da staunst du“, gluckste Merdin. „Deine Freundin übertreibt es mal wieder mit dem großen Spektakel.“

„Sie sollte uns doch bloß die Pferde bringen! Beim Geweih von Cernunnos, was soll das werden?!“

Uathach preschte zwischen den letzten Bäumen hindurch auf die Lichtung, als gelte es, sich selbst zu überholen. Breitbeinig stand sie auf einem Streitwagen, die Zügel locker in einer Hand, und sah einfach zum Fürchten aus mit ihrer Kriegsmontur aus Helm, Kettenhemd, Schild, Steinschleuder, zwei Schwertern, fünf Messern, einer Axt und fünf verschieden langen Blasrohren. Dazu befanden sich in der Wagenhalterung noch jede Menge Speere. Dina und Arion – gestriegelt und frisiert – fungierten als Zugpferde. Viviane bekam den Mund nicht mehr zu.

Obwohl Dina wesentlich kleiner war als Arion, gaben die beiden ein wunderschönes Paar ab, wie sie mit ausgreifenden Hufen über das Gras galoppierten, makellos weiß und die silbernen Mähnen zu vielen Zöpfen geflochten.

„Ich bin übrigens selbst überrascht“, versicherte Merdin. „Deine Dina und mein Arion hübsch zurechtgemacht am Führstrick – damit habe ich ja gerechnet, aber gewiss nicht so extravagant miteinander verbunden. Dazu noch dieses wilde Weib …“

„Sie wollte uns bestimmt mal überrumpeln.“

„Bloß nicht!“ Merdin packte Vivianes Arm und zerrte sie hinter den großen Silberkessel. Offenbar hatte er das mit dem Überrumpeln wörtlich genommen.

Trotz rasanter Fahrt über holprige Grasbüschel, voller Kriegsmontur und Zügeln im Griff schaffte es Uathach noch, fröhlich zu winken und zu johlen: „Ich fahr euch schon nicht gleich über den Haufen! Bring bloß die Pferde! Wie versprochen!“

„Plus Streitwagen!“, lachte Viviane und tat so, als hätte sie gar nichts anderes erwartet – was das ‚Über-den-Haufen-Fahren‘ anging, stimmte das auch. Im Zweifelsfalle wäre sie nämlich schon längst davongerannt. Sie würde sich garantiert nicht von einem Streitwagen über den Haufen fahren lassen, allein schon wegen der Klingen an den Rädern rechts und links. Sehr schnell rotierende, scharfe Klingen wohlgemerkt, die ein ganz spezielles Geräusch von sich gaben. Es war wie ein Wirbel aus Sirren, Rasseln, Klirren und Zischen. Man konnte es gar nicht richtig beschreiben, so eigentümlich hörte es sich an – ein absolut tödlicher Klang eben. Ganz zu schweigen von der riesigen Kriegerin obendrauf, die all ihre Waffen meisterlich beherrschte und acht donnernden Hufen die Richtung angab. Im Handumdrehen wäre man von ihr kleingehäckselt, niedergetrampelt, erstochen, erschlagen, zerschnitten, zerquetscht, zerhackt oder alles zusammen und könnte nicht mal mehr über einen raschen Tod nachdenken.

Aber hatten Viviane oder Merdin Angst? Nein, im Gegenteil. Staunend standen sie hinter dem großen Silberkessel und sahen zu, wie Uathach sich gegen das Weidengeflecht lehnte, um die Kurve besser zu kriegen. Sie konnten sich gar nicht daran sattsehen, wie gut ihre beiden Pferde miteinander harmonierten, sich gegenseitig im Blick behielten und auf den kleinsten Zug am Zügel reagierten. Kraftvoll preschten sie im Kreis um die Lichtung, vollführten noch eine geschmeidige Wende um den großen Kessel und galoppierten in einen neuen, entgegengesetzten Kreis, als hätten sie nie etwas anderes getan, als Streitwagen zu ziehen.

„Das haben die drei heimlich trainiert“, knurrte Merdin in Vivianes Ohr.

„Ja, das haben sie wohl“, gluckste diese und schmiegte sich an Merdins Wange, bis das Gespann exakt vor ihnen hielt und sie ihre Freude aufteilen musste. Ihre neckische Begrüßung: „Du bestes, irres Kriegerweib! Du hast mich vollkommen überrumpelt!“ ging in Johlen, Pfeifen und Klatschen unter.

Uathach grinste, als hätte sie dennoch jedes Wort verstanden, lehnte ihren Schild an das Weidengeflecht und sprang vom Wagen; sogleich fiel ihr Blick auf das Horn voll Korma, an dem sich bloß noch Merdin festhielt, und sie schnappte es ihm aus der Hand. Während sie frech grinsend trank, schirrte Merdin die Pferde ab und Viviane gesellte sich schnell zu ihm.

In kurzer Zeit standen Dina und Arion für ihre eigentliche Nutzung parat. Viviane und Merdin legten ihre neuen Schwertgürtel ab und bekamen von Uathach, die nun wieder die Hände frei hatte, zwei alte, speckige, bestückt mit hölzernen Schwertern, Äxten und Messern. Prompt machte ein erfreutes Raunen die Runde, das alle drei zum Feixen brachte.

Das Raunen wurde noch lauter, als Uathach Rundschilde und Speere verteilte. Natürlich hatten die Speere keine Spitzen und die Schilde waren aus dünnem Eschenholz, sie hatten weder Schildbuckel noch sonstige Extras – Eisenstachel zum Beispiel, wie Uathachs hoher Schild für den Nahkampf zu Fuß – sie wollten sich schließlich nicht gegenseitig umbringen.

Nein, sie wollten bloß ein bisschen spielen.

Jeder Neuzugang bei den Drachenkriegern demonstrierte am Ende der Initiation seine Fähigkeiten. Das war keine Pflicht, aber irgendwann hatten einige Initianten damit angefangen und nun gehörte es eben zur Abschlussfeier dazu. Jeder dachte sich etwas aus, was er besonders gut beherrschte, möglichst mit spektakulärem Unterhaltungseffekt.

Es hatte schon die interessantesten Vorführungen gegeben: Kampfkunst mit Feuer oder Eis, mit gefesselten Armen oder Beinen, mit verbundenen Augen oder verstopften Ohren, Kampfkunst mit Hypnose, Gesang oder Gift und natürlich Gegengift … Viviane und Merdin hatten sich für eine Reitervorführung entschieden. Das war vielleicht nicht allzu spannend, aber es würde lustig werden, dafür hatten sie gesorgt.

 

Vor sechs Jahren hätte Viviane wie ein Pferd gewiehert, wenn ihr jemand diese Idee vorgeschlagen hätte. Damals hatte sie das erste Mal auf dem Rücken ihrer kleinen Dina gesessen, doch sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, von dort aus zu kämpfen oder sich mitten im Galopp kopfüber hängen zu lassen, ohne Zaumzeug.

Heute konnte sie sich sogar unter Dinas Bauch durchhangeln oder im Rennen aufspringen, und das verdankte sie ihren zwei besten Freunden, Uathach und Merdin.

„Vivian ist betrunken“, erklärte Merdin und sah dabei Uathach so vorwurfsvoll an, als hätte sie Viviane höchstpersönlich mit Korma abgefüllt. „Wie soll sie da irgendwas treffen? Oder besser, wie soll sie da nichts treffen, wenn sie alles doppelt und dreifach sieht?! Ich meine, ich kann mich ja noch erwehren, da mach ich mir keine Sorgen, aber der Rest … sollen wir den Abstand verkürzen oder hast du eine bessere Idee? Abblasen können wir das Spektakel nicht.“

„Ach“, gluckste Uathach und tätschelte das leere Horn in ihrer Gürtelschlaufe. „Du solltest doch auf sie aufpassen? Wie kann sie da betrunken sein? Warst wohl anderweitig beschäftigt? Bist ins Fass gefallen? Schwimmen gegangen mit besten Freunden?“

„Gar nicht wahr, ich hab aufgepasst! Ich war nur ganz kurz …“

„So, so … ganz kurz.“ Kichernd schob Uathach ihren Zeigefinger gen Daumen und lugte durch einen immer kleiner werdenden Spalt.

Merdin verdrehte die Augen und brummte etwas Unverständliches.

Viviane schaute verständnislos von einem zum anderen und sagte sehr deutlich: „Ich bin überhaupt nicht betrunken. Höchstens ein klein wenig angeheitert, aber das vergeht mir gerade!“

„Also, irgendeine Idee?“, grummelte Merdin, als hätte er sie gar nicht gehört, und baute sich so groß wie möglich vor Uathach auf – es hatte nicht die erhoffte Wirkung, Uathach konnte ihm direkt in die Augen sehen.

Seelenruhig zog sie das leere Horn aus dem Gürtel, hielt es verkehrt herum über ihren Kopf, streckte die Zunge aus, damit eventuell noch vorhandene Tropfen den richtigen Weg fanden, und lallte nebenbei: „Keine Banig, mein Besder, hab ja Augn im Kob un seh, wenn mei allerliebsde Vivian mi schiew angugd.“ Grinsend steckte sie das Horn zurück in den Gürtel. „Und ich kann zaubern. Hab ja wesentlich mehr Erfahrung mit Abschlussfeiern als du, oh Ideenloser.“

Mit großer Geste präsentierte sie ein winziges Fläschchen aus Tannenholz und zog den Korken heraus.

Merdin sprang sofort rückwärts, aber Viviane hielt neugierig die Nase darüber. Prompt jaulte sie los und hastete mit wild fuchtelnden Armen hinter Merdin. Alle Krieger rundum brachen in schallendes Gelächter aus.

„Ja, das beißt“, lachte Uathach und machte sich einen Spaß daraus, hinter Viviane herzulaufen und: „Ich beiß dich, ich beiß dich!“ zu rufen. So schaffte die eine johlend, die andere jaulend immerhin drei Runden um Merdin, bis dieser das Fläschchen erwischte und den Korken gleich hinterher.

„Ich hab die Nase voll“, schnaubte er, drückte den Korken auf die Flasche und zeigte in die Runde. „Die lachen alle schon. Denken wohl, das gehört mit zum Spektakel.“

„Passt doch“, fauchte Uathach und zeigte auf das Fläschchen. „Unsere Vivian ist wieder nüchtern, das ist ein Grund zur Freude. Und nun auf in den Kampf.“

„Hm“, brummte Merdin und verstaute das Fläschchen im Weidengeflecht des Streitwagens, wo es seiner Meinung nach auch hergekommen war. Dann baute er sich demonstrativ noch einmal vor Uathach auf, funkelte sie herausfordernd an und nickte knapp.

Viviane schaute vom einen zum anderen, denn sie verstand diesen angriffslustigen, fast beleidigten Blick von Merdin nicht. Sie entschied sich, dem keine Beachtung zu schenken, und eine warme Woge aus Dankbarkeit und Zuneigung wallte in ihr auf. Kurzerhand zog sie Uathach fest in die Arme, bevor sie sich auf Dina schwang. Merdin saß schon auf seinem großen Hengst Arion und gab den Kriegern Handzeichen, um die Bahn freizumachen. Daher konnte sie ihm nur das Knie tätscheln, was er jedoch nicht einmal bemerkte, so beschäftigt war er mit seinen Anweisungen. Also kniff Viviane ordentlich hinein und schon hatte sie seine vollkommene Aufmerksamkeit. Sie feixte, er lachte und wollte sie nun seinerseits ins Knie zwicken, doch dazu kam es nicht mehr.

„Zeigt, was ihr könnt“, knurrte Uathach und klatschte der kleinen weißen Stute schwungvoll aufs Hinterteil.

Im wilden Ritt preschte Dina über die Lichtung, immer weiter und schneller, bis sie im letzten Moment auf der Hinterhand wendete und stillstand. Die Krieger rechts und links der Bahn atmeten erleichtert auf – sie waren schon drauf und dran gewesen, noch ein Stück zur Seite zu springen, doch diese Blöße wollte sich keiner geben. So viel Temperament hatte niemand dem kleinen Pferdchen zugetraut; das erkannte Viviane am beifälligen Gemurmel rundum und heimste gerne das Lob dafür ein. Doch sie wandte nur kurz den Kopf nach rechts und links. Sie hatte jetzt Besseres zu tun, als sich in Bewunderung zu sonnen: Sie musste sich vollkommen auf die Gegenseite konzentrieren.

Merdin stand schon bereit und hielt seinen Speer hoch.

Fast gleichzeitig trieben sie ihre Pferde an. Merdin warf seinen Speer. Viviane klammerte sich an Dinas Mähne, riss ihren Schild hoch und kippte zur Seite weg. Der Speer schrammte kaum merklich über ihren Schild, Dina verfiel in gemächlichen Trab und Viviane hievte sich wieder auf ihren Rücken.

Ein lautes Seufzen ging rundum und eine der ältesten Kriegerinnen sprang vor, um den Speer aus der Wiese zu ziehen. Triumphierend schwang sie ihn über den aufgetürmten grauen Haaren, huschte flink an ihren Platz zurück und gab Viviane ein Zeichen: Die Bahn war wieder frei.

Viviane schmunzelte. Nun hob sie ihrerseits den Speer und Merdin wurde blass.

Spätestens jetzt war jedem klar, dass der Tag nicht langweilig werden würde.

Auch Merdin rettete sich mit einem raschen Abkippen vor dem Speer, doch kaum hatte er sich wieder aufgesetzt, drängte Viviane ihre Dina dicht an seine Beine und der Nahkampf hoch zu Ross begann.

Rasend schnell hieben und stachen sie aufeinander ein. Kurzschwerter, Äxte, Messer … eine Waffe nach der anderen schlugen sie sich aus den Händen, mal durch brutale Gewalt, mal durch List und Tücke. Jeder Würgegriff brachte ihre Zuschauer zum Stöhnen, und wenn Viviane in allzu arge Schräglage kam, kreischten manche sogar auf. Alsbald gingen sie mit bloßen Händen aufeinander los.

Prompt rissen sämtliche Zuschauer ihre Fäuste hoch, verpassten der Luft Hieb um Hieb und manch einer grölte noch Ratschläge, wie Viviane ihren hochtrabenden Gegner vom Pferd fegen könnte.

„Denk an zwölf Monde harte Arbeit“, knurrte Merdin durch die Zähne und grinste breit. Viviane hätte ihn am liebsten in die Wange gezwickt. Stattdessen täuschte sie mit rechts an und stach mit links nach seinen Augen, die jedoch rechtzeitig aus ihrer Reichweite gebracht wurden.

Sie hielt sich an die abgemachte Bewegungsfolge, die sie beide auswendig kannten. Schließlich hatten sie sich ein Jahr lang auf dieses Spektakel vorbereitet. Außer ihnen wusste nur Uathach, was für ein langwieriger Prozess das gewesen war. Gemeinsam hatten sie spektakuläre Bewegungsabläufe ausgeklügelt und sehr, sehr langsam eingeübt. Erst vor einem Mond hatte ihnen Uathach erlaubt, in diesem atemberaubenden Tempo zu agieren, das jetzt sämtliche Gemüter in Aufruhr versetzte.

Die Einzigen, die absolut stillstanden, waren Arion und Dina. Nicht mal ihre Ohren zuckten. Sie bewegten sich nur, wenn sie von ihren Reitern dazu aufgefordert wurden, wie nun von Viviane.

Ein leichter Schenkeldruck, ein wenig Gewichtsverlagerung und ihre kleine Stute reagierte wie ein echtes Schlachtross, indem sie eine winzige Seitwärtsbewegung machte. Viviane nutzte den geschaffenen Freiraum, um rasch an ihrer Seite hinunterzurutschen, unter ihrem und Arions Bauch durchzukriechen und Merdin vom Pferd zerren.

Dieser hatte nun nichts weiter zu tun, als schön erschrocken zu kreischen und die Hand über die Augen zu heben, als würde er nach Viviane Ausschau halten, obwohl sie längst auf seinem Bauch saß. Viviane hatte nichts weiter zu tun, als seinen Blick falsch zu deuten und sich hastig nach einem Angreifer aus dem Hinterhalt umzudrehen. Schon lag sie auf dem Rücken und die Krieger lachten. Ja, sie klatschten wie wild die Hände zusammen und brüllten: „Noch mehr! Noch mehr!“

Selbstverständlich ließen sich Viviane und Merdin nicht lange bitten.

Seite an Seite ritten sie über die Lichtung, glitten auf halber Strecke von den Pferden und rannten schnell wie der Wind nebenher. So gekonnt sprangen sie wieder auf Dina und Arion, dass es eine Freude war, ihnen zuzusehen. Die Beifallsbekundungen wollten gar nicht mehr aufhören, daher trieben sie das gleiche Spiel noch einmal in die Gegenrichtung. Eine dritte Strecke wurde nicht in Angriff genommen – Merdin hob schwer atmend die Hand und japste gut verständlich, er müsse sein Pferd schonen.

Alle Krieger lachten, doch keiner war bereit, das Ende des Spektakels zu akzeptieren. Sie klatschten und brüllten wieder im Takt: „Noch mehr! Noch mehr!“

Viviane kam das gerade recht. Sie hatte jetzt nichts weiter zu tun, als an einen großen, saftigen Apfel zu denken.

Mit hungrigem Blick wedelte sie Merdin Luft zu und ließ Dina so lange im Kreis um ihn herumtänzeln, bis er sich mit schiefem Grinsen die Lippen leckte. Die Krieger im Rund johlten anzügliche Bemerkungen, die Kriegerinnen quietschten vor Vergnügen und ein paar von ihnen giggelten laut: „Guckt euch mal den Arion an! Der tut genauso verliebt wie Merdin!“

Das brachte Viviane ein wenig aus dem Konzept, doch Dina tänzelte ohne ihr Zutun weiter und tatsächlich schaute ihr Arion fast genauso hinterher, wie es Merdin für sich selbst eingeübt hatte. Natürlich leckte sich Arion nicht die Lippen, aber seine witternde Haltung, sein Blick … warum war ihr das noch nie aufgefallen? Oder besser: Wann hatte dieser Schelm damit angefangen? Arion, wohlgemerkt – bei Merdin war es ja bloß gespielt.

Viviane beugte sich näher heran und hauchte Merdin einen Kuss auf die Wange. Dina rieb sich an Arions Hals, wie sie das jedes Mal beim Proben getan hatte. Plötzlich befürchtete Viviane, ihre Stute würde heute einfach stehen bleiben.

Doch weit gefehlt. Mit einem kessen Schweifwedeln schritt Dina über die Lichtung und ließ Arion samt Reiter in Schockstarre zurück.

„Du Trottel!“, „Hör auf zu sabbern!“, „Der ist voll im Tran!“, grölten die Krieger und fanden noch derbere Sprüche, die zum Glück in der allgemeinen Heiterkeit untergingen. Nicht, dass sich die beiden derartige Beschimpfungen zu Herzen nahmen.

Wie eingeübt blieben sie ruhig, bis Viviane auf halber Strecke wendete. Nun kam wieder Leben in beide. Merdin grinste besonders verträumt und streckte die Arme aus, als wollte er Viviane mit einem langen, dicken Tau einholen. Arion tänzelte auf der Stelle, als müsse er erst mal die Seile dafür verdrillen. Dabei machte er einen dermaßen langen Hals und witterte Dina nach, dass Viviane nur staunen konnte, wie artig er auf seiner Position ausharrte. Sein ganzes Gebaren sagte: ‚Vorpreschen! Viviane runterschubsen! Selber aufsteigen!‘ Es war einfach genial.

„Arion taugt wahrlich fürs Theater“, gluckste Uathach, mittlerweile ohne Helm und restlicher Kriegsmontur, die blonde Haarmähne wieder verzottelt. Geschäftig reichte sie Viviane das kleinste Blasrohr aus ihrer Sammlung hinauf. Dann präsentierte sie – wie aus dem Nichts – einen Federkiel, hinten buschig, vorne mit einer Spitze aus Silber versehen, und tauchte diese in ein winziges Tontöpfchen mit roter Farbe. „Pass auf, Vivian! Du musst zwei Fingerbreit höher zielen und eine Elle nach rechts. Bruder Wind hat aufgefrischt, findet das Spektakel wohl aus so lustig. Ich hab die ganze Zeit nichts anderes gemacht, als seine Stärke abzuschätzen und jeden Schuss zu kalkulieren.“

„Uathach, du bist genial! Danke, das mache ich, sollst ja stolz auf mich sein.“ Verschmitzt wedelte Viviane mit dem Blasrohr und streckte die Hand nach dem Federkiel aus.

Arion hörte sofort auf zu tänzeln und Merdin hob die Hand über die Augen; er schaute dermaßen verdutzt, dass jeder in der Runde dachte, nun käme etwas, das für die Reitervorführung nicht geplant gewesen war.

War es eigentlich auch nicht, doch Viviane hatte darauf bestanden. Sie hatte den Nahkampf hoch zu Ross verlieren müssen, etwas anderes wäre für Merdin unvorteilhaft gewesen. Deshalb wollte sie nun wenigstens eine Art Gleichstand erreichen. Selbstverständlich hatten sie auch dies geprobt und Merdin wusste genau, was er zu tun hatte.

 

Er lachte lauthals.

„Mit dem kurzen Elderstab hast du keine Chance auf die Entfernung!“

„Abwarten“, johlte Viviane zurück. „Das ist beste Qualität!“ Sie hielt das Blasrohr für alle gut sichtbar hoch und rief laut: „Absolut gerader Wuchs! Ich habe jeden Hollerbusch aus der Gegend inspiziert! Ein Prachtstück von Holunder, bearbeitet von einem Meister! Guckt nur alle hin!“

Ein Raunen machte die Runde und jeder Krieger schaute zu Akanthus, der sich grinsend verbeugte.

„Angst?“ Feixend setzte Viviane das Blasrohr an die Lippen. „Keine Bange, ich ziele nicht auf deine Beine!“

„Oh weh!“ Merdin versteckte sich hastig hinter seinem Schild.

Der Pfeil flog schnell und prallte mit einem sehr leisen Schlag auf das Holz.

„Ha! Ein Mückenstich! Eine Handbreit weiter weg und er wäre lasch abgesackt!“

„Ich nenne das ‚Berechnung‘“, trällerte Viviane und lenkte Dina langsam rückwärts.

Uathach tauschte währenddessen die Blasrohre aus und knurrte: „Prima Treffer. Für den nächsten drei Finger und anderthalb Ellen zugeben.“

„Mach ich.“ Viviane nickte voll konzentriert und Uathach tätschelte ihr beruhigend den Arm.

Merdin hingegen lachte höhnisch.

„Was treibst du da? Dein Elderstab mag größer sein, aber du gehst viel zu weit rückwärts! Treibt dich der Wind fort oder soll das noch mal so eine trudelnde Mücke werden wie eben?!“ Grinsend demonstrierte er mit seinem Zeigefinger, wie es einer Mücke im Sturm erging, riss jedoch hastig seinen Schild hoch, als Viviane das neue Blasrohr ansetzte.

Wieder stach der Pfeil kaum in das Holz und Merdin spottete lauthals, als Nächstes kämen verhungerte Mücken. Viele Krieger lachten und riefen, sie würden auch bald verhungern.

Viviane ließ sich davon nicht beirren.

Ruhig nahm sie das dritte und vierte Blasrohr von Uathach entgegen, schoss ihre Pfeile ab und lenkte Dina stückweise rückwärts. Beim fünften und längsten Blasrohr verschwand sie zwischen den Bäumen. Nur Merdin und Uathach konnten sie noch richtig sehen, alle anderen reckten die Hälse, um nichts zu verpassen – selbst Akanthus, der genau wusste, was Viviane damit bezwecken wollte.

Merdin spürte – wie fast jedes Mal bei ihren Proben – den deutlich stärkeren Einschlag in seinen Schild; diesmal johlte er anerkennend.

„Das war ein Hit! Endlich hat der Schuss im Holz gesessen, wie es sich schickt! Aber warum hast du nicht mal woandershin gezielt? Ich hätte die kleinen Stiche sowieso kaum gemerkt! Oder hast du Gift an den Pfeilen?!“

Bei dieser reichlich späten Vermutung wurde Merdin ganz hektisch. Bibbernd duckte er sich hinter seinen Schild, zog die Füße hoch, stieß sich das Kinn an den Knien … Rundum lachten alle über sein ängstliches Gebaren. Er klapperte sogar laut mit den Zähnen, doch er grinste dabei. Über solche Spötteleien konnte Viviane nur ausgiebig gähnen. Gelangweilt wedelte sie mit der Hand, Uathach solle sich um die Angelegenheit kümmern, sie sei näher dran.

Das ließ sich ihre Freundin nicht zweimal sagen. Gemütlich schlenderte sie zu Merdin, klopfte gegen seinen Schild und gurrte: „Du kannst vorkommen. Vivian will dich nicht vergiften. Sie will bloß ein kleines Zeichen setzen.“

„Ach, ein Zeichen sollte das werden!“ Merdin drehte seinen Schild um, sodass er die Außenseite sehen konnte, starrte übertrieben darauf und jauchzte unvermittelt.

„Sie hat ein Kreuz aufgezeichnet!“, rief er in die Runde und hielt seinen Schild hoch, damit es jeder sehen konnte. „Sie hat tatsächlich ein Kreuz fertiggebracht! Drachenbrüder! Drachenschwestern! Guckt euch das an! Guckt euch das an!“

Er ließ Arion langsam an den Kriegern vorbeigehen, präsentierte ihnen seinen Schild und deutete auf die roten Punkte, die Viviane mit ihren Pfeilen eingestochen hatte.

„Es ist tatsächlich ein Kreuz“, murmelten die Ersten, wobei sie verdutzt auf den Schild starrten. „Sie hat wahrhaftig ein rotes Kreuz aufgezeichnet!“

Eifrig drehten sie sich zu ihren Nachbarn um und zeigten mit den Fingern auf den Schild.

„Habt ihr das gesehen?! Ihr letzter Hit hat das Zentrum getroffen! Schaut hin! Der starke rote Punkt befindet sich mittig im Kreuz! Das ist ein kleines Sonnenrad, gar kein Zweifel!“

Schwer beeindruckt wandten sich die Krieger Viviane zu und musterten sie von Kopf bis Fuß, obwohl sie immer noch weit hinten im Wald auf Dina saß und gar nicht richtig zu sehen war. Viviane wurde zunehmend rot unter ihren blauen Hautmustern.

Sie ärgerte sich ein winziges bisschen. Genaugenommen war das Kreuz nicht klein; es maß mehr als zwei Handspannen von Punkt zu Punkt. Sie hätte besser getroffen, wenn sie absolut nüchtern gewesen wäre. Die Pfeile waren ihr doch ein wenig abgedriftet, aber dafür war der letzte so perfekt windschief im Zentrum gelandet, dass es am Ende wieder gerade aussah. Man musste nur den Kopf zur Seite neigen – schon konnte man Norden, Osten, Süden und Westen deutlich erkennen.

Zum Glück hatte sie die rote Farbe genommen, wie Uathach ihr geraten hatte. Schwarze Punkte wären nicht so gut sichtbar gewesen, man hätte sie gar als Maserung im Holz abtun können.

„Guckt sie euch an!“, tönte Merdin und streckte den Schild weit von sich. „Das Symbol der vier Himmelsrichtungen auf einen Schild geblasen! Ein Sonnenrad, auf diese Entfernung! Habt ihr je solche Treffer gesehen, derlei Kunstfertigkeit?!“

„Nein!“, jubelten alle Krieger im Chor. „Vivian ist die Beste mit dem Elderstab!“ Prompt fiel einigen auf, was sie da gerade verkündeten, und sie verpassten ihren Nachbarn unauffällige Rippenstöße. Allesamt brüllten sie hinterher: „Uuuuathach ist die Beste mit dem Elderstab! Sie ist die beste jüngste Lehrmeisterin und Vivian ihre beste jüngste Schülerin! Sie können wahrlich stolz aufeinander sein!“

Uathach drehte sich prustend um und zwinkerte Viviane zu.

Viviane freute sich, wie glücklich ihre Freundin nun die Faust in Siegerpose reckte, und zwinkerte lachend zurück. Ja, sie musste sich kichernd hinter ihren Händen verstecken und den Kopf schütteln. Wenn jemand vor fünf Jahren prophezeit hätte, dass sie eines Tages stolz aufeinander sein würden, wäre er wahrscheinlich mit zwei Ohrfeigen abgezogen, denn damals hatten sie sich überhaupt nicht leiden können.

Immer wollte Uathach recht haben, weil sie bereits ein Jahr Heilkunst absolviert hatte, bevor Viviane anfing. Immer wollte Uathach die Beste sein und Viviane hätte ihr das auch gegönnt, denn schließlich war Uathach eine Königstochter, eine gelehrige Schülerin der Medizin und eine faszinierende Kriegerin. Noch dazu äußerst klug, gut aussehend und üppig gebaut. Doch ständig hatte sie Viviane spüren lassen, dass sie selbst klein, mager und nicht von hoher Geburt war.

Deswegen waren sie öfter aneinandergeraten, und irgendwann hätten sie sich wohl ernsthaft geprügelt, wenn sie in Vivianes erstem Jahr nicht zufällig beide krank geworden wären. Es war eine seltsame Krankheit – genauer, eine Trägheit – die sie tagelang ans Bett fesselte. Alle anderen Mädchen vergnügten sich draußen im Sonnenschein, sie jedoch lagen artig nebeneinander – zum gegenseitigen Zähne-Einschlagen fehlte ihnen schlichtweg die Kraft. Was konnten sie tun, bis es ihnen besser ging?

Der Erste, der von ihrem lauten Gekicher angelockt wurde, war Akanthus, und er freute sich, dass seine Medizin nun offenkundig wirkte. Viviane hatte ihn bis heute im Verdacht, für Krankheit und Genesung selbst gesorgt zu haben. Doch wie überraschte ihn sein eigener Heilerfolg: Viviane und Uathach waren seit ihrer Zwangsstilllegung unzertrennlich. Niemals wieder ein böses Wort oder eine böse Tat. Wenn die eine etwas nicht konnte, brachte die andere es ihr bei.