Die weise Schlange

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

„Die anderen haben euch noch gar nicht bemerkt“, gluckste Flora und rieb sich zufrieden die Hände, in ihren Augen blitzte der Schalk. Energisch schob sie Loranthus und Hanibu über den Dorfplatz Richtung Handwerkshaus, Viviane und Lavinia folgten auf Zehenspitzen und mit der Hand auf dem Mund. Kaum standen sie alle davor, bedeutete Flora ihnen absolute Ruhe und dass ihre ausländischen Gäste durch das linke offene Fenster schauen sollten, während sie mit Viviane und Lavinia durch die Tür gehen wollte.

Prompt klatschten sich Viviane und Lavinia nun beide Hände auf ihre Münder, ihre Augen funkelten unternehmungslustig in Moosgrün und Dunkelbraun, und mit dem gleichen verschwörerischen Gesichtsausdruck traten sie auf die Tür zu. Loranthus und Hanibu grinsten sich an und steckten ihre Köpfe durch das Fenster.

Drinnen, nahe dem rechten Fenster, saß eine junge Frau mit grauen Augen und langen, rotblonden Zöpfen auf einem Schemel. Sie hatte einen mannshohen Holzklotz vor sich, den sie höchst konzentriert mit Eisenstab und Klüpfel bearbeitete. Mit winzigen Schlägen klopfte sie auf das lange Eisen und bei jedem Ping! Ping! Ping! schälte sich das Holz ein Stück weiter zu einer Locke, bis es abfiel.

Der Lärm, den sie veranstaltete, wurde nur noch von Rollgeräuschen und fröhlichem Pfeifen übertroffen, die von einer alten Frau ausgingen. Sie saß mitten im Raum auf einem hohen Holzsitz, schlenkerte mit ihren Beinen durch die Luft und bearbeitete mit flinken Fingern einen Klumpen Ton. Rasend schnell rotierte er auf der hölzernen Töpferscheibe und bekam zwischen ihren Händen zusehends Form. Welche das war, konnten Loranthus und Hanibu noch nicht sagen, aber allein der Vorgang war faszinierend anzuschauen.

Ab und zu griff die Großmutter neben sich, tauchte ihre Hände in eine Schale mit Wasser und brummte: „Hurtig, hurtig, keine Müdigkeit vorschützen.“ Schon pfiff sie wieder fröhlich vor sich hin und die Töpferscheibe drehte sich tatsächlich schneller.

Verdutzt warfen sich Loranthus und Hanibu einen Blick zu, dann streckten sie ihre Köpfe weiter durch das Fenster und hatten jetzt einen besseren Blickwinkel. Sie waren doch allzu neugierig, wie die Töpferscheibe angetrieben wurde, denn normalerweise geschah das nicht durch Worte – man brauchte dazu Füße, und zwar solche, die eine untere Drehscheibe in Schwung hielten. Die Füße der Großmutter baumelten jedoch weiterhin in der Luft und trotzdem rotierte die untere Scheibe; wie von Geisterhand übertrug sie ihren Schwung mittels Achse zur oberen Töpferscheibe.

Nachdem sich Loranthus und Hanibu fast die Hälse verknotet hatten, so dicht, wie sie nebeneinander im Fenster lehnten, fanden sie des Rätsels Lösung: Genau unter ihnen, direkt an der Wand, saß eine sehr junge Frau mit langen Zöpfen in einem dermaßen satten Goldton, als wären sie aus geflochtenem Stroh; sie hielt die untere Scheibe mit ihren nackten Füßen in Schwung. Eigentlich lag sie mehr gegen die Wand gelehnt, als dass sie saß, doch trotz der niedrigen Position schien sie es bequem zu haben; fast beiläufig goss sie Wasser nach, damit die Großmutter oben nicht ins Leere griff.

Loranthus und Hanibu staunten, wie gut die alte und die junge Frau zusammenarbeiteten, fragten sich allerdings, warum der Erbauer dieses mechanischen Meisterwerkes den Abstand zwischen oberer und unterer Töpferscheibe nicht einfach kleiner gemacht hatte, damit die Großmutter selbst so viel Schwung geben konnte, wie sie brauchte; zwei Fingerbreit hätten bereits genügt.

Ihre Überlegungen wurden abrupt beendet, als eine graue Taube laut gurrend vom Dach flatterte und Flora mit der Faust gegen die offene Tür hämmerte.

„Mara, Noeira, Taberia!“, brüllte sie gegen Ping, Ping, Ping, fröhliches Pfeifen, Rollgeräusche und Taubengurren an. „Schaut mal, wer endlich daheim ist!“

Die Frauen blickten auf und sofort herrschte Ruhe.

Die Großmutter rutschte so hastig von ihrem hohen Sitz, dass sie Schlagseite bekam und beinah samt Töpferscheibe umgekippt wäre. Doch da stand schon die junge Frau parat, packte sie unter den rudernden Armen, fing noch den Klumpen Ton auf, der fast ein Krug geworden wäre, warf ihre strohblonden Zöpfe zurück, klatschte den Tonklumpen wieder auf die Töpferscheibe, hakte die Großmutter besser unter und führte sie lächelnd auf Viviane zu.

Die rotblonde Frau hinter dem mannshohen Holzklotz winkte fröhlich und rief: „Ich steck hier fest, ich komm morgen vorbei, Viviane!“ Glucksend und schnaufend hievte sie sich von ihrem Schemel hoch. Zuerst kam ein dicker Bauch, schließlich der Rest von ihr hinter dem Holz hervor und sie lachte über Vivianes Gesicht, das ziemlich verdutzt zwischen den Armen der Großmutter herauslugte.

„Ach, mein Kind, mein Kind, jetzt kann ich endlich in Frieden sterben“, seufzte die alte Frau und strahlte Viviane aus tränenden, aber leuchtend blauen Augen an. „Ich wollte dich nur noch einmal in die Arme schließen.“

„Aber Großmutter Mara, das hast du schon beim letzten Mal gesagt, als ich von Mandragora wiedergekommen bin. Du musst dir langsam mal was Neues ausdenken, sonst wird es unglaubwürdig.“ Mit gespielt tadelndem Blick schüttelte Viviane den Kopf und kuschelte sich gleich wieder an den Hals ihrer Großmutter. „Ach, ich bin so froh, euch alle gesund und munter zu sehen. Ich kann es noch gar nicht richtig glauben, endlich bin ich wieder hier. Quetsch dich einfach dazwischen, Noeira, ich darf Großmutter Mara nicht loslassen, sonst stirbt sie!“

Feixend drückte Viviane die hochschwangere Frau mit einem Arm an sich und strich ihr danach über den runden Bauch.

„Noeira, Noeira, du hast mächtig zugelegt, ‚dick‘ ist untertrieben.“ Viviane tat, als müsse sie nachdenken. „Wir haben demnach genug zu essen. Lässt du den anderen auch was übrig?“

Noeira schüttelte ihre rotblonden Zöpfe, rollte mit ihren nebelgrauen Augen und antwortete im selben ironischen Ton: „Es wurde Zeit, dass du endlich heimkommst. Ich hatte schon Angst, ich hätte zur Niederkunft nichts zu lachen. Beim letzten Mal hast du mir fein die Zeit vertrieben, weißt du noch?“

Viviane prustete los und Noeira winkte die andere junge Frau heran. Schüchtern trat diese vor Viviane und wollte sich verbeugen, doch Viviane schnappte sie an einem Arm und richtete sie wieder auf.

„Nicht, Taberia! Solche Huldigungen habe ich mir noch gar nicht verdient und wenn, will ich das niemals von meiner Familie sehen. Du bist jetzt meine Schwägerin und wir gehören zusammen. Außerdem, denk immer daran, wie wir als Kinder im Matsch gespielt haben oder wie wir uns gegenseitig Blumenkränze geflochten haben.“

„Damals war ich noch klein und du hast trotzdem mit mir gespielt.“ Taberia bekam rote Wangen, wodurch ihr hübsches Gesicht, umrahmt von den strohblonden Zöpfen, noch jünger wirkte. Abrupt einsetzendes Babygeschrei ließ sie zusammenzucken und verlegen lächeln.

„Bin gleich wieder da!“

Großmutter Mara lachte schallend und entblößte dabei ihre guten Zähne, von denen sie noch fast alle besaß. „Die junge Maid hat ein kräftiges Organ. Vier Monde lang diesem Geschrei zuhören – da klingeln selbst mir die Ohren. Taberia bildet sich manchmal sogar ein, sie greinen zu hören, obwohl sie friedlich schläft.“

„Beim zweiten wird sie ruhiger“, winkte Noeira ab und tätschelte ihren Bauch, der bedrohlich hin- und herwackelte.

Unterdessen war Taberia mit ihrer Tochter zurückgekommen. Erwartungsvoll legte sie die Kleine in die Arme ihrer Tante.

Viviane hatte schon viele Babys gehalten, trotzdem wusste sie nicht so recht, was sie sagen sollte. Aber die kleinen Händchen griffen sich ihren Zeigefinger und hielten ihn ganz fest, große Augen musterten sie aus einem bekannten Gesicht heraus – da brauchte sie einfach nur strahlen und die Worte kamen ganz von selbst.

„Was du mit vier Monden schon für eine Kraft hast, Armanu, genau wie dein Papa. Und die blauen Augen hast du von deiner Mama. Und wenn ich mir die drei goldigen Fusseln auf deinem Kopf so ansehe, wirst du wohl auch die blonden Haare von ihr bekommen.“

Taberia, ein wenig verlegen, ringelte sich ihre Zöpfe um die Finger. Viviane gab der kleinen Armanu einen Kuss auf die Stirn und reichte sie zurück. Flora klatschte energisch in die Hände und rief: „Nun kommt endlich zu Tisch. Ihr müsst doch Hunger haben! Ach, da fällt mir ein …“

Winkend dirigierte sie die Frauen nach draußen und stellte Loranthus und Hanibu mit fast denselben Worten vor, die auch Viviane gebraucht hatte.

Ein reicher griechischer Händler mit seiner eigenen, sogar dunkelhäutigen, Sklavin – das verfehlte seine Wirkung nicht. Noch nie waren sie mit so großen Augen, so beschwingt und neugierig zum Brunnen unterwegs gewesen wie jetzt; Großmutter Mara wäre beinahe über Lavinia gestolpert, die mit wachsender Begeisterung um Hanibu herumtänzelte. Loranthus fing Mara gerade noch rechtzeitig auf. Diese fühlte sich sehr geschmeichelt, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und zwickte ihn in die Wange.

Die Stelle wurde sofort warm und rot, doch bevor er sich für Freuen oder Wehklagen entscheiden konnte, griff sich Flora eine Tonschale und goss jedem der Reihe nach Wasser über die Hände. Dabei war es wichtig, die Hände nicht über den Brunnen zu halten, sondern ein Stück weg über die Kieselsteine rundum.

Loranthus und Hanibu hatten es schnell begriffen, sie hielten sich einfach an Viviane und machten ihr alles nach. Selbst über die Wasserschale verlor Loranthus kein Wort – sie hatte auch nur die Gestalt einer Ente mit Fischschwanz und war deshalb lediglich leicht entartet.

Auf dem Balkon vor dem Langhaus zogen alle die Schuhe aus, was bei Holzschuhen sehr schnell ging, bei Filzstiefeln auch; selbst Loranthus entledigte sich seiner neuen kniehohen Stulpenstiefel in rasantem Tempo. Viviane brauchte wesentlich länger, bis sie endlich in bequeme Bastschuhe schlüpfte, die bereits auf sie gewartet zu haben schienen. Versonnen lächelnd trat Viviane ins Haus, Ethmanja gähnte und legte sich halb vor die Tür. Loranthus machte einen Bogen um sie herum und hätte ihr beinahe den Kopf getätschelt, mit Blick auf Flora und seine sauberen Hände ließ er es jedoch lieber bleiben.

 

Im Langhaus war alles sehr geräumig. Den Mittelpunkt bildete ein sorgfältig verputzter Steinofen. Rechts davon standen mehrere Holztische und Bänke mit kunstvoll gedrechselten Beinen, allesamt äußerst stabil. Loranthus staunte nicht schlecht.

Mit sichtlichem Stolz führte Flora ihn und Hanibu zur ersten Bank, Großmutter Mara setzte sich daneben und Lavinia kletterte auf den Platz genau gegenüber von Hanibu, wobei sie ihr unverhohlen neugierige Blicke zuwarf. Taberia drückte Noeira das Baby in den Arm, damit sie besser den Tisch decken konnte, und lief hinter Viviane her, die sich unauffällig entfernt hatte.

Sie stand hinter dem Ofen am Arbeitstisch und begutachtete das Mittagessen, das ihre Mutter – wohl wissend um ihre Ankunft – bereitgestellt hatte. Frisches Brot, Butter, Käse, kalter Braten und ein großer, schwarzer Tonkrug mit Buttermilch; den griff sie sich zuerst und stellte ihn genau vor Loranthus ab.

Wie erwartet riss dieser die Augen auf, denn der lange Hals eines Storches bildete den Henkel und mit seinen Schwingen schien er den Krug in die Luft heben zu wollen.

Loranthus war derart fasziniert von diesem getöpferten Schmuckstück, dass er kaum merkte, wie Flora, Viviane und Taberia den Tisch deckten.

Noeira gab Armanu noch ein Küsschen, dann reichte sie die Kleine an Taberia zurück, sah sich mit suchendem Blick um und seufzte: „Wo steckt denn mein Sprössling schon wieder?!“

„Robin?! Ach du Schreck!“ Lavinia hopste von der Bank und rannte zur Hintertür. „Der ist bestimmt wieder beim Hühnerstall eingeschlafen!“

Alle fingen schon mal mit dem Essen an, nur Hanibu schaute Lavinia nach; ihre nussbraunen Ringellöckchen wippten einfach zu niedlich. Allerdings verging Hanibu das Lächeln schlagartig, sobald sie durch die aufgestoßene Hintertür den kleinen Jungen, etwa in Lavinias Alter, erspäht hatte. Laut schnappte sie nach Luft und schlug sich die Hand vor den Mund.

Robin, mit seinen nebelgrauen Augen und rotblonden Zöpfen, war Noeira wie aus dem Gesicht geschnitten, unverkennbar ihr Sohn. Er saß auch tatsächlich vor einem Hühnerstall, der mit starken Weidenruten umzäunt war – eingeschlafen war er jedoch nicht. Seelenruhig unterhielt er sich mit einem ausgeblichenen Menschenschädel und pikste ihm dabei immer mal in die Augen oder die Nase. Er legte ihm sogar seine eigenen Zöpfe über den kahlen Schädel, strich sie mal hierhin, mal dahin, ringelte sie zu Spiralen zusammen und prüfte jedes Mal, ob sie im Sonnenlicht auch hübsch rot-golden schimmerten. Weil alle mit den Neuankömmlingen beschäftigt waren, hatte er die Gelegenheit genutzt und seine Beute in Sicherheit gebracht. Nun war er offensichtlich sehr zufrieden mit sich selbst und damit, wie gut seine Haare dem Schädel zu Gesicht standen. Ja, Robin fand sogar, dass zwischen ihnen beiden durchaus eine gewisse Ähnlichkeit zu erkennen war.

Flora, die ihren Enkelsohn nun ebenfalls bemerkt hatte, knallte die flache Hand auf den Tisch, rannte hinter ihrer Jüngsten her und schob sie aus dem Weg. Mit einem Griff in sein Hemd schleifte sie den ertappten Robin ins Haus, schob ihn gleich neben dem Türpfosten an die Wand und zerrte ihm den Schädel aus der Hand. Mit einer zackigen Handbewegung befahl sie Lavinia daneben, dann hielt sie eine Schimpftirade, die ihresgleichen suchte.

„Ihr ungezogenen Bälger! Wenn ich noch einmal einen von euch mit dem Schädel erwische, nagle ich den reichen Kentar persönlich an die höchste Stelle unters Dach! Und der Übeltäter darf natürlich nicht mit zum Fischen, egal wie lieb ich ihn normalerweise habe!“

Floras drohender Blick ruhte erst lange auf Lavinia, danach war Robin an der Reihe. Den Schädel legte sie sehr behutsam in eine kleine Truhe zurück, die auf einer wesentlich größeren gleich neben den Kindern stand, und knallte den Deckel zu.

Mit eingezogenen Köpfen schlichen die Kinder zum Tisch, schoben sich leise auf die Bank und schmierten sich tief geduckt jeder ein Butterbrot. Deshalb konnten sie die Gesichter der Frauen nicht sehen, die sich allesamt das Lachen verkniffen.

Mit zuckendem Mund belegte Flora ein Butterbrot mit Braten und legte es vor Taberia aufs Holzbrett, da sie ihre Tochter stillte und sich nicht so gut bewegen konnte.

Großmutter Mara legte noch ein Käsebrot daneben und nickte – das Gesicht voll tiefer Lachfalten – zu Viviane hinüber, denn sie musste gerade daran denken, wie ihre große Enkeltochter auch immer heimlich mit dem Schädel gespielt hatte. Zu solch demütigenden Szenarien war es bei ihr allerdings nie gekommen.

Viviane und Silvanus hatten sich stets geschickt angestellt. Der eine hatte die Mutter abgelenkt, der andere das begehrte Stück aus der Truhe entwendet. Als Großmutter hatte sie damals auch manchmal eine tragende Rolle gespielt – selbstverständlich ebenfalls, ohne je von Flora erwischt zu werden. Ja, als Großmutter – im Falle von Robin als Urgroßmutter - half man doch gerne mit, wo man konnte, schließlich musste der alte Kentar auch mal an die frische Luft.

Totenschädel namens Kentar, Enten mit Fischschwanz, Storchenhälse als Henkel … Loranthus zuckte nur mit den Schultern. Herzhaft schlug er seine Zähne in den Braten; ihn konnte in diesem Land nichts mehr aus der Ruhe bringen. Er musste nur noch schnell über die Tischplatte streichen, ganz unauffällig, versteht sich. Wie hatten die Keltoi – Verzeihung, Hermunduren – die so schön glatt bekommen? Und er hatte immer gedacht, die Barbaren könnten einen Stuhl nicht von einem Tisch unterscheiden. Genüsslich kauend lehnte er sich an die bequeme Rückenlehne. Einen Braten machten die Leute hier – einfach zum Reinbeißen.

„Was gibt es denn heute zum Abendbrot, Mama?“

Lavinia hatte zwar immer noch den Kopf eingezogen, doch offensichtlich stellte sie diese Frage täglich; Flora machte prompt ein ‚Darauf habe ich schon gewartet‘-Gesicht.

„Heute gibt es Vivianes Lieblingssuppe.“

„Brennnesselsuppe! Mmh! Das hätte ich mir ja denken können!“ Lavinia rollte mit ihren dunkelbraunen Augen. Verschwörerisch schaute sie zu Viviane und senkte die Stimme: „Jedes Mal, wenn es diese Suppe gibt, erzählt sie mir, dass es deine Lieblingssuppe ist. Dabei ist es auch meine Lieblingssuppe. Aber das hat sie scheinbar noch nicht bemerkt.“

Mit einem vorwurfsvollen Schnütchen hob sie ihren Tonbecher an die Lippen.

Viviane grinste. „Wenn du einmal weggehst, erzählt sie bestimmt jedem, was du gerne isst.“ „Ich gehe nie von hier weg! Ich werde Kräuterfrau wie Mama! Und dann helfe ich dir, die Kranken zu pflegen!“ Entschlossen starrte Lavinia in die Augen ihrer großen Schwester.

Viviane musste lächeln.

„Sehr gute Wahl, das Angebot nehme ich gerne an. Wenn du willst, kannst du mir immer zur Hand gehen. Aber …“ Sie hob mahnend den Zeigefinger. „… deine Aufgaben hier darfst du nicht vernachlässigen.“

„Du meinst, ab sofort?! Herrlich, das schaffe ich!“ Lavinia nickte stürmisch.

„Darf ich dir auch helfen, Epona?“ Hoffnungsvoll lugte Robin zu ihr auf und ringelte sich seine beiden Zöpfe um die Finger.

Dass sie von Robin mit ‚Epona‘ angeredet wurde – wahrscheinlich um ihr zu schmeicheln –, darüber wunderte sich Viviane nicht. Aber wieso versuchten es alle männlichen Exemplare immer mit diesem Hundeblick? „Hm, wenn ich so recht überlege, wären zwei Helfer noch viel besser als einer. Aber das Gleiche gilt auch für dich, junger Mann.“

Robin wuchs zusehends in die Höhe. Er warf seine Zöpfe zurück und reckte sein Kinn in die Runde, bis er dem wachsamen Blick von Flora begegnete. Schnell sah er wieder zu Viviane.

„Wir dürfen nach dem Mittagsschlaf aufs Feld und Steine ablesen. Das haben wir bei den anderen Feldern auch getan. Und nach Beltane dürfen wir auf die Weiden. Da passen wir auf die Schafe auf. Und Großvater hat uns versprochen, dass wir bei der Schafschur helfen dürfen.“

Erwartungsvoll schaute Robin zu Viviane und machte ein Gesicht, das erwachsen aussehen sollte, bei seinen fünf, sechs Jahren jedoch nur annähernd glaubwürdig war.

„Da habt ihr euch ja mächtig was vorgenommen, Robin. Ich bin sicher, dass ihr sämtliche Aufgaben hervorragend erledigen werdet. Auf welchem Feld arbeiten die Männer denn gerade?“

„Das beim Birkenwald. Wenn sie das bestellt haben, sind sie fertig und Papa geht mit uns fischen. Das hat er versprochen.“ Robin riskierte einen scheelen Seitenblick zur kleinen Truhe.

„Wenn ihr wollt, könnt ihr morgen auch mir helfen.“

„Wer ist denn krank?“, fragten beide gleichzeitig und strahlten um die Wette.

Viviane musste über so viel Eifer lachen. „Bis jetzt zum Glück noch niemand. Aber ich möchte morgen große Wäsche machen. Dabei könnt ihr mir gerne helfen.“

„Ach, schade!“ Enttäuscht schauten sich die Kinder an.

Viviane schmunzelte. Eine Wäsche war eben nichts für Abenteuerlustige.

„Das trifft sich gut.“ Flora klatschte in die Hände. „Wir wollten morgen auch viel waschen.“

Und natürlich viel erzählen. „Ach“, winkte Viviane ab. „Mein bisschen Zeug, damit werde ich schnell fertig sein.“ Sie beugte sich über den Tisch und raunte verschwörerisch: „Mit großer Wäsche meinte ich etwas wirklich Großes, das gewaschen werden muss.“

Zwei Köpfe zuckten herum.

„Was ist es denn? Verrätst du es uns? Bitte!“

Mit einem unwiderstehlichen Minenspiel, das nur Kinder hervorzaubern können, gaben sie ihr Bestes in der Kunst des Überredens. Viviane ließ sich nicht lange bitten.

„Sie heißen Arion und Dina. Sie sind schnell, haben je vier Beine, eine Mähne und einen Schweif, und das männliche ist viel größer als das weibliche.“

„Zwei Pferde! Ein Mädchen und ein Junge!“, jubelte Robin und Lavinia nickte dazu höchst gönnerhaft, weil sie des Rätsels Lösung schon längst kannte. „Dürfen wir mal streicheln? Wo stehen die denn? Beißen die?“

Flora sah gebieterisch von einem zum anderen und wedelte mit den Händen. „Ihr seid fertig mit Essen? Gut, von mir aus geht mit Viviane, sonst fragt ihr der Ärmsten noch Löcher in den Bauch. Ach, und wenn wir schon mal dabei sind …“ Sie wedelte wieder gebieterisch, diesmal in die große Runde.

In Windeseile waren die Bänke leer.

Dina kannten sie schon, deshalb hatten es die Frauen sehr eilig, den großen Arion zu sehen. In den Dörfern besaß keiner ein Pferd, kein kleines und erst recht kein großes, hier wurde alles von Ochsen gezogen. Nur die Wohlhabenden und die Könige konnten sich gleich mehrere Pferde leisten. Viviane war nichts davon. Aber sie war Epona.

Freudig hechelnd zockelte Ethmanja neben Viviane her und schon standen sie bei den Pferden, die im Schatten eines reich blühenden Apfelbaumes zufrieden grasten.

„Interessant, Dina ist alt und grau geworden“, witzelte Noeira und tätschelte Dina den Hals. „Aber wieso hast du noch einen Hengst dazubekommen? Und welch stattlichen! Hat der sich auch das Bein gebrochen?“

Prüfend ging Noeira um Arion herum und betrachtete seine Beine. Allerdings war das gar nicht so einfach, denn auch Arion ging um Noeira herum und schaute auf sie hinunter. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern war nahezu gleich, während sie sich umeinander drehten wie ein Tanzpaar, er groß und muskulös, sie graziös wie ein Weinfass. Ihre Zuschauer amüsierten sich köstlich.

Nach ein paar Runden gab Noeira auf, schließlich hatte sie mehr Gepäck zu schleppen als Arion. Stöhnend stemmte sie die Hände in den Rücken und überlegte laut: „Arion von woher auch immer, du scheinst mir ja ein ganz großer Charmeur zu sein.“

Arion schnaubte, was sich fast wie ein Lachen anhörte, und stupste sie zärtlich gegen die Schulter. Noeira kicherte und schmiegte sich an seinen Hals. Alle prusteten los, Armanu quietschte vergnügt, Lavinia hopste mit Robin auf der Stelle, Ethmanja hechelte um sie herum, schnappte nebenbei nach einem Butterbrot mit kaltem Braten, das Flora zufällig noch in der Hand hielt, und nun passte diese auf, dass kein Stück verloren ging, genau wie Ethmanja und Loranthus. Viviane schaute sie alle der Reihe nach an, tätschelte Hanibu, die am glücklichsten aussah, und seufzte zufrieden.

„Mama, ich würde gerne zum Feld gehen.“

Flora strich ihrer großen Tochter über die glänzenden Haarwellen. „Kind, ich kann mir vorstellen, wie ungeduldig du bist. Fünf, fast sechs Jahre sind eine lange Zeit. Du kannst gleich noch einen Krug Buttermilch mitnehmen. Bei der Wärme werden sich die Männer über etwas Frisches freuen.“

 

Viviane nickte eifrig und hockte sich hinunter zu den Kindern. „Wenn ihr wollt, könnt ihr nachher auf Arion und Dina zum Feld reiten. Was meint ihr, wie die Großen dann gucken werden. Und wenn ihr euch von Hanibu führen lasst, fallen denen vor lauter Staunen die Augen aus dem Kopf.“

„Ja! Das wird ein Spaß!“ Die Kinder konnten vor Freude nicht mehr still halten. Sie fasten sich an den Händen und drehten sich jauchzend im Kreis.

Fragend schaute Viviane zu Hanibu. „So könntest du noch ein wenig ausruhen. Du siehst just in diesem Moment recht schlapp aus.“

Hanibu fühlte sich wirklich gerade sehr müde, obwohl sie keine Schmerzen mehr hatte. Dankbar sah sie Viviane an und nickte.

„Loranthus, wenn du willst, kannst du mich zum Feld begleiten. Da kannst du mal echten Bauern beim Arbeiten zusehen.“

„Hervorragende Idee!“

Loranthus strahlte noch mehr als die Kinder. Am liebsten wäre er sofort losgestürmt, aber er musste sich ja nach seinen Gastgebern richten. Je näher sie dem Tor kamen, desto langsamer schlurften die Kinder vorwärts. Die Aussicht auf einen erquicklichen Mittagsschlaf schien sie nicht gerade froh zu stimmen.

Robin wurde samt Protestgeschrei ins erste Grubenhaus geschoben und Noeira winkte den Übriggebliebenen, bevor sie die Tür zuschlug. Taberia verabschiedete sich mit ihrem Baby ins zweite Grubenhaus. Lavinia nahm Hanibu an die Hand und führte sie sehr zuvorkommend ins Langhaus, Flora und Mara folgten, Loranthus rannte ums Haus herum Richtung Abort. Schmunzelnd blieb Viviane auf dem Dorfplatz stehen und fragte sich, wie vollgestopft wohl das dritte Grubenhaus mit den Kräutern ihrer Mutter war. Unvermittelt machte sie kehrt und schlenderte zurück zum Tor, wo sie einen Lederbeutel aus ihrem Taschenberg zog. Müßig bummelte sie wieder über den Platz, hinein ins Langhaus und die Treppe hinauf.

Hanibu schlief schon tief und fest neben Lavinia, die sich zufrieden auf ihr Schaffell kuschelte, jedoch kein bisschen müde war.

„Erzählst du uns heute Abend etwas von Britannien?“

„Was du gerne hören möchtest.“ Lächelnd zupfte Viviane die Wolldecken über Hanibu und ihrer kleinen Schwester zurecht.

„Ich will alles ganz genau wissen!“

„Du bist ja schlimmer als Mama! Da werde ich wohl viele Abende erzählen müssen!“ Gähnend wischte sich Viviane den imaginären Schweiß von der Stirn und gab Lavinia einen Kuss auf die ihre.

„Noch auf die Augen“, forderte die Kleine und klappte dieselben zu.

Ihr Wunsch wurde lachend erfüllt. Danach kamen die Nase, die Wangen, der Mund, das Kinn, die Ohren und die Hände an die Reihe. Als sie noch alle anderen Körperteile unter der Decke hervorstrecken wollte, hob Viviane mahnend den Finger.

„Je schneller du einschläfst, desto früher kannst du raus aufs Feld.“

Der Einwand war überzeugend, Lavinia kniff die Augen zu und fing an zu schnarchen.

Jetzt konnte sich Viviane ein breites Grinsen erlauben, irgendwie kam ihr diese Verzögerungstaktik sehr bekannt vor.

„Ich lege dir noch ein Päckchen ans Fußende. Wenn du schön geschlafen hast, wirst du etwas darin finden, was du gut gebrauchen kannst“, flüsterte sie in Lavinias Ohr. „Aber erst, wenn du ausgeschlafen hast und nicht früher, verstanden?“

Aus dem Schnarchen wurde ein: „Hm, hm“ und ein Lächeln mit geschlossenen Augen, schon war die Kleine wirklich eingeschlafen.

Belustigt ging Viviane nach unten und holte die Buttermilch, dabei fiel ihr Blick auf ein paar Speere, die quer an der Wand über den Truhen hingen. Sie alle waren mit drei breiten grünen Streifen bemalt, bis auf einen, der auch noch dünne rote Streifen aufwies. Nach kurzer Überlegung nahm sie diesen herunter und prüfte die Spitze – er hatte keine. Loranthus wartete draußen angeblich schon seit einer Ewigkeit und bekam den Speer in die Hand gedrückt.

„Wollen wir noch auf die Jagd?“

„Damit kann man nicht jagen. Guck, die Spitze ist stark abgerundet, kein Stück Eisen dran. Ich will dir bloß etwas zeigen. Komm!“

Sie winkten noch Flora und Mara, die den Esstisch abgeräumt und nun wieder ihre Arbeit im Handwerkshaus aufgenommen hatten, und wandten sich hinter dem Tor nach links.

Auch hier führte der Weg an Wiesen, Weiden mit blühenden Obstbäumen und Tiergehegen vorbei. Die hintersten beiden auf der linken Seite waren mit Schweinen und vielen Ferkeln besetzt, die sich gerade um den besten Platz in einer Schlammkuhle balgten. Rechts badeten etliche Gänse sehr gepflegt im Fluss. Als sie jedoch die Neuankömmlinge bemerkten, war es um die Idylle geschehen.

Heftig mit den Flügeln schlagend, stob die ganze Schar aus dem Wasser und rannte laut zischend über die Wiese.

Loranthus sprang mit einem Satz hinter Viviane – was für ein Heldenmut, wenn man bedachte, dass er sich selbst gern als kretischen Stier anpries, aber das war ihm im Augenblick egal. Die großen, aufgerissenen, zuckenden Schnäbel machten ihm gewaltig Angst und Viviane kannte sich mit solchen Gefahren bestimmt besser aus als er.

Viviane blieb ganz ruhig und schmunzelte. Sie verstand seine Reaktion durchaus. Gänse verteidigten ihr Revier und konnten für Fremde tatsächlich gefährlich werden. Nur, hätte er in seiner Hast einmal nach vorn geblickt, wäre ihm das Gatter aufgefallen, das ihn vom wilden Federvieh trennte.

In ihrer Angriffslust wurden die Tiere jäh gestoppt, was sie zu noch wilderem Gezische anspornte. Mit ihren Schnäbeln hackten sie durch die freien Stellen im Weidengeflecht – ein echter Härtetest für Loranthus.

In aller Gemütsruhe zerbrach Viviane ihr altes Brot, das sie, von der Reise übrig, extra mitgenommen hatte. Für solch leckeren Wegzoll ließen die gefiederten Hofwächter natürlich jeden passieren.

Loranthus kam aus seiner Deckung hervor, beugte sich waghalsig über das Gatter und tat geradeso, als stünde er schon die ganze Zeit dort und hätte mächtig Spaß dabei. Kurz vor dem Ende aller Brotkrümel wollte er aber weiter, und zwar rasch zum Tor hinaus, das – wie bereits erwartet – sperrangelweit offenstand; bei dem Alarmsystem war das auch kein Problem.

Hinter den Hecken plätscherte ein Bach in den Hauptarm des Flusses und sie mussten über eine kleine Holzbrücke gehen, damit sie den Weg weiter entlang der Felder laufen konnten.

Sie gingen Richtung Dietrichsberg, erklärte Viviane, und Loranthus betrachtete die sprießende Saat auf den Feldern entlang ihres Weges genauso neugierig wie die Weiden mit Kühen und Kälbchen. Nur beim Anblick des einzeln stehenden Stieres blieb er wie angewurzelt stehen. Das Tier an sich war schon riesig, aber seine Hörner waren geradezu gigantisch. So, genau so, musste der Göttervater Zeus aussehen, wenn er sich in den alten Mythen in einen Stier verwandelte. Beinahe hätte Loranthus die Hand zum Gruß gehoben.

Genau wie auf Wiesen und Weiden gab es auch auf den Feldern Bäume, die kühlen Schatten spendeten, und die Wassergräben konnte man sogar vom Bach abtrennen. Das bemerkte Loranthus allerdings erst, als er es endlich aufgegeben hatte, den mächtigen Stier sowie ein paar Ochsen zu beäugen, die ein Stück weiter auf einer getrennten Weide grasten.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses sah es ähnlich aus. Hier wirtschaftete aber eine andere Familie, deren kleines Gehöft jetzt in Sicht kam.

„Dort drüben steht ja bloß ein einziges Haus! Nicht mal eine Hecke!“

„Wenn es im elterlichen Dorf zu eng wird, teilt der König ein neues Gebiet zu. Das Paar baut ein Haus und bekommt Kinder, dann Enkelkinder, und bald ist es ein Dorf wie jedes andere. Wo gut gewirtschaftet wird, gedeiht das Leben. Und unsere Sünna hat eine wunderbare Flussaue zum Niederlassen, wie du siehst, mein Freund. Dichte Hagebuttenhecken wachsen allerdings auch hier nicht von heute auf morgen.“

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?