Die weise Schlange

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„Ich schäme mich dermaßen …“ Unvermittelt setzte er sich gerade und gluckste: „Aber weißt du, Viviane, ich mache einfach aus der Not eine Tugend. Angefangen habe ich schon.“ Gut gelaunt wedelte er mit seinem neuen Mantel und deutete hinter sich. „Angus und Markus wollen sich ein bisschen umhören. Sie kennen viele Leute und kommen durch viele Gegenden, vielleicht hat jemand die Kutsche oder die Räuber gesehen.“

„Eine gute Idee! Sag mal, Loranthus, wart ihr eigentlich immer mit Händlern unterwegs?“

„Ja. Mein Vater gab mir diesen Rat. ‚Bleib stets und ständig unter Händlern‘, sagte er. ‚Das ist die sicherste Art zu reisen. Und wenn du keinen findest, der in deine Richtung will, dann wartest du eben, es eilt ja nicht.‘ Aber das letzte Stück im Chattenland waren wir allein, weil der Händler, mit dem wir gereist sind, auf den Vogelsberg abgebogen ist.“

„So, so. Ab dem Vogelsberg wart ihr also alleine unterwegs. Nun, diese veränderte Situation war wie gemacht für den Überfall.“

„Ja, hinterher kam mir das auch in den Sinn, doch gestern Morgen hatte ich überhaupt keine Bedenken gehabt. Die paar Meilen werden wir noch schaffen, habe ich gesagt. Alles war so friedlich …“ Seufzend ließ Loranthus wieder Kopf und Schultern hängen.

„Reiß dich zusammen! Wenn wir die Räuber erwischen, denken wir uns etwas ganz Besonderes für sie aus. Die werden nie wieder andere Leute überfallen.“

Loranthus lachte laut auf. „Bei Hermes, darauf freue ich mich jetzt schon!“

Schweigend ritten sie weiter und genossen die Wärme der Frühlingssonne. So ein schöner Tag mit Schäfchenwolken am Himmel und lauem Lüftchen – kein Vergleich zu gestern, als sich Regen, Schnee und sogar Hagel in kurzer Folge abgewechselt hatten. Nichts Ungewöhnliches hierzulande in dieser Zeit, in diesem Mond, wie Angus und Markus ihm versichert hatten, man musste sich eben dementsprechend kleiden.

Gedankenversunken strich Loranthus über seine neuen Kleider und beglückwünschte sich, zufällig eine prima Qualität ergattert zu haben. Die Wolle von Hemd und Hose war weich, das Garn ganz dünn, der Gürtel saß perfekt, die Stiefel waren bequemer als seine geraubten, und der Mantel erst noch – absolut dicht, da konnten Regen und Schnee von ihm aus noch mal kommen. Irgendetwas roch hier verführerisch … Fasziniert schaute er sich um.

Sie ritten neben einer schmalen Waldwiese, die über und über mit Veilchen bedeckt war, es duftete einfach wunderbar. Genüsslich atmete er die warme Luft ein, wollte den Blick schweifen lassen, wollte sich wohlfühlen … unruhig begann er jedoch, auf dem Sattel herumzurutschen.

„Kh, kh“, hüstelte Loranthus und blickte für Vivianes Begriffe ein wenig gehetzt drein. „Könnten wir hier rasten? Ich müsste mal kurz in den Wald.“ Betreten schaute er auf seine neuen Schuhe hinab und nestelte an seinem Mantel herum, um ihn abzustreifen.

„Natürlich. Wir warten hier auf dich.“

Warum er sich bloß für etwas derart Normales schämte? Kopfschüttelnd schwang sich Viviane über Dinas Hinterteil, breitete ihren Mantel auf dem warmen Gras aus und holte den Wasserschlauch von Arions Rücken. Sie füllte ihr Trinkhorn und reichte es Hanibu, die ohne ihre Hilfe und wie es sich gehörte abgestiegen war, erst danach trank sie selbst. Nebeneinander legten sie sich auf den Mantel und Hanibu bot ihren eigenen als Zudecke an, doch Viviane war es warm genug. Also zog Hanibu den dicken Wollstoff für sich allein bis unters Kinn und sah auf einmal sehr jung aus, wie sie da gen Himmel starrte. Viviane entging ihr ängstlicher Blick nicht.

„Das Wetter wird besser werden“, versicherte sie. „Schau, die Schwalben fliegen hoch!“ Welch eine Erleuchtung! Eigentlich wollte sie ja nur das Gespräch in Gang bringen und etwas um den heißen Brei herumreden.

Hanibu nickte seufzend. Sie vertraute Viviane, obwohl sie sich erst einen Tag kannten.

„Es ist schön hier. Anders als mein Land, aber es gefällt mir. Es ist bloß … ich habe etwas Angst vor den Menschen, davor, wie sie über mich denken. Ich sehe ganz anders aus als sie und noch dazu bin ich eine … eine …“

„Keine Bange, nur Mut. Du wirst sehen, meine Leute werden dich gut aufnehmen. Sei ganz zuversichtlich. In jeder Herde gibt es schließlich ein schwarzes Schaf, und jetzt haben wir endlich auch eins. Und was für ein niedliches Hanibeerchen!“ Viviane zwickte ihr neckend in die Nase.

Hanibu konnte gar nicht anders, sie musste lachen, und schon kicherten beide wie kleine Mädchen.

„Das mit dem schwarzen Schaf ist übrigens nicht böse gemeint, im Gegenteil. Es gibt wirklich meist ein oder zwei Schafe mit dunkler Wolle, während alle anderen helle haben, und …“ Viviane hob Achtung heischend den Zeigefinger. „Schafe sind enorm wichtige Tiere für uns. Sie bedeuten nicht nur Fleisch und Milch und Wolle, sondern sie stehen auch für Fruchtbarkeit. Und Fruchtbarkeit ist nicht nur wichtig, sie ist überlebenswichtig für uns. Nimm zum Beispiel unser erstes Mondfest im Jahr, Imbolg. Imbolg wird gefeiert, wenn die Mutterschafe nach dem langen Winter wieder Milch geben, weil sie bald ihre Lämmer gebären werden. Ein wahrhaft frohes Ereignis. Vielleicht werde ich später auch mal als solch ein niedliches, flauschiges Lämmchen wiedergeboren – oder du, wer weiß? Stell dir vor, Hanibeerchen: Du und ich auf der Weide als Schafe, wie wir genüsslich den Löwenzahn kauen. Und was für eine Wolle wir abgeben würden! Daraus macht meine Mutter die feinsten Kleider in Schwarz-Weiß. Na, wohl eher Dunkelbraun-Milchweiß, aber egal, jedenfalls könnte man darauf prima Fidchell spielen. Ich höre schon die Rufe der Händler: ‚Fidchell spielen, wann immer ihr wollt! Ob Sommer oder Winter, leicht und luftig oder dick und wärmend!‘“ Übermütig tätschelte Viviane ihren Mantel. „Aber erst mal müssen wir zwei ganz viel Löwenzahn kauen, bis es uns aus dem Maul hängt! Guck, so, ich mach mal vor!“ Kopfüber stürzte sich Viviane ins Gras.

Hanibu quietschte vor Vergnügen.

Laut blökend verspeiste Viviane ein riesiges Büschel Löwenzahn – natürlich nicht wirklich, die Blätter waren für ihren Geschmack zwar zart genug, aber sie hatte auch ein paar Stängel erwischt; daher musste sie prusten und spucken, bis sie das Grünzeug wieder aus dem Mund bekam. Nebenbei wischte sie sich eifrig Lachtränen aus den Augen und freute sich über den Erfolg von so viel Blödsinn, denn Hanibu japste und schnaufte vor Lachen, und auch sie selbst musste tief Atem schöpfen, um sich wieder zu beruhigen.

Mit einem Ruck saß Viviane gerade und sog noch einmal prüfend die Luft ein.

„Riechst du das auch?“

Hanibu schnupperte. „Ich rieche nur Wiese. Was meinst du?“ Sie sah sich um und rückte dichter an Viviane heran.

„Es windet wie Wildschwein.“ Viviane steckte den Zeigefinger in den Mund, hielt ihn in die Luft und zeigte zum Waldrand. „Das kommt eindeutig von dort, wo Loranthus verschwunden ist.“

„Du gibst auch einen prima Hund ab, wenn es mit dem Schaf nichts wird“, gluckste Hanibu.

„Ich mach keinen Quatsch, es ist sehr ernst, Hanibu. Wildschweine flüchten zwar lieber, wenn man ihnen zu nahe kommt, aber die Sauen haben jetzt gerade Nachwuchs. Da kennen die weder Freund noch Feind und greifen an.“

„Du meinst, sie könnten Loranthus töten?!“ Hanibu schlug die Hände vor den Mund.

Viviane sprang auf und befahl: „Du bleibst bei den Pferden. Wenn etwas schiefgeht, steigst du auf Dina und reitest, so schnell du kannst. Sie kennt den Weg, Arion wird ihr folgen.“

„Was meinst du mit ‚schiefgeht‘? Was hast du vor?!“

„Erstens: Wenn die Sau in deine Richtung läuft. Zweitens: Ich werde Stachelbeere suchen.“

Hanibu verstand nicht ganz, doch Viviane rannte schon und so musste sie selbst eins und eins zusammenzählen. Rasch hob sie die Mäntel auf, stellte sich zu den Pferden und schaute Viviane nach, die zwischen ein paar Büschen verschwand.

Ohne den Blick von dieser Stelle zu lassen, wickelte sich Hanibu in ihren Mantel und versuchte, ihn mit der Fibel zu fixieren. Es gelang ihr erst beim dritten Versuch, die Nadel durch den dicken Filz zu stechen und festzuklemmen, ihre Finger zitterten. Jetzt war sie ganz allein in einer fremden Welt und sie konnte nur eines tun: ihren uralten Gott, Sama, bitten, Viviane und Loranthus wohlbehalten zurückzuschicken.

Inbrünstig presste Hanibu die Fäuste an ihre Lippen und rief ihn an, denn wenn einer ihre Bitte erhörte, dann ‚der Hörende‘ selbst. Um sich selbst hatte sie keine Angst. Sie konnte mit den Pferden fliehen. Aber was wollte ihre Freundin tun, wenn die Sau auf sie zukam?

Viviane bewegte sich gegen den Wind, denn Wildschweine konnten bestens riechen, auch wenn sie nicht besonders gut sahen. Sie hingegen tat sich gerade mit beidem schwer; im Wald war es viel komplizierter, dem Geruch zu folgen und gleichzeitig nicht über Loranthus zu stolpern. Mit seinen neuen Kleidern in Braun und Grün-Gelb war er zwischen all den sprießenden Bäumen und Sträuchern und dem alten Laub auf regenfeuchtem Boden bestens getarnt. Obwohl, so weit konnte er eigentlich nicht gegangen sein, schließlich hatte er es eilig und dürfte sich hinter den erstbesten Sichtschutz gehockt haben.

Argwöhnisch fuhr Viviane herum und musterte den Waldrand, dann ging sie weiter und lugte hinter jeden Busch, jeden dicken Baum, bis sie zu extrem dichtem Unterholz kam. Vor diesem Gestrüpp hätte Loranthus garantiert haltgemacht, doch als Unterschlupf, als Kessel für Frischlinge, war es geradezu ideal.

Leise postierte sie sich hinter einer alten Eiche, kniff die Augen zusammen und spähte ins Zwielicht.

Die Sonnenstrahlen schienen mit den spärlichen Blättern zu tanzen, sanft wiegten sich Gräser im Wind, Bienen summten von Blüte zu Blüte, ganze Teppiche von Waldmeister und Buschwindröschen bedeckten den Boden. Die Düfte waren derart intensiv, dass sie sogar den überdeckten, der ihr wichtig war.

 

Sorgfältig prüfte sie noch einmal die Windrichtung, bevor sie weiter schlich. Es ging einigermaßen, im Gegenwind zu bleiben und regelmäßig den Geruch zu kontrollieren – zu dumm nur, dass sie vergessen hatte, den Wasserschlauch abzuhängen. Nun musste sie ihn fest an sich pressen, damit es darin nicht gluckerte.

Abrupt blieb Viviane stehen. Der Geruch nach Wildschwein wurde stärker. Sehen konnte sie noch nichts, aber das war gut für ihren Plan.

Bedächtig öffnete sie eine ihrer vielen Gürteltäschchen, fischte eine Holzdose heraus, zog sie auseinander und kippte einen grauen Flaum heraus. Diesen knautschte sie ein wenig in der Hand, während sie im Bogen weiterging, sich in den Wind hinein bewegte … sachte, ganz sachte, bis er von hinten kam und der Flaum in ihrer Hand vom Sog ergriffen wurde. Rasch knautschte sie ihn stärker, hielt ihn in den Wind und schaute sich nebenbei um.

Drei Schritt rechts von ihr ragte eine Hainbuche in die Höhe, zehn Schritt vor ihr ein wild wucherndes Himbeergestrüpp. Falls die Sau wider Erwarten dort herausbrechen sollte, musste sie schnell sein; die Hainbuche war nicht ideal, sah aber recht stabil aus.

Natürlich hoffte sie, dass dieser Notfall nicht eintreten würde.

Sanft strich sie über den grauen Flaum, zerpflückte ihn leicht, blies hinein, lauschte, bewegte den Arm auf und ab, blies wieder in den Flaum, lauschte, bewegte den Arm … Es schnaubte hinter dem Gestrüpp.

Die Sau schnaubte lauter, schnüffelte, grunzte, dann rannte sie quiekend davon. Zum Kessel mit ihren Jungen, da war sich Viviane sicher, aber die Himbeeren vor ihr waren einfach zu dicht, um es zu sehen. Also wartete sie noch eine Weile und horchte.

War da nicht ein leises Wimmern? Es hörte sich nicht wie Wildschwein an. Zielsicher lief sie los und schlängelte sich mit erhobenen Händen durch die Hecken; es ging leichter als gedacht.

Kurz darauf stand sie vor einer lang gestreckten Lichtung mit weichem Bärenfellgras, Wiesenblumen und einem Bach, der sich um große Steine wand und voll schillernd bunter Kiesel war. Sein Plätschern hatte etwas Besonderes, fand Viviane, es hörte sich fröhlich an, vergnügt. Auf der anderen Seite wiegte sich ein junger Birkenhain im Wind, seine Blätter raschelten leise und schimmerten grün-golden in der Sonne; sie hatten etwas Beschauliches an sich, etwas Ruhiges, Friedliches.

Hier war ein Ort, wo Feen lebten, mit Sonnenstrahlen um die Wette flogen, auf Flusssteinen tanzten, in Blütenkelchen ruhten und nachts im Mondlicht badeten. Verträumt steckte sich Viviane eine Handvoll Gänseblümchen in den Mund und sah sie vor sich, die Feen, wie sie durch die Lüfte schwebten auf zarten Flügeln mit seidigem Schimmer in wundervoller Farbenpracht. Fröhlich flatterten sie von Blüte zu Blüte, tranken Nektar und …

„Ist das wahnsinnige Vieh weg?“, blökte ein Schaf und rupfte an einem azurblauen Vergissmeinnicht, auf dem sich gerade eine Fee mit zitronengelben Flügeln sonnte.

Viviane zuckte zusammen, hob den Kopf und schüttelte ihn verwirrt. Nun hatte sie so einen schönen Tagtraum gehabt, bis dieses blökende Schaf aufgetaucht war und alles zerpflückt hatte. Vom wundersamen Feen-Volk war nichts mehr zu sehen, aber wenigstens waren die schönen Blumen noch da. Das Schaf seltsamerweise auch.

„Ich habe gefragt, ob die irre Sau weg ist, Viviane!“, blökte es noch lauter, diesmal vom Birkenhain aus. Das Schaf, genauer, Loranthus, hockte hoch oben auf der dicksten Birke und spähte ängstlich durch die Blätter. Viviane fragte sich tatsächlich für einen Moment, ob sie immer noch träumte. Sie musste sich erst einmal die Hand vor den Mund halten, um ein Kichern zu unterdrücken, bevor sie ihm antwortete. „Du kannst dich runtertrauen, die kommt so schnell nicht wieder.“

„Na, hoffentlich.“

Vor sich hin grummelnd hangelte Loranthus von Ast zu Ast und baumelte eine Weile am untersten, bis er endlich losließ. Ächzend landete er im weichen Gras drei Handbreit unter sich.

Viviane schlug die Hände vors Gesicht und unterdrückte einen Hustenanfall, während Loranthus mittels der Steine über das Bachbett trippelte; sie beobachtete ihn genau durch die Finger hindurch. Er hatte etliche Kratzer an Händen und Gesicht, sonst sah er den Umständen entsprechend gut aus und konnte sich auch recht geschmeidig bewegen.

„Ich habe schon gedacht, die geht nie mehr weg“, murmelte er verlegen, kaum stand er bei ihr. „Aber mit einem Mal hat das wilde Vieh ganz seltsam geschnüffelt, den Kopf umhergeworfen und ist davongerannt wie auf der Flucht.“

Loranthus richtete sich zu seiner vollen Größe auf und Viviane konnte einen Anflug von Genugtuung aus seiner Stimme heraushören: „Ich habe noch gar nicht gewusst, wie grandios ich sprinten kann. Urplötzlich stand diese Sau vor mir und scharrte mit den Hufen. Da haben sich bei mir sämtliche Nackenhaare aufgestellt und ich bin gespurtet wie Herakles bei Olympia. Meinen Sprung übers Wasser hättest du sehen sollen! Allerdings habe ich auch nicht gewusst, wie schnell eine Sau rennen kann. Zum Glück habe ich diesen Baum gesehen, also bin ich hochgesprungen und geklettert. Ich bin noch nie auf einen Baum gestiegen, schon gar nicht dermaßen rasant.“

„Das hast du gut gemacht.“

„Ja, das sehe ich auch so. Oryeithai!“

Viviane verstand nicht ganz. Nun hatte sie ihn ordentlich gelobt, und kaum hatte er sich in Pose geworfen, schaute er unglücklich drein. Ja, er begutachtete mit wachsendem Entsetzen seine Erscheinung, dabei waren die paar Schrammen eher harmlos, auf dem rechten Handrücken befand sich die einzig klaffende Wunde.

Auffordernd streckte sie ihm den Wasserschlauch hin und wie erwartet begann er gierig zu trinken.

„Diese Blessuren“, sie zeigte auf sein Gesicht und die linke Hand, „da brauchst du bloß Spucke drauf machen. Einzig dein rechter Handrücken sieht schlimm aus, da ist besonderer Schutz notwendig. Am besten auf den Schnitt urinieren, jetzt sofort! Oder hast du das schon erledigt?“

„Was?!“ Hastig überprüfte Loranthus den Sitz seiner Hose und jammerte: „Das wollte ich gerade tun, als es hinter mir so seltsam knackte. Mir kam es vor, als ob mich jemand beobachtet. Da habe ich meine Hosen lieber wieder hochgezogen, um woandershin zu gehen. Aber da stand auch schon dieses Riesenvieh vor mir und ich vergaß, was ich eigentlich vorhatte. Nur eines wusste ich: Die würde mich umbringen, falls sie mich zu fassen bekäme! Das habe ich in ihren Augen gesehen!“

Loranthus betrachtete seinen anderen, nur leicht zerkratzten Handrücken und schnaufte schwer.

„Wegen des Biestes habe ich mir einen Fingernagel abgebrochen! Nein, vier! Ganze vier Stück!“

Eilig knabberte er am ersten verunstalteten Finger herum und schimpfte nebenbei über Wildschweine im Allgemeinen und irre Sauen im Besonderen.

Viviane staunte, wie lange er jammern und auf seinen Zeigefinger beißen konnte. Was für ein Aufwand wegen vier Nägeln, wo ihm doch noch viel mehr hätte abbrechen können.

„Oh, du armer kretischer Stier! Deine Hufe sind eingerissen? Mach nicht so viel Muh und Mühe, deine Leiden sollen auf wundersame Weise enden“, sang Viviane die zweite Stimme in seinem Gejaule und kramte in einer ihrer Taschen. Mit übertriebener Verbeugung überreichte sie ein schmales Kupferplättchen, das vorne eine spitze Kerbe hatte.

„Perfekt!“, jauchzte Loranthus und riss ihr das Teil fast aus der Hand. Sofort schabte er damit hoch konzentriert über seinen Fingernagel. „Dein Nagelschneider ist sehr scharf, ich danke dir, aber …“ Er legte seinen Kopf schief und schaute sie von unten her an.

„Ich werde das Gefühl nicht los, dass du dich über mich lustig machst.“

„Da trügen dich deine Sinne nicht, denn ich werde das Gefühl nicht los, dass du gar nicht begreifst, wie viel Glück du eigentlich hattest.“ Vivianes Hand zuckte verächtlich zu den Schrammen. „Die paar Blessuren sind kaum der Rede wert, du jedoch lamentierst wegen abgebrochener Fingernägel, als sei jemand gestorben! Was meinst du? Ob du noch jammern könntest, wenn sie dich erwischt hätte?“

Betreten schaute Loranthus auf seine Hände, wo ihn noch drei weitere Nägel zu besagtem Jammern animierten.

„Deinen Spott habe ich wohl verdient“, gab er zu und sah fest in Vivianes Augen, damit sie nicht mitbekam, wie er so rasch wie möglich die anderen Nägel bearbeitete. „Ich bin nie besonders agil gewesen. Ich habe eine sehr angesehene Schule durchlaufen und die Bücher meines Vaters studiert. Mich körperlich zu betätigen, ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, höchstens, wenn ich musste, wie in der Schule. Sobald ich alt genug war, habe ich meinen Vater auf seinen Handelsreisen begleitet. Ich habe viele Orte kennengelernt, viele Menschen. Ergo hatte ich stets adrett auszusehen, eben vorzeigbar. Was meinst du, was ein Handelspartner von meinem Vater gedacht hätte, wenn ich auch nur ein winziges bisschen schäbig gewesen wäre oder gar gestunken hätte vor lauter Schweiß wie ein ranziger Ziegenbock! Wir sind eine uralte und sehr bedeutende Händlerdynastie!“

Loranthus merkte, wie er sich in Rage redete; den Nagel vom kleinen Finger hatte er schon viel zu kurz geschoren. Außerdem schien Viviane nicht besonders überzeugt. Er holte tief Luft und fuhr nun ruhiger fort: „Nun gut, ich merke, dies ist kein triftiger Grund für dich. Du bist wesentlich anders als ich. Noch so jung und trotzdem allem gewachsen. Du bist bestimmt als kleines Kind schon auf Bäume geklettert. Du kannst mir wirklich viel beibringen, Viviane.“ Mit seinem besten Hundeblick schaute er bittend zu ihr auf.

„Na, das Auf-Bäume-Klettern überlasse ich gerne meinen Brüdern, die haben mir das schließlich auch beigebracht.“

„Du hast Brüder?“ Loranthus bekam ganz große Augen. „Ich habe mir auch immer welche gewünscht, aber meine Mutter hat nur mich bekommen und dann ist sie gestorben. Damals war ich gerade elf Jahre. Mein Vater vermisst sie immer noch sehr.“

„Oh weh, das tut mir leid, mein Freund.“ Mitfühlend tätschelte Viviane seinen Arm und zog ihm nebenbei den Nagelschneider aus den Fingern. „Meine Brüder werden dich gern unter ihre Fittiche nehmen. Allerdings befürchte ich, du wirst bald froh sein, keine gehabt zu haben, wenn du so derart ruhig und behütet aufgewachsen bist wie niemand sonst, den ich kenne.“

„Ach, da fällt mir ein …“ Loranthus druckste verlegen herum. „Wie bist du eigentlich so schnell darauf gekommen, dass ich ein Grieche bin?“

„Na, das ist doch klar wie ein Gebirgsbach, ich habe dich gehört. Jemand, der in Griechisch mit sich selbst redet, kann ja schlecht ein anderer sein als ein Grieche, oder? Außerdem …“ Viviane hätte nun sagen können, dass sie Loranthus bereits kannte und ihn für einen harmlosen Händler hielt. Doch sie war sich dessen noch nicht ganz sicher. Sie traute den Römern durchaus zu, auf die Mitleidstour einen Spion bei den Hermunduren einzuschleusen; noch dazu einen echten Griechen, der diese Aufgabe – warum auch immer - bewerkstelligte. Im Hinblick auf den zu erwartenden Krieg zwischen Chatten und Hermunduren wäre das schlichtweg eine geniale Idee, die sie persönlich als ‚leicht durchführbar‘ bezeichnet hätte. Immerhin wäre sie selbst der beste Beweis, wenn es sich so verhielte, denn gestern hatte sie Loranthus bedenkenlos unter ihre Fittiche genommen und heute nahm sie ihn mit nach Hause. Womit sie wieder am Anfang ihrer Gedanken war: Sie traute es Loranthus zwar nicht zu, doch sie vertraute ihm auch nicht wirklich. Es war an der Zeit, ihm ein wenig auf den Zahn zu fühlen, daher zeigte sie in weite Ferne gen Westen. „Außerdem erkennt man es an deiner Wortwahl.“

„An meiner Wortwahl?“

„Ja, Loranthus. Du sagst ‚Galatai‘ oder ‚Keltoi‘, wie schon die alten Griechen vor langer Zeit. Die Römer sagen mittlerweile ‚Germanen‘ zu unsereins. Die sind nämlich an guter Nachbarschaft interessiert, jedenfalls offiziell. Die würden niemals darauf hinweisen, dass wir den gleichen hellen Teint aufweisen wie die Leute in den besiegten Gebieten links vom Rhein oder wir allgemein höher gewachsen sind als die Römer. Das Wort ‚Nachbarn‘ zieht wie von selbst eine Grenze und es hört sich doch viel kleiner an, als das riesige Gebiet der unbesiegten Sueben in Wirklichkeit ist.“ Sie hob in einer resignierenden Geste die Hände. „Tja, als die großen Imperatoren kommen sie mit dieser Einstellung durch. Wer es nicht besser weiß, glaubt alles, was er erzählt bekommt. Der Name der mächtigen Sueben wird verschwinden, wenn wir nicht aufpassen. Du als Grieche weißt ja: Der Sieger schreibt die Geschichte.“

 

Bevor Loranthus einen beleidigten Schmollmund ziehen konnte, packte sie ihn an den Schultern und rüttelte kräftig. „Ist doch egal, mein Freund! Was zählt, ist hier und jetzt! Und nun komm, wir gehen zurück zu Hanibu. Sie macht sich bestimmt große Sorgen.

Obwohl …“

Sie schaute zum Bach und schnippte mit den Fingern.

„Zuerst pflücke ich noch Sauerklee, Wasserminze und Brunnenkresse. Das wächst hier so schön üppig, das kommt mir sehr gelegen. Und du …“ Mit großer Geste zeigte sie auf eine blickdichte Stelle im Birkenhain und befahl: „Du kümmerst dich derweil um deine Wunden. Und zwar hurtig, hurtig.“

Artig trabte Loranthus in die angegebene Richtung und übersprang den Bach wieder mit Leichtigkeit. Viviane begutachtete seine Rückansicht und fand es sehr aufschlussreich, wie geschickt er auf den Zehen trippelte und mit den Armen die Balance hielt – wahrscheinlich gab es in seiner Schule keine dazu passende Disziplin, sonst hätte er sich doch körperlich betätigt. Grinsend drehte sie sich in die andere Richtung, zog ihr Hemd unter dem Gürtel hervor und nahm es vorne zusammen. Bis Loranthus zurückkam, hatte sie schon alle Kräuter in der Hemdtasche untergebracht. Neugierig warf er einen Blick hinein.

„Was kann man mit dem Grünzeug machen?“

„Erstmal Essen.“ Grinsend marschierte Viviane los.

Loranthus folgte ein wenig zögerlich. Er machte sich keine Sorgen wegen der Wildsau – sie gingen in die andere Richtung – aber dieses teilweise recht nasse Grünzeug machte doch einen fragwürdigen Eindruck auf ihn. Jetzt warf sie auch noch mit wachsender Begeisterung kleine weiße Blümchen hinein und versicherte diesen, wie gut sie schmecken würden. Erst Pferde, jetzt Blumen! Den ganzen Weg überlegte er, was ihr im Kopf herumging und wie er um die Mahlzeit drum herumkommen könnte, ohne Viviane vor selbigen zu stoßen. Zum Glück war der Weg recht lang, weil sie das Revier der Sau meiden mussten und so von der gegenüberliegenden Seite auf die Wiese kamen.

Und hier, am Waldrand, bot sich ihm ein Anblick, der sämtliche anderen Gedanken in den Schatten stellte: Hanibu stand neben Dina, hatte ihnen den Rücken zugedreht und starrte wie gebannt auf die Stelle am Waldrand, an der er vorhin verschwunden war.

Viviane tippte Loranthus auf die Schulter und gestikulierte: Heranschleichen wäre ungünstig und durch die Wiese trampeln kaum möglich – so oder so hätte sich Hanibu erschreckt. Darum riefen sie schon von Weitem ihren Namen.

Mit einem glücklichen Aufschrei ließ Hanibu die Zügel los, breitete die Arme aus und rannte ihnen entgegen. Schluchzend umklammerte sie die beiden und wollte gar nicht mehr loslassen; Viviane musste aufpassen, damit ihr nichts aus der Hemdtasche fiel, während Loranthus zu viel Schwung holte, um Hanibus Kopf zu tätscheln. Er stellte sich recht unbeholfen an, doch er schien ehrlich gerührt. Fürsorglich nahm er seine Sklavin am Arm und führte sie zu den Pferden zurück. Als sie ankamen, hatte Viviane längst ihren Mantel ausgebreitet, ein Tuch darübergeworfen und ein Brot sowie Sauerklee und Gänseblümchen in zwei Haufen darauf drapiert. Gerade zog sie die gut sitzenden Deckel von zwei Holznäpfchen ab.

„So, da haben wir auch Butter und Salz, alles Geschenke von unserer guten Wirtin. Setzt euch, wir haben uns eine Stärkung verdient.“

Mit ihrem Messer schnitt sie dicke Scheiben vom Brot herunter, bestrich sie großzügig mit Butter und legte alle der Reihe nach vor sich auf das Tuch. Loranthus wollte schon zugreifen, doch sie hob mahnend den Finger und er zuckte vor ihrem Messer zurück.

„Keine Bange, Loranthus, mein Freund, du musst dich nur noch ein wenig gedulden. Jetzt kommt doch erst das Wichtigste.“

Sie nahm ein Bündel Brunnenkresse in die Linke, schnippelte mit dem Messer kleine Stückchen über die Brote und streute Salz aus dem Näpfchen darüber. Nun machte sie eine einladende Handbewegung.

Misstrauisch beäugten die zwei Auswärtigen ihre Kochkünste, nahmen aber jeder ein Brot. Viviane kaute schon längst genüsslich und strahlte, als beide nach dem ersten Bissen große Augen machten.

„Das schmeckt ja wunderbar“, lobte Loranthus und sicherte sich gleich noch eine zweite Scheibe.

„Ich habe gehofft, es würde euch schmecken. Außerdem reinigt es das Blut und gibt neuen Schwung. Probiert ruhig auch den Sauerklee und die Gänseblümchen. Die Wasserminze kann ich euch leider nicht anbieten, die habe ich für andere Zwecke vorgesehen.“

Nach dem Essen ließ Viviane ihr Trinkhorn herumgehen.

Hanibu sah verdutzt auf. „Das schmeckt ja ganz anders als vorhin!“

Viviane feixte. „Loranthus hat eine verwunschene Lichtung entdeckt. Dort fließt ein kleiner Kieselbach. Wasser ist eben nicht gleich Wasser. Dieses hier hat vielleicht eine heilsame Wirkung auf Haut und Nägel.“

Hanibu wurde ernst. „Wie hast du ihn vor der Wildsau gerettet?“

Loranthus lachte laut auf und erzählte seine unheimliche Begegnung, als wäre es ein lustiges Abenteuer gewesen. Nebenbei schob er sich alles in den Mund, was seine Finger erwischen konnten.

Hanibu starrte ihn mit großen Augen an. „Und die Sau ist ganz von allein wieder weggelaufen? Verstehe ich nicht.“

„Sie hatte wohl keine Lust zu warten, bis ich herunterfalle.“

Viviane saß etwas versetzt hinter Loranthus und schnitt Grimassen, damit Hanibu nicht weiter fragte. Zur Sicherheit drückte sie die Deckel auf die Näpfchen, schüttelte ein paar Krümel vom Brottuch und sagte: „So, eine milde Gabe für die kleinen Freunde. Wir reiten weiter. Bald sind wir an der nächsten Furt und zum Mittag sind wir zu Hause.“

„Was gibt es denn bei euch zum Mittag?“ Loranthus hatte es plötzlich enorm eilig, auf Arions Rücken zu kommen, er brauchte nicht mal Hilfe.