Die weise Schlange

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Langsame und schnelle Gegner

Warme Sonnenstrahlen streichelten Hanibus Gesicht und zauberten ein zufriedenes Lächeln darauf.

Viviane musste unwillkürlich selbst lächeln. Sie lag schon eine geraume Zeit wach und bewunderte Hanibus ebenmäßige Züge, die hohen Wangenknochen, die kleine Stupsnase … die dunkelbraune Haut bekam durch die Sonne einen wunderbaren Schimmer, fast wie Perlmutt.

„Ich habe gerade von meinen zwei großen Brüdern geträumt“, seufzte Hanibu und gähnte ausgiebig. „Als Kinder haben wir oft Karthager gegen Römer gespielt. Ich war immer der Römer und wurde gefesselt. Was habe ich mich geärgert! Doch als ich älter war, habe ich mich aus den Stricken befreien können. Sie mussten mich jedes Mal einfangen.

Ich bin ein guter Läufer.“ Hanibu feixte und schaute durch das offene Fenster in die Sonne. Abrupt wurde ihre Miene traurig, sie presste die Lippen aufeinander.

Viviane dachte an ihre Brüder. Diese wilde Horde niemals wiederzusehen … Sie drückte Hanibu fest an sich und trällerte forsch: „Wer weiß schon, was die Zeit noch bringt! Eines Tages siehst du sie wieder und bis dahin, schicke ihnen deine Grüße mit Sonne, Mond und Sternen oder mit dem Wind! So, und jetzt fort mit allem, was drückt! Auf zum Abort!“

Nahe am Fluss zu leben, war ungemein praktisch. Man musste bloß einen Kanal aus Ton bauen, schon konnte man das Wasser umleiten, um seine Notdurft zu verrichten und sauber abzuleiten. Wer auch immer diese geniale Idee gehabt hatte – Viviane bedankte sich aufrichtig bei ihm; bei dem, der das Holzhäuschen darüber gesetzt hatte natürlich auch.

Es gab sogar zwei bequeme Holzsitze, so konnte man ein wenig plaudern.

Am Fluss hängten sie ihre Kleidung an eine sehr praktisch stehende Weide. Dann wuschen sie sich mit der Rosenseife von gestern, nur nicht so ausgiebig, und Hanibu lernte unter großen Mühen das Wort ‚Katzenwäsche‘. Nachsprechen konnte sie es schnell, es zu begreifen fiel ihr allerdings schwer, bis sie zufällig eine Katze entdeckte, die sich putzte. Kichernd trockneten sie sich mit den feinen Leintüchern ab.

Danach kämmte sich Viviane mit einem schön geschnitzten Holzkamm und zog exakt sechs Haare aus ihren üppigen Wellen. Nachdenklich betrachtete sie die spärliche Ausbeute.

Was war bloß mit ihr los? Wenn das so weiter ging, müsste sie für die Zahnpflege bald auf dünne Fäden zurückgreifen wie alle anderen, deren Haare dafür zu kurz oder zu schwach waren, oder sie müsste Haselnussgerten zurechtschneiden, um sich zwischen den Zähnen zu bohren.

Viviane zuckte mit den Schultern. Die Haare im Kamm waren zwar rar, aber dafür lang und kräftig. Sie gab Hanibu die Hälfte ab und zeigte ihr noch einmal, wie man sie zwirbeln musste, um ein prima Zahnseil zu erhalten. Hanibu hatte bereits am gestrigen Abend aufgepasst und zwirbelte geschickt drauflos; sie wusste auch noch, wie sie mithilfe eines winzigen Wolllappens die Zähne polieren sollte. Viviane hatte sogar einen neuen Putzlappen für Hanibu übrig und erklärte leichthin, solcher Kleinkram gehörte zur Grundausstattung eines jeden reisenden Hermunduren. Alte Lappen wurden stets ordentlich gewaschen und getrocknet, bevor sie wieder in die Gürteltasche für Waschzeug durften. Mundhygiene war sehr wichtig. Schlechter Atem war sogar ein Scheidungsgrund.

Hanibu wollte das kaum glauben, doch Viviane meinte es vollkommen ernst und beim Wetzen ihrer hintersten Backenzähne fiel ihr ein, dass sie es gestern Abend schlichtweg vergessen hatte – nicht das Zähneputzen, oh nein, das vergaß sie nie; den ultimativen Scheidungsgrund hatte sie außer Acht gelassen. Das musste sie schleunigst nachholen.

Viviane knickte einen Schilfhalm ab, schob mit dessen Hilfe den dichten Schilfbewuchs auseinander und spähte über den Fluss zu dem kleinen Häuschen. Hanibu begann, ihre Zähne ein zweites Mal zu polieren; sie wetzte, bis es quietschte, und schaute mit durch die Lücke.

Gleich neben dem Häuschen legte gerade die Fähre ab, voller Bauern, die wohl auf dieser Seite des Flusses die Felder bestellen wollten. Es war faszinierend, wie ein so breites und flaches Boot schwer beladen und trotzdem sicher über das Wasser gleiten konnte, wie es ihrer Badestelle immer näher kam. Zum Glück konnte von der Fähre aus niemand sehen, wie sie hier im Wasser standen, die eine mit nachdenklich geschürzten Lippen, die andere mit einem Lappen im aufgesperrten Rachen – ein dichter Schilfgürtel war eben ein prima Sichtschutz.

Abrupt wurde ihre Aufmerksamkeit zur Landseite gelenkt. Viviane und Hanibu rissen die Köpfe samt Putzlappen herum.

Loranthus und Angus steuerten gut gelaunt die Badestelle für Männer an, man hörte sie schon von Weitem.

Ohne lange nachzudenken, gab Viviane ihren Spähposten ‚Fähre‘ auf, bog ein Stück weiter die nächsten Halme auseinander und winkte Hanibu zu sich. Kopf an Kopf lugten sie durch den Spalt. Sie staunten beide nicht schlecht.

Gemächlich schlenderte Loranthus über die Wiese, die Daumen eingehakt in einem Ledergürtel, auf dessen Gürtelschnalle ein Stier eingraviert war; selbst auf den Gürteltaschen rechts und links war dieser Stier zu sehen, hier jedoch ins Leder gepunzt. Dazu trug er ein hellbraunes Hemd, eine gelb-grün karierte Hose und kniehohe Stulpenstiefel aus weichem Leder. Die Kleidung musste von Angus sein, denn er hatte eine ähnliche Statur, wenngleich er auch viel muskulöser war. Loranthus wusste wahrscheinlich gar nicht, wo sich seine Muskeln versteckten, trotzdem konnte er jetzt als Einheimischer durchgehen – falls er seinen Mund hielt. Eine Gans, die zu schnattern aufhörte, war allerdings wahrscheinlicher.

Viviane und Hanibu kicherten, denn gerade in diesem Moment hörte eine Gans mit dem Schnattern auf. Mit weit ausgebreiteten Flügeln zischte sie aus dem Uferschilf heraus, sie war eindeutig im Angriffsmodus. Loranthus hüpfte ängstlich hinter Angus, der kramte hastig in einer Gürteltasche und warf ein paar Brotkrümel. Besänftigt ließ sich die Gans wieder auf ihrem Nest nieder und Angus bedeutete seinem Hintermann, er habe nun kein Brot mehr, um ihn noch einmal zu retten. Loranthus sah jedoch kaum hin, er hielt die Nase in den Wind und schnupperte, dann komplimentierte er Angus ziemlich hastig im großen Bogen um den Brutplatz herum zur Badestelle der Männer.

Viviane und Hanibu wussten genau, warum er es mit dem Waschen plötzlich so eilig hatte. Vom Gasthaus wehte ein herrlicher Duft nach geröstetem Brot herüber. Verschmitzt grinsten sie sich an: Wie gut, dass sie längst sauber waren und ihre Kleidung griffbereit.

Genüsslich strichen sie Butter auf ihre warmen Brotscheiben und sahen zu, wie diese einsickerte, bevor sie Hagebuttenmarmelade daraufgaben und hineinbissen. Sie schafften es sogar noch, eine Schale Haferbrei mit getrockneten Apfelstücken und einen Becher Ziegenmilch zu leeren, bevor Loranthus ins Gasthaus stürmte, dicht gefolgt von Angus und Markus.

Wider Erwarten fiel Loranthus nicht sofort über das Essen her, sondern bedankte sich bei Markus und hängte einen dicken braunen Mantel an der Kapuze auf. Danach beäugte er die Getränke: Ziegenmilch in einem Holzkrug und frisch gerösteter Eichelsud in einer schwarzen Karaffe. Diese war mit einem tiefgehenden Relief aus Spiralen und einem Deckel aus Silber versehen, auf dem wiederum die Figur eines aufsteigenden Adlers, ebenfalls aus Silber, prangte.

„Das ist ja ein Meisterstück von einer Karaffe“, schwärmte Loranthus und seine Augen bekamen einen seltsamen Glanz. Begeistert klappte er den Deckel auf, schnupperte genüsslich und klappte ihn wieder zu. „Und dieser schwarze Ton erst noch! Die Farbe kommt von Grafit, das man dem Ton beimischt“, erklärte er den Anwesenden, die allesamt nickten, weil sie die Münder voll hatten. „Grafit macht Getöpfertes bruchsicher.

Selbst das tiefe Relief tut dem keinen Abbruch.“

Achtung heischend hielt er die Karaffe in die Höhe, damit alle gut sehen konnten. Er kam gar nicht auf den Gedanken, dass sich die Anwesenden mindestens genauso gut mit Töpferwaren auskannten wie er oder sich die Becher mit heißem Eichelsud füllen wollten. Nein, er fuhr die Rillen der vielen eingeritzten Spiralen mit dem Zeigefinger nach und wirkte fast wie hypnotisiert, bis sein Finger auf dem silbernen Deckel anlangte und über den kleinen Adler strich.

„Bei den Chimären, wie konnte ich das übersehen! Der hat ja Löwentatzen und einen Löwenschwanz!“ Ungläubig tippte er auf die Schwanzquaste.

„Daran musst du dich hierzulande gewöhnen, wir haben unseren eigenen Sinn für Kunst“, riet ihm Markus zwischen zwei Löffeln voll süßem Brei. „Kunst kommt von Können und wenn einer das Kunsthandwerk beherrscht, dann sind wir das.“

„Das kannst du glauben“, tönte der Wirt und warf sich so stolz in die Brust, als hätte er höchstpersönlich für den Adlerlöwen Model gestanden. „Er hat übrigens auch eine Löwenmähne, schau genau hin.“

Viviane butterte ihre dritte Scheibe Brot und nickte in Richtung der Burg.

„Die Karaffe ist nicht nur Kunsthandwerk, sie hat auch symbolischen Wert. Vor einiger Zeit haben sich zwei große Königshäuser vereint, das eine mit einem Löwen als Wappentier, das andere mit einem Adler. Seitdem ist dieser Adlerlöwe das Symbol von Aodhrix. Sein Clan wählt ihn jedes Jahr aufs Neue zum König, einstimmig wohlgemerkt. Er hat einfach alles, was ein guter König braucht.“

„Ach. Was braucht man denn so alles, wenn man König sein will in deinem Land?“

Viviane sah Loranthus geheimnisvoll an.

„Wissen, Weisheit und Gedenken.“

„Interessant.“ Loranthus nickte verständnisvoll – jedenfalls hatte er akustisch alles verstanden. Aber deshalb war er ja hier, um dieses rätselhafte Land zu erkunden. Sein Vater hatte allerdings keine Ratespiele im sprichwörtlichen Sinne gemeint, oder? So oder so, er musste sich erst einmal stärken. Gierig fiel er über alles her, was auf dem Tisch stand.

 

Viviane und Hanibu staunten, wie schnell er ihren Vorsprung wettmachte.

Gerade schaufelte er den dritten Nachschlag Haferbrei mit Apfelstücken in sich hinein, da deckte der Wirt den Nebentisch.

Neugierig reckte Loranthus den Hals und überlegte, was es wohl noch zu essen gäbe, auch wenn er ja eigentlich satt war – prompt verfehlte der Löffel seinen Mund und er musste hastig zuschnappen, um den süßen Brei noch zu erwischen – eine körperliche Meisterleistung, denn seine Augen ließ er nicht vom Nachbartisch.

Dort gab es zwar nichts zu essen, aber eine Auswahl an Schreibzeug – Loranthus wusste gar nicht, wie ihm geschah.

„So viele Schreibutensilien“, seufzte er glücklich und nun hielt ihn nichts mehr auf seinem Platz. Wie ein Adler stürzte er sich auf seine Beute – nein, eher wie ein Geier, schließlich war die Beute schon tot. „Pergament in drei verschiedenen Stärken und Farbnuancen! Ich fasse es nicht! Mit Punkten, mit gepunkteten Linien, ohne Punkte …“ Prüfend hielt er sämtliche Pergamentblätter der Reihe nach in die Höhe. „Beste Qualität und akkurat zugeschnitten. Sehr fein. Und diese Schreibgriffel erst noch! Dermaßen spitz!“

Fast ehrfürchtig griff er nach den Schreibgriffeln und besah sie sich genauer.

Der erste war ein dünnes Schilfrohr mit einer angeschrägten Seite.

„Damit kann man durchaus ordentlich schreiben.“

Der zweite war ein dünnes Kupferrohr, eine Seite ebenfalls schräg zugespitzt.

„Damit kann man noch besser schreiben!“

Der dritte war ein schlankes Röhrchen aus Silber und so spitz zulaufend, dass man damit nicht nur winzig klein schreiben konnte – man konnte es auch bewundern, denn es war von einem hauchdünnen, in sich selbst gewundenen Silberdraht umflochten.

„Das ist ja ein Kunstwerk, ein Meisterstück! Solch filigranes Schmuckwerk auf einem Schreibgriffel habe ich noch nie gesehen! Und er liegt prima in der Hand!“ Begeistert wirbelte er den Griffel mit den Fingern durch die Luft. „Oh, und diese hübschen bauchigen Tonfässchen!“ Ohne den silbernen Griffel aus der Hand zu legen, zog er die knubbeligen Holzpfropfen aus den Fässchen und lugte hinein. „Aha. Eines mit roter und eines mit schwarzer Tinte. Wieso?“

Fragend sah Loranthus in die Runde.

„Ist das in deiner Heimat nicht so?“, fragte der Wirt. „Die rote Tinte ist für die Ausgaben, die schwarze für die Einnahmen. Das gilt bei uns überall, nicht nur in Gasthäusern. Alle führen auf diese Weise ihre Finanzen; natürlich ist es am besten, wenn die schwarzen Zahlen größer sind als die roten.“

„Und ich dachte …“ Loranthus schob die Unterlippe vor, klemmte den Griffel zwischen kleinen Finger und Ringfinger und sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. Unschlüssig zuckten seine Augen zwischen den Tonfässchen hin und her.

„Wenn du nur schreiben willst, ist es natürlich egal, welche Farbe du nimmst“, versicherte der Wirt und machte eine einladende Handbewegung. „Ich habe von beiden genug. Suche dir einfach aus, was du brauchst, ich mache dir einen guten Preis und setze es mit auf die Rechnung.“

„Hast du noch mehr von diesem Honigfarbenen ohne Punkte?“ Loranthus hielt das dünnste Pergament hoch und strich fast liebevoll darüber.

„Ja, aber das ist fünfmal teurer als die anderen beiden zusammen.“

„Mir egal, diese Zeche bezahle ich gerne.“ Loranthus streichelte seinen Bauch. „Ich nehme alles, was du entbehren kannst und dieses Kunstwerk noch dazu.“ Strahlend wirbelte er den silbernen Griffel um die Finger, warf ihn von einer Hand in die andere und freute sich, wie hoch er fliegen konnte. „Und die Tinte nicht vergessen! Bitte auch so viel, wie du entbehren kannst, beide Farben, wenn möglich.“

Der Wirt eilte davon, alle anderen starrten auf Loranthus, der so zufrieden wirkte wie ein Kater, der eine besonders fette Maus gefressen hatte; vielleicht hätte der sich auch so den Bauch getätschelt. Rasch stopfte er sich seinen restlichen Brei in den Mund, kippte zwei Becher heißen Eichelsud hinterher und konnte sich nun voll und ganz um seine Belange kümmern.

Als der Wirt mit einem kleinen Stapel Pergamentblätter und vier Tintenfässchen zurückkam, war Loranthus schon eifrig mit dem Bericht für seinen Vater beschäftigt. Die Stirn gerunzelt und die Zunge zwischen den Zähnen, verschönerte er das honigfarbene Pergament mit griechischen Zeichen in roter Farbe.

Keiner konnte sein Geschreibsel lesen, was nicht unbedingt an der Entfernung, in der sie zu ihm saßen, sondern eher an der Geheimschrift lag, die er verwendete. Dennoch beobachteten ihn alle neugierig und überlegten, was er wohl schrieb, bis er laut mit der Zunge schnalzte und den Griffel resolut weglegte. Gerade hatte er sich selbst die Frage, ob er seinen Vater um neue Dokumente bitten sollte, mit ‚Nein‘ beantwortet und war nun früher fertig als gedacht. Sanft blies er über sein Geschriebenes und nickte zufrieden. Wozu sich eine Blöße geben? Bei seinen Beziehungen konnte er sich auf dem Heimweg in jeder römischen Schreibstube neue Dokumente ausstellen lassen.

Geschäftig griff er nach Kerze, Siegelwachs und seinem rechten Mittelfinger, doch an dem war kein Siegelring mehr.

„Nun, es wird auch anders gehen.“ Er gluckste, blies noch einmal über das Pergament und faltete gut gelaunt die Ecken übereinander.

Er war gerade dabei, einen dicken Klecks Wachs mit einer großen Goldmünze breit zu drücken, als die Tür aufging und ein Junge von vielleicht zwölf Jahren hereinkam. Seine hellbraunen Haare waren zu einem langen Zopf geflochten und sein schmächtiger Körper steckte in hellbrauner Arbeitskleidung, die, etwas zu groß, an ihm herumschlackerte.

Nachdem er die Wirtsleute liebevoll umarmt hatte, trat er an den Gästetisch und grüßte fröhlich in die Runde.

„Guten Morgen, ihr lieben Leute! Die Fähre ist sogleich bereit. Ich helfe euch gerne mit dem Gepäck.“

Automatisch grüßten alle strahlend zurück und Viviane verstand, warum die Wirtin derart von ihrem Neffen geschwärmt hatte. Sein freundliches Lächeln wirkte wahrhaftig wie eine Sonne am wolkenlosen Himmel und seine graublauen Augen verrieten eine Intelligenz, die ihresgleichen suchte. Obwohl seine Arme recht dünn waren, zeichneten sich unter dem Hemd starke Sehnen ab.

Leider war Viviane noch etwas aufgefallen: An seinem Hals befanden sich rot-violette Streifen, eindeutig Würgemale, noch dazu nahe am Kehlkopf; sie konnte sogar die Fingerabdrücke erkennen, die den Bluterguss verursacht hatten. Wie beiläufig zog er sein Hemd ein Stück höher und im Hinausgehen wollte er wohl auch verbergen, dass sein linkes Bein beim Auftreten schmerzte, doch ihrem geübten Blick entging nicht, wie er humpelte.

Die Wirtin brachte Loranthus noch seine und Hanibus frisch gewaschene Kleider und er streckte eine goldene Drachme in die Höhe, die Münze, die er statt seines Siegelrings benutzt hatte.

„Das ist eine Sonderprägung. Pures Gold wohlgemerkt. Ein alter ‚Ptolemaios der Dritte‘. Über zweihundert Jahre in Familienbesitz. Total wertvoll. Ein echtes Sammlerstück. Seht mal, wie schön sie funkelt!“

Loranthus fuchtelte mit der Goldmünze, die blitzte und blinkte, sodass jeder im Raum sofort wissen wollte, wie dieser ‚Ptolemaios der Dritte‘ wohl ausgesehen hatte. Mit großer Geste winkte Loranthus sämtliche Bewunderer heran und hielt tatsächlich die Münze still.

„Das ist doch viel zu viel“, jammerte der Wirt und raufte sich die langen Haare zur roten Löwenmähne. „Wie soll ich das bloß wechseln?!“

„Ach.“ Loranthus winkte gönnerhaft ab. „Gib mir einfach hiesige Stater. Hauptsache, es sind schöne Prägungen, ich sammle nämlich Währungen.“ Zur Demonstration schüttelte er seine rechte neu erworbene Gürteltasche, in der es fröhlich klingelte. Offenkundig hatte er bereits bei seinen anderen Geschäften mit Angus und Markus viel Wechselgeld erhalten. Die beiden nickten jedenfalls wie zur Bestätigung, und Markus wuchs regelrecht in die Höhe, als er Loranthus’ Brief entgegennahm.

„Der Handel gilt“, jauchzte der Wirt und kramte eifrig in seiner eigenen Gürteltasche nach einem Vollstater, bis ihm bewusst wurde, dass er gerade schüsselförmiges Gold gegen plattes Gold tauschen wollte – Loranthus hatte ihn mit seinem Gerede von der Sonderprägung ein wenig zu freigiebig gemacht. Schnell steckte er die große Goldmünze wieder weg und kramte nach Silber und Bronzemünzen, wobei sein Blick den seiner Frau traf.

„Ach, weil du so ein guter Gast bist und ich deine hübschen Begleiterinnen vielleicht sonst nie getroffen hätte …“ Der Wirt lächelte Hanibu an und verneigte sich tief vor Viviane. „… hast du hier noch einen Viertelstater und einen Vierundzwanzigstelstater extra dazu, lauter hübsche Prägungen, die dürften dir gefallen.“

Da es nun wieder etwas Neues zu sehen gab, scharten sich alle Neugierigen erneut um Loranthus.

Viviane wusste natürlich, wie die kleineren Stater aussahen, denn sie hatte insgeheim schon für sich selbst die Zeche bezahlt, und zwar mit denselben Statern, die nun in die griechischen Hände weiterwanderten. Schmunzelnd nahm sie die Hände der Wirtin in ihre und flüsterte: „Alles Gute wünsche ich euch und ein fröhliches, weiches Beltane.“

„Deinen Namen werde ich mir merken, Viviane, vielleicht brauche ich ihn eines Tages“, flüsterte die Wirtin verschwörerisch zurück.

Viviane grinste verschmitzt und hob die Hand zum Abschiedsgruß.

In Windeseile waren ihre Pferde reisefertig und standen nun als Erste auf den dicken Eichenbohlen der Fähre. Viviane freute sich über den staunenden Blick von Loranthus, als darauf auch die großen Fuhrwerke der Händler noch genug Platz fanden. Mit sicherer Hand machte der Junge die Taue los und stieß die Fähre ab. Viviane winkte ein letztes Mal in Richtung der Wirtsleute, dann schlenderte sie zu ihm hinüber.

„Deine Tante hat gesagt, dein Stiefvater würde die Fähre führen. Ich sehe ihn jedoch nirgendwo.“

Der Junge schnaubte verächtlich und schaute zu ihr hoch. „Der schläft da drüben unter der großen Weide seinen Rausch aus.“ Er hob den rechten Arm, zuckte zusammen und zeigte leicht verzögert auf einen Baum, der am gegenüberliegenden Ufer nahe der Anlegestelle stand.

Viviane überlegte, wie viele Schritte sie wohl vom Bootssteg bis zur Weide brauchen würde, vielleicht neunzehn oder zwanzig, höchstens zwei Dutzend. Sie konnte erahnen, wie der Junge hinter ihrem Rücken seinen rechten Arm vorsichtig an sich drückte. Ruhig drehte sie sich zu ihm um und schaute in sein verbissenes Gesicht. Sie musste sich ein wenig bücken, denn er war fast zwei Köpfe kleiner als sie.

„Wie ist dein Name?“

„Ich bin Usheen.“

„Usheen, sehr fein. Wenn du es einmal leid bist, kleines Hirschkalb, die Arbeit für einen Trunkenbold zu erledigen, kannst du eine Lehre in meinem Clan machen, im Clan des edlen Cernunnos. Unsere Gegend würde dir bestimmt gefallen. Auf dem Dietrichsberg befindet sich die beste Schule für Eisengießer und Schmiede weit und breit. Wir haben auch noch mehr Handwerkskunst zu bieten.“

„Das sehe ich!“ Usheen strahlte Viviane an. Begeistert zeigte er auf ihre Schuhe und ihre großen Ledertaschen.

„Wir sehen uns bestimmt zu Lugnasad. Bis dahin überlege ruhig mal. Alt genug bist du ja schon, denke ich.“

„Ich werde morgen zwölf Jahre.“ Stolz machte er sich gleich größer.

„Das passt ja wunderbar. Möchtest du beim Anlegen meine Stute halten? Sie heißt Dina und ist eine ganz liebe Freundin von mir. Ich müsste nämlich zuerst mit meinem Hengst ans Ufer. Er heißt Arion, und manchmal gebärdet er sich ein bisschen toll; nicht aus Bosheit, oh nein, aber er kann ganz schön bocken. Natürlich bekomme ich ihn stets gebändigt, jedoch sollten sich andere Leute keinesfalls in seine Nähe wagen. Keinesfalls, verstehst du?“

„Dein Hengst hat Allüren? Wirklich? Das hätte ich nicht gedacht.“

Zweifelnd sah Usheen zu Arion hinüber, der ganz ruhig dastand, als wäre er die Seefahrt gewöhnt. Allerdings war es wirklich nicht ratsam, einen Tritt von seinen langen Beinen abzubekommen. Die Aussicht, die Stute halten zu dürfen, war dagegen sehr verlockend; sie machte einen äußerst braven und wohlerzogenen Eindruck.

Freudig willigte Usheen ein und zeigte wieder sein Sonnenscheinlächeln.

Viviane lächelte zurück, ging um Dina herum und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die Stute schnaubte, als würde sie antworten, und bekam prompt die lange silberne Mähne gestreichelt. Viviane nickte Usheen noch einmal dankend zu und stellte sich neben Arion.

 

Auch ihm raunte sie ins Ohr. Es sah beinahe so aus, als würde sie dem Hengst etwas erklären, fand Usheen, denn sie zeigte auf seinen Stiefvater neben der Weide und taumelte dabei nach links und rechts, dabei war die Werra heute ganz ruhig.

Der Hengst beobachtete sie sehr genau und – nickte?

Für einen Moment tauchte ein verschlagenes Grinsen in seinem Pferdegesicht auf. Usheen blinzelte heftig, Viviane hatte ihm eindeutig den Kopf verdreht. Seine Arbeit litt jedoch nicht darunter. Im Gegenteil, er wollte ihr beweisen, wie gut er sich als Fährmann machte. Besonders das Anlegen beherrschte er wie kein Zweiter, auch wenn ihm der rechte Arm mächtig wehtat. Mit flinken Fingern schlang Usheen die Halteleinen um die dicken Eichenpfosten und huschte hinüber zu Dina.

Viviane bedankte sich bei ihm mit einem hinreißenden Lächeln und führte Arion über den Anlegesteg; bereitwillig ging er neben ihr her, ohne das geringste Bocken. Am Ufer angekommen, sahen beide zurück, Viviane hob die Hand und schwenkte sie ein Stück herum.

Usheen wollte gerade den Gruß erwidern, da stellte sich Dina auf der Fähre quer und er wurde von ihr mitgezerrt. Doch niemand interessierte sich dafür, ob Dina nun den Ausgang blockierte. Die Männer schienen noch nicht einmal bemerkt zu haben, dass sie am anderen Ufer angelangt waren. Wie gebannt starrten sie allesamt auf Hanibu, die redete, mit ihren Armen seltsame Wellenbewegungen machte und ihre Hüften kreisen ließ. Anscheinend erzählte sie etwas sehr Spannendes und niemand dachte ans Aussteigen. Fahrgäste für die Rückfahrt waren auch nicht in Sicht. Usheen zuckte mit den Schultern. Er war es gewohnt zu warten. Umso besser konnte er nun Viviane hinterherschauen.

Entspannt ging sie vor ihrem großen Hengst her. Ja, beide schlenderten gemütlich über die Wiese Richtung Weidenbaum, als ob nun keinerlei Gefahr mehr drohte, kein Bocken, keine tollen Allüren …

Keine Gefahr? Was dachte er sich eigentlich?! In sieben, acht Schritten waren sie an der Weide! Usheen schlug sich die Hand vor die Stirn und riss den Mund auf. Am liebsten hätte er gebrüllt, das sei der falsche Weg, Viviane solle einen weiten Bogen machen, solle sich keinesfalls in die Nähe der Weide wagen, aber er wollte seinen Stiefvater nicht wecken. Der war noch viel gefährlicher als ein bockendes Pferd, zumal er mit Lang- und Kurzschwert bewaffnet war.

Unbewusst duckte sich Usheen hinter Dina und hoffte inständig, seine neue Freundin würde leise an der Weide vorbeischleichen; gleichzeitig beschlich ihn ein ungutes Gefühl – er verstand nicht, wieso sie sich zu ihrer vollen Größe aufrichtete und sogar den Hals reckte.

Viviane betastete ihre torqueslosen Hals und musterte den schlafenden Mann höchst aufmerksam.

Vor Jahren musste er einmal sehr stark und gut aussehend gewesen sein, doch jetzt war sein Gesicht aufgedunsen und seine Muskeln waren einer dicken Fettschicht gewichen. Das einzig Brauchbare an ihm waren seine beiden Schwerter, doch die würden ihm nicht viel nützen, da ihm mit jedem Schnarcher auch ein schaler Geruch entwich – halb verdauter Met. Es war einfach widerlich.

Am liebsten hätte Viviane die Luft angehalten, doch sie war bis auf sieben Schritte herangekommen, um etwas Besseres zu tun.

Leicht zupfte sie am Halfter und wirbelte ihren rechten Zeigefinger mit Schwung aufwärts – die Aufforderung zum ‚wilden Hengst‘, Arions Lieblingsspiel. Er spitzte sogleich die Ohren und stellte sich auf die Hinterbeine. Je mehr sie mit dem Finger dirigierte, desto mehr trat er mit den Vorderbeinen durch die Luft.

Grinsend tänzelte Viviane rückwärts und Arion steigerte sich zu Höchstleistungen, denn wenn sie hüpfen konnte, dann konnte er das schon lange. Beide hatten mächtig viel Spaß. Unter lautem Wiehern näherten sie sich dem Schläfer an der Weide.

Bei diesem Lärm drehten sich die Männer auf der Fähre nun doch um und erstarrten vor Schreck. Angus bewegte sich als Erster.

Fluchend sprang er zu Dina, packte ihr Halfter und wollte sie aus dem Weg zerren, doch es ging nicht. Die anderen kamen ihm zu Hilfe und zogen, schoben, drückten – Dina war stärker. Angus wollte unter ihr durch – Dina war schlauer. Sie konnte prima auf zwei bis drei Beinen die Stellung halten und zugleich ausschlagen, zuschnappen, mit dem Schweif peitschen und böse starren – Angus konterte mit Schimpfwörtern, die jedes standhafte Schlachtross beleidigt hätten, und starrte noch bockiger zurück.

Usheen fühlte sich genötigt, den Blick von Viviane zu lösen und beschwichtigend auf Angus einzureden, der nun todesmutig auf Dina klettern wollte – nur so konnte man an dieser „Furie von einer Mähre!“ vorbeikommen. Markus hatte gefälligst beim Aufsteigen zu helfen und wusste nicht, vor wem er mehr Angst haben sollte: Dina oder Angus.

Durch Zufall sah Viviane Angus’ gebleckte Zähne und hätte beinahe laut losgelacht, doch sie wollte Arion nicht durcheinanderbringen; sie war sich durchaus bewusst, was sie hier für ein gefährliches Spiel trieb. Diese speziellen Kunststücke hatte sie ihm nicht selbst beigebracht, die waren inklusive gewesen, als sie Arion geschenkt bekommen hatte.

„Brav, mein Großer, brav“, redete sie ruhig auf ihn ein. „Nun ist es gut. Komm wieder runter und … Schluuuss.“

Alle auf der Fähre seufzten erleichtert, als Arion gehorsam die Vorderbeine aufstellte, doch schon mussten sie wieder scharf Luft holen.

Arion stand zwar mit allen vieren auf der Wiese und war ruhig, aber nun taumelte Viviane rückwärts. Anscheinend hatte er sie angerempelt – ob mit Absicht oder aus Versehen, hatte keiner gesehen. Fakt war: Sie kippte in arge Schräglage, ruderte hektisch mit den Armen und griff mit fliegenden Fingern durch die Luft, als wollte sie sich selbst Aufwind verschaffen – prompt wieherte Arion los und trampelte so wild auf der Stelle, als fände er das zum Verrücktwerden komisch.

Bei dem irren Lärm, den er veranstaltete, wachte der Mann unter der Weide nun endlich, endlich auf und schielte schlaftrunken durch die Lider. Ehe er sich versah, stolperte Viviane rückwärts über seine Füße und brachte ihn zum Aufjaulen, da sie mit voller Wucht auf seinen Oberschenkeln landete, mit beiden Ellenbogen voran.

Arion ließ seine lange Silbermähne fliegen und stampfte noch ein letztes Mal auf, weil Viviane mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis formte – das Zeichen für ‚gut gemacht‘. Das gab sie immer, wenn sie mit ihm zufrieden war. Wenn er gekonnt hätte, hätte er das Zeichen gerne zurückgegeben, denn auch sie war recht geschickt im Tollen – fast so gut wie er.

Tollpatschig drückte sie ihrem ausgewählten, gut gepolsterten Landeplatz die Ellenbogen nun in die Rippen. Ihre Hand rutschte über seinen Hals und würgte ihm die Luft ab, hastig riss sie die Finger weg und packte stattdessen seinen Unterarm … Sie rammte ein Knie in seinen linken Oberschenkel und schrammte mit dem anderen über das rechte Schienbein. Der Mann war währenddessen zu keiner Bewegung fähig, außer mit Händen und Füßen ein klein wenig zu zappeln. Und er konnte noch brüllen: „Run…ter v…on mir, du ver…dammtes W…eib!“

„Welch missliche Lage“, lallte Viviane und stammelte etliche, allesamt schlecht verständliche Entschuldigungen, weshalb die Lage weiterhin misslich blieb, obwohl sie sich ehrlich beeilte.

Kein Wort war gelogen. Sie beeilte sich wirklich, schön schmerzhaft auf die verschiedensten Stellen zu drücken, schließlich wollte sie wissen, wie kräftig ihr zukünftiger Gegner war, bevor sie sich ans Werk machte. Endlich ließ sie es gut sein und kam wieder auf die Füße.

Sofort stellte sie sich neben Arion, tätschelte seinen Hals und schmiegte ihre Wange an seine Mähne. Von dort konnte sie gut sehen, wie dem Mann mit frappierender Geschwindigkeit die Zornesröte ins Gesicht stieg.