Die weise Schlange

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Wie gebannt trottete Loranthus hinter Viviane her und dachte die ganze Zeit an den geschmeidigen Gang eines Rehs – er hatte kürzlich eines beobachtet. Erst, als sich Viviane für die Einladung bedankte und Hanibu auf die Sitzbank drückte, war sein Eindruck einer Begegnung im Wald vorbei; und sobald der Wirt schwungvoll gemusterte Tonteller mit frischem Brot und Hasenfleisch auftischte, wusste Loranthus wieder, wo er war.

„Guter Mann!“, jauchzte er. „Ich bezahle morgen die komplette Zeche, aber heute möchte ich den saftigsten Wein! Beim Dionysos, ich meinte, den besten Wein, den es hier gibt!“

Kaum hatte der Wirt genickt, mutierte Loranthus zum reißenden Löwen und fiel über den Hasen her. Viviane warf ihm einen pikierten Blick zu, bestellte zweimal kräftigen Sud aus Hagebutten und bedeutete Hanibu mittels dezenter Geste, nun sollten auch sie essen. Höchst zivilisiert griff sie ihr Messer, löste einen Brocken Fleisch vom Knochen und reichte das Messer an Hanibu weiter, die in ähnlicher Manier damit hantierte und es dankend zurückgab.

Bevor sich Hanibu dem äußerst zarten Fleisch widmete, tupfte sie mit ihrem Brot ein wenig Bratensoße vom Teller und kaute das saftig-warme Stück mit sichtlichem Genuss. Rasch, aber geziert leckte sie sich die Finger ab und der braunhaarige Händler, der ihr dabei zusah, wurde schlagartig rot, was ihm sehr gut zu Gesicht stand.

Loranthus schien sich für nichts anderes zu interessieren, als das, was zwischen seinen Fingern klemmte. In rasantem Tempo nagte er seinen Hasenschenkel ab, bis nur noch ein sauberer Knochen übrig blieb, und schaute sogar unter dem Brot nach, ob er etwas übersehen haben könnte, bevor er sich damit die Finger und den Bratensaft abtupfte. Seufzend vor Wonne verschlang er auch den letzten nassen Krümel.

Nachdem die Teller abgeräumt waren, verteilte der Wirt die gewünschten Getränke und setzte sich zu ihnen an den Tisch. Seine Frau brachte getrocknete Apfelringe und gesellte sich dazu.

Der blonde Händler, der sie eingeladen hatte, stellte seinen Nebenmann und sich auf Griechisch vor: „Das ist Markus. Er handelt mit Wein aus Mediolanum. Ich bin Angus. Ich pendle immer zwischen Bikurgion und der Küste am Nordmeer.“

Viviane übernahm die Vorstellung ihrer Gruppe, ebenfalls auf Griechisch. Aus Hanibu machte sie eine Nachfahrin der schönen und geheimnisvollen Königin von Saba aus Äthiopien, Loranthus pries sie als Spross einer uralten und hoch angesehenen Händlerdynastie aus Kreta an. Beiden schien ihre Wortwahl sehr zu gefallen, sie wuchsen auf der Sitzbank regelrecht in die Höhe.

Die jungen Händler waren schwer beeindruckt. Markus ging hinter seinem Becher Wein regelrecht in Deckung und seine dunklen Augen schauten verlegen drein. Angus hingegen nickte anerkennend. Forsch strich er sich die blonden Locken aus der Stirn und seine blauen Augen strahlten wie ein wolkenloser Himmel im Sommer. Seine Sitzhaltung, sein schalkhaftes Lächeln … alles an ihm strotzte vor Selbstsicherheit und Kraft, was Viviane vage bekannt vorkam.

„Kommst du auch in das Dorf an der Wesermündung?“, fragte sie und setzte noch hinzu:

„Ihr sagt Wisora zu dem Fluss.“

„Ja, natürlich, das ist meine Heimat.“

„Sehr gut. Dann kennst du wohl auch Finn?!“

Angus’ Augen leuchteten auf. „Das ist mein älterer Bruder! Ich habe seinen Handel übernommen, seit er geheiratet hat und sich als Bauer betätigt. Woher kennst du ihn?“

„Ich bin die Freundin seines Weibes.“

„Oh, die Viviane! Ich habe schon viel von dir gehört. Umia unterhält uns oft mit Geschichten aus eurer Kinderzeit.“ Verschmitzt lächelnd pfiff er durch die Zähne.

Viviane schnaubte. „Da habt ihr ja öfter was zu lachen.“

Angus zog gemächlich einen Apfelring in die Länge und grinste sie frech an. „Ja, dessen kannst du dir sicher sein. Hoffentlich finde ich auch mal so ein gutes Weib wie mein Bruder.“ Sein schelmisches Zwinkern konnte nur eines bedeuten. Viviane schaute demonstrativ woandershin.

„Was gibt es Neues“, stellte der Wirt die obligatorische Frage, und sie war froh über den Themenwechsel.

„Gute Frage“, nuschelte Angus, dem gerade nichts mehr einfiel, außer sich den Mund vollzustopfen.

Loranthus sah rundum, niemand sonst schien etwas Neues zu wissen, aber sollte er gerade diesen Fremden vom Überfall berichten? Viviane nickte aufmunternd. Also holte er tief Luft und fing an zu erzählen. Selbstverständlich rückte er sich dabei – ohne rot zu werden – in ein günstiges Licht und prahlte regelrecht mit seiner verlorenen Schlammschlacht.

Die Reaktionen seiner Zuhörer waren ganz unterschiedlich: Der Wirt betastete nachdenklich seinen Gürtel, seine Frau schmiegte sich an ihn und sah zu ihm auf; bei ihm war sie sicher, sagte ihr Blick. Und das war offensichtlich. Wer diesen Bären von Mann überfallen wollte, musste geistig nicht ganz auf der Höhe sein.

Der vorsichtige Markus kauerte sich noch tiefer hinter seinem Weinbecher zusammen und beäugte dermaßen argwöhnisch die Tür, als würden die Räuber gleich noch zum Essen vorbeikommen. Was hätten sie ihnen anbieten sollen? Abgenagte Knochen? Abgenagte Fingernägel? Der pfiffige Angus legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm, damit es gar nicht erst zu Letzterem kam.

„Wenn du um deine Weinfässer fürchtest, Markus, mein Freund, kann ich dich beruhigen. Ich bin mir ziemlich sicher, diese Männer wollten keine Händler überfallen, dann müssten sie nämlich mit Strafen bis hin zum Tode rechnen. Und wer würde es darauf schon ankommen lassen? Die Hermunduren sind nicht zimperlich, wenn es um die Einhaltung ihrer Gesetze geht.“

„Aber Loranthus ist doch ein Händler“, erinnerte Markus ihn und seine Finger wanderten langsam zum Munde.

„Mag sein, aber wenn er mit einer noblen Reisekutsche unterwegs war, hätte man das auf den ersten Blick nicht erkennen können. Also hatte der Überfall auf ihn vielleicht einen ganz anderen Grund. Vielleicht waren sie wirklich nur an der Kutsche interessiert. Oder sie wollten eine falsche Spur legen. Eine andere Aktion vertuschen, verstehst du?“

„Wenn ihr wollt, können wir unser Gespräch im Schwitzbad fortführen. Ich habe es vorhin angeheizt“, schlug die Wirtin vor.

„Wunderbar, da bekomme ich immer die besten Einfälle. Sicher reinigt der Dampf nicht nur den Körper, sondern auch den Geist.“ Mit diesen Worten schwang sich Angus von der Holzbank und eilte zielstrebig zur Hintertür.

Loranthus musterte das Relief auf seinem Tonbecher, betastete jede der sanft hervortretenden Weintrauben einzeln, trank sehr langsam einen winzigen Schluck und schmatzte genüsslich.

„Einen besseren Wein findet man selten“, verkündete er mit Überzeugung und begann das Spiel erneut.

Der Wirt strahlte vor Freude über das Lob. „Der ist von unserem Markus hier“, sagte er und tätschelte dessen Rücken.

Markus machte eine ungewollte Verbeugung.

„Aha!“ Loranthus schaute tief in seinen Becher. „Ich muss zugeben, auch die Römer machen süffigen Wein.“

Markus versuchte, ein Lächeln in sein beleidigtes Mienenspiel zu bringen, und grummelte: „Ich freue mich, wenn das ein Kenner sagt.“ Abrupt stemmte er sich von der Bank hoch, marschierte Richtung Hintertür und nuschelte in seinen nicht vorhandenen Bart: „Auch wir waren einmal frei. Freie Insubrer. Und das ist noch gar nicht so lange her.“

Viviane legte den Kopf schief und überlegte, ob zweihundertachtzig Jahre lang waren oder nicht, bis ihr Blick auf Loranthus fiel. Dieser betastete schon wieder das Relief an seinem Becher. Er trank nicht mehr, er nuckelte. Anscheinend wollte er sich vor dem Schwitzbad drücken. Auf seiner Stirn stand geschrieben, dass er den Wirt gleich um ein ganzes Fass Wein bitten würde, natürlich zum Nuckeln, nicht zum Baden.

„Tragen die griechischen Weiber eigentlich ein großes Tuch um den Körper, wenn sie ins Bad gehen?“, fragte Viviane, bevor er den Mund aufmachen konnte.

Verdutzt zog Loranthus die Augenbrauen hoch.

„Oh, ich … ich weiß nicht, wie das bei denen gemacht wird.“

„Also sind bei euch die Weiber und Männer auch getrennt“, stellte Viviane fest und wandte sich mit Hanibu zum Gehen.

Sichtlich erleichtert kam Loranthus nun doch nach.

Das Schwitzbad war nicht groß, aber sehr sauber mit glatt geputzten Lehmwänden und Bänken aus bestem Tannenholz. Ihre Kleider legten sie in den getrennten Vorräumen ab, nahmen sich ein kleines Leintuch und huschten durch die nächste Tür. Lange Zeit genossen sie die wohlige Wärme, ohne zu reden.

Irgendwann wandte sich Angus an Loranthus und sagte lauter, damit auch die Frauen nebenan gut hören konnten: „Du hast einen Statthalter erwähnt. Nun, davon hat jede römische Provinz bloß einen und höchstwahrscheinlich ist der Statthalter von Gallia Belgica gemeint. Diese Provinz liegt uns am nächsten, beginnt gleich hinter dem Rhenus – oder Rhein, wie mancher auch sagt. Von dort bis hierher sind es dennoch etliche Tagesreisen. Also, warum sollten diese Männer derart tief in fremde Gebiete eindringen und sich wahrscheinlich tagelang versteckt halten, nur um eine Kutsche zu erbeuten? Das ist für mich die entscheidende Frage.“

„Mein Reisewagen ist für sich allein schon besonders wertvoll, ein Meisterwerk. Ich habe ihn in Antibes für viel pures Gold erstanden. Und wenn ich an meine Waren denke! Meine Kleider! Selbst die Mäntel waren aus feinstem Gewebe, die Fibeln aus Gold!“

Auf ihrer Seite der Wand spitzte Viviane die Ohren. Der Verlust seiner Habseligkeiten schmerzte Loranthus sehr, das konnte man deutlich hören. Doch Angus fragte ohne eine Spur von Mitleid: „Fibeln aus purem Gold? Das kaufe ich dir nicht ab. Das ist viel zu weich. Du kannst zwar dein feinstes Gewebe damit durchstechen, aber nach ein paarmal Einklemmen hätte sich die Nadel verbogen. Egal, lassen wir das. Mich interessiert mehr, wie deine Tour von Antibes bis hierher war.“

 

„Oh, die war einfach. Die Pisten waren allesamt breit und gut geschottert, wir haben uns Händlern angeschlossen und stets bei Freunden meines Vaters übernachtet. Bei den Treverern sind wir gleich mehrere Tage in Confluentes geblieben, bei Kalarix, auch ein Freund meines Vaters. Ich sollte unbedingt noch an einem Festessen teilnehmen und von meiner Reise berichten.“

„Das hört sich wirklich einfach an.“ Angus nickte zufrieden und schien zu überlegen.

„Ich war noch nie hinter dem Rhenus, vielleicht sollte ich es doch mal wagen. Diese Freunde deines Vaters, was sind das für Leute?“

„Händler wie er. Mein Vater kennt viele Händler in etlichen Ländern. Er ist seit langer Zeit im Geschäft, das er von seinem Vater übernommen hat und der wiederum von seinem, und so weiter.“

„Dann bist du also sein Nachfolger?“

„Noch nicht. Erst wenn ich von dieser Reise zurückkehre, werde ich das Handelskontor meines Vaters übernehmen und er darf so lange auf allen Meeren herumschippern, bis er nicht mehr die Segel setzen kann.“

„Ein echter Seemann, dein Vater, meine Hochachtung. Und du scheinst klug kalkulieren zu können, mein Freund, sehr löblich. Dein Vater setzt offenbar großes Vertrauen in dich. Um das Geschäft weiter auszubauen, sollst du wohl neue Kontakte mit der rechten Seite vom Rhenus knüpfen?“

„Handelsbeziehungen mit dieser Seite vom Rhenus schaffen …“ Loranthus dachte über die Frage etwas länger nach. „Nun, Angus, mein Freund, das wäre ein nützlicher Nebeneffekt. Meine Reise war jedoch ursprünglich dazu gedacht, die Keltoi kennenzulernen. Ich meine, speziell das Leben der Hermunduren“, fügte er rasch an und schielte Richtung Trennwand, hinter der er Vivianes Ohr vermutete. Wenigstens konnte er ‚Keltoi‘ denken, so viel er wollte. Es war eben einfacher, sie alle über einen Kamm zu scheren – er kämmte sich ja auch nicht jedes Haar einzeln; die unzähligen Stämme, Unterstämme, Clans und Sippschaften gehörten doch sowieso alle irgendwie zusammen. „Ihre Sitten und Gebräuche, ihre Technik, ihre Künste, ihr astronomisches Wissen … das scheint für meinen Vater sehr wichtig zu sein. Er sagt immer, sie verdienten es, als die ‚Großtuenden‘ bezeichnet zu werden, im Sinne von ‚herausragend‘, ‚hochgewachsen‘ oder ‚groß geraten‘, aber auch in anderer Hinsicht. Gemeinhin ist dieser Menschenschlag nun mal größer als andere, größer als wir Südländer zum Beispiel, aber sie dürfen sich auf das, was sie können, tatsächlich etwas einbilden – egal ob Druide, Krieger, Handwerker, Bauer; oder Händler oder Gastwirt, das will schließlich auch gelernt sein.“

Loranthus freute sich über das eifrige Nicken der Männer rundum und fuhr ermutigt fort: „Links vom Rhenus sind die Menschen bereits viel zu stark romanisiert. Obwohl ich der Meinung bin, die römische Ordnung tut den Provinzen und ihren Bewohnern nur gut. Die Clans bekämpfen sich nicht mehr untereinander und so kann im ganzen Land endlich der Wohlstand gedeihen. Überall entstehen Villen, Theater, Foren, Grünanlagen, Bäder, befahrbare Straßen … Die Römer sind ein emsiges, friedliebendes Volk mit Sinn für Kunst und Kultur, sehr zivilisiert. Das haben sie von uns Griechen gelernt.“

Bevor Loranthus den Raum wieder nach Zustimmung absuchen konnte, kam von der anderen Seite der Wand ein lautes Schnauben.

Emsig! Friedliebend! Ha! Du glaubst tatsächlich, ein Römer trüge auch nur einen einzigen Stein für diese hochgepriesenen Anlagen?! Die sind höchstens die Aufseher! Und die Bauern müssen jetzt nicht nur ihren Königen Abgaben leisten, sondern auch noch den neuen Herren! Natürlich stecken die Könige mit den Römern unter einer Decke, sie büßen ihre Stellung ja nicht ein, solange sie kuschen. Ist ja auch logisch! Wenn die Römer dein Land unterwerfen wollen und du nicht stark genug bist, hast du genau zwei Möglichkeiten. Erstens: Kämpfen und verlieren. Dann siedelt sich ein romtreuer Stamm in deiner Heimat an und leistet Abgaben, während du abtransportiert wirst, um dein weiteres Leben als Sklave zu fristen, falls du noch ein Leben hast und wenn dich überhaupt jemand als Sklave haben will, ansonsten sieht es ganz schlecht aus. Die zweite Option ist, sich freiwillig zu unterwerfen, vollzählig zu bleiben und selbst Abgaben zu leisten, was ich persönlich vorziehen würde, man weiß ja nie, was das Leben noch bringt. So oder so sind die Römer Herrscher über dein Land. Und wenn du dich nicht gegen sie auflehnst, bleibst du höchstwahrscheinlich am Leben, schließlich sollst du ja Abgaben leisten. Solltest du allerdings auf den schwachsinnigen Gedanken kommen, aufzubegehren, darfst du dann eben Sklavendienste leisten oder vielleicht darfst du auch die Löwen in den Arenen füttern.“

Wütend schlug Viviane mit der Faust gegen die Trennwand und grollte: „Was nützt also dem halb verhungerten Bauern das größte Bad aus Marmor mit beheiztem Fußboden, wenn er nicht weiß, wie er seine Abgaben leisten soll und er seine Kinder an die Römer verkaufen muss, nur damit er irgendwann allein auf dem Feld steht und schuftet, bis er tot umfällt? Und seit wann sind die Römer friedliebend?! Das schaffen die ja nicht mal untereinander! Die ermorden ihre Kaiser, wenn der nächste an die Macht will. Die verurteilen ihre fähigsten Krieger als Verräter, weil sie Angst vor deren Führungsqualitäten haben! Die fürchten sich vor ihren eigenen Legionen und deren Heerführern, weil sie eine unglaubliche, unglaubliche Macht haben! In Windeseile können die ihr eigenes Land erobern, und das wissen die schlauen Senatoren sehr wohl!“

Viviane schlug wieder die Faust gegen die Trennwand und brüllte fast: „Sage mir, oh weit gereister Spross einer uralten Händlerdynastie! Wie viele Länder haben sich die Römer in den letzten zweihundert Jahren einverleibt? Und wie viele Unmengen an Gold und sonstigen Abgaben pressen sie aus denen heraus? Kein Römer muss mehr Steuern zahlen! Sie müssen kein Korn mehr anbauen, kein Tuch mehr weben, kein Eisen mehr schmieden, keine Edelsteine mehr brechen! Sogar das Wissen wird geliefert!“

Wieder donnerte Viviane ihre Faust gegen die Wand.

„Du, Grieche, musst es doch am besten wissen! Ein Land, in dem es für die Römer was zu holen gibt, wird bald kein freies Land mehr sein. Sie selbst müssen bloß ihre Plebejer unter der Fuchtel halten, damit die genug Kinder bekommen, damit das Heer immer weiter siegen kann. Das ist schlau durchdacht und funktioniert bestens. Denn wenn sie eines perfekt beherrschen, dann ist es die Kunst des Krieges. Kein Wunder, bei so viel Erfahrung und Tradition!“

Viviane wollte noch einmal gegen die Wand schlagen, hielt jedoch inne.

„Ach, und bezüglich Erfahrung: Was meinst du wohl, wie die Römertruppen so schnell von einem Ort zum anderen kommen, um ihr sogenanntes Gallien in Windeseile zu erobern?! Die Straßen waren vorher schon da! Sie haben höchstens welche aufgestockt und breiter gemacht, damit sie noch schneller und trockenen Fußes zur nächsten Unterwerfung kommen. Das ich nicht lache, ha! Deine Bäder und Theater sind Volksverdummung! Nein, das muss ich revidieren, von Kunst und Kultur wird man nicht dumm, im Gegenteil, und ein gepflegtes Bad hat auch noch nie geschadet. Aber was ist mit unserer Kultur, mit unseren Sitten und Gebräuchen? Heilige Hallstätten, heilige Bäume … alles wird geplündert und geschändet, wenn es ihnen zugutekommt. Sie rauben unsere Königsgrabhügel aus für Gold. Sie vernichten unsere Wälder, denn darin könnte sich ein ganzer Stamm Belger oder Treverer oder Noriker oder gar die gesamte Konföderation Helvetia verstecken. Römer lieben Grünanlagen? Ja, selbstverständlich! Die sind ja so viel übersichtlicher als ein Wald, wo man vor lauter Bäumen die Feinde nicht sieht! Es sei denn, die Bäume fallen um, die Feinde stehen da, mit der Axt in der Hand, und die Römer sind platt.“

Nun donnerte Viviane doch noch einmal ihre Faust gegen die Wand und zischte: „Wenn du ein guter Beobachter sein willst, du kretischer H…ändler, musst du weiter sehen als bis zum nächsten Futtertrog!“

Angus pfiff durch die Zähne. Wann hatte Viviane Luft geholt?

„Bei meiner Mutter!“ Loranthus rieb sich den Schweiß aus den Augen. „Jetzt hast du mir aber ordentlich den Kopf gewaschen. Von deiner Warte aus betrachtet, scheine ich eine ganze Menge übersehen zu haben. Du musst wissen, Viviane, meinem Vater war es sehr wichtig, dass ich meine erste Allein-Reise hierher unternehme. Und wenn er wüsste, wie viel Glück ich im Unglück habe …“ Von plötzlichem Heimweh gepackt, wandte er sich um. „Markus, kommst du an einem Hafen vorbei, wo Schiffe nach Kreta auslaufen?“

„An der Mündung des Po fahren ständig Schiffe nach Kreta.“

„Würdest du dort bitte einen Brief für meinen Vater aufgeben. Ich werde dich gut bezahlen und der Seefahrer bekommt von meinem Vater Gold, solides Gold, wenn er den Brief überbringt.“

„Es wird mir eine Ehre sein. Ich bleibe noch bis Beltane hier, um meine Waren für die Heimreise zu erwerben. Mit etwas Glück hat er den Brief bereits in einem Mond und ich könnte dir sogar seine Antwort übermitteln. Ich bin nämlich zu Lugnasad wieder im Lande. Soll ich dir gleich noch ein Fässchen Wein mitbringen?“

„Wein? Das wird ja immer besser! Jetzt bräuchte ich bloß noch etwas zum Schreiben.

Habt ihr etwas Vergleichbares?“

„Vergleichbares?“ Der Wirt gähnte herzhaft. „Für wie dumm hältst du uns? Meinst wohl, wir hätten noch nie was vom Schreiben gehört, nur weil wir nicht das teure Papyrus von Übersee kaufen. Wenn ihr morgen frühstückt, werden sämtliche Schreibutensilien bereitliegen. Danach könnt ihr mit meinem Neffen und seinem Stiefvater über die Werra setzen. Der Junge hat übrigens auch die Hasen gefangen. Er ist sehr geschickt im Schlingen legen, stimmt’s, mein Weib?“

„Oh, ja, das stimmt, mein Bester, und da wir gerade von unsrer Werra reden …“ Auf der anderen Seite machte die Wirtin die Tür des Schwitzbades auf und führte ihre weiblichen Gäste zum Fluss. Die Männer konnten hören, wie sie sich im Wasser abkühlten und mit Seife wuschen. Ja, von ihrer Badestelle aus konnten sie etwas später sogar hören, wie Viviane Hanibu das Zähneputzen mittels Wolllappen erklärte. Was sie nicht hörten, war die leise Frage von Viviane an die Wirtin.

„Warum bist du traurig? Als dein Mann deinen Neffen erwähnt hat, standen Tränen in deinen Augen und du hast kaum einen Ton herausgebracht.“

„Du bist eine gute Beobachterin.“ Verlegen senkte die Wirtin ihre grauen Augen und holte tief Luft. „Der Mann meiner Schwester lag eines Morgens tot im Bett. Stell dir vor, er war erst fünfundzwanzig Jahre alt und strotzte vor Kraft, ist einfach im Schlaf gestorben. Mein Neffe war damals sieben. Meine Schwester wollte lange keinen neuen Mann und führte den Fährbetrieb ganz allein; ein hartes Geschäft für ein zierliches Weib.

Die ganze Zeit über wurde sie heftig von einem unserer Krieger umworben, bis sie schließlich heirateten. Von da an führte er die Fähre. Das ging eine Weile gut, bis er anfing, den Met wie Wasser zu trinken. Er wurde immer jähzorniger. Daran hat sich nichts geändert, solang sie auch hoffte. Im Gegenteil, es wird immer schlimmer. Das kleinste Missgeschick meines Neffen bringt ihn in Rage. Er drückt ihn gegen die Wand, brüllt, schlägt oder tritt ihn und wenn meine Schwester dazwischengeht, bekommt eben sie die Wut ab. So verlor sie ihr ungeborenes Kind. Letztens ging es besonders brutal zu und sie hat ihm rundheraus mit Scheidung gedroht. Da ist er mit dem Schwert auf die beiden losgegangen, ich habe sie bis hier herüber schreien hören. Ich glaube, dieser Unhold hat sich nur beherrscht, bis das Probejahr vorbei war. Jetzt kann sie ihn nicht mehr verlassen, es sei denn, sie nennt einen guten Grund. Aber vorher schlägt er sie tot.“

Viviane schürzte die Lippen.

„Er hat zwar die Macht dazu, aber welcher Mann tut das seinem Weib an? Er müsste sich vor dem hohen Gericht rechtfertigen und ein Freispruch wäre ihm nicht gewiss.“ Sie legte den Kopf schief. „Welch eine Misere. Deine Schwester und dein Neffe sind in großer Gefahr. Einem jähzornigen Krieger sind beide nicht gewachsen und wenn man ihnen helfen würde, könnte die Lage durchaus eskalieren.“

„Du sagst es“, flüsterte die Wirtin. „Einmal hat sich mein Mann eingemischt, das war ein schwerer Fehler. Ihm selbst ist nichts passiert, mein Schwager käme auch nicht gegen ihn an, schon gar nicht im Schwertkampf; aber meine Schwester hat seitdem noch mehr zu leiden und mein Neffe erst recht. Darum wissen wir nicht …“ Resigniert hob sie die Hände. „Wir fühlen uns so machtlos.“

 

„Verstehe. Wenn sich dein Mann noch mal einmischen würde, gäbe es womöglich Mord und Totschlag; am Ende stünde er selbst vor Gericht und würde mit seinem eigenen Leben büßen. Das wäre fatal, ein Desaster sondergleichen. Alles hätte ein Ende, wenn deine Schwester die Scheidung beim Druiden beantragen könnte. Dann wäre sie zu Lugnasad frei und bräuchte nicht mehr in Angst und Schrecken leben.“ Viviane starrte nachdenklich über den Fluss. „Will sie sich denn überhaupt scheiden lassen? Ich meine, du hast gesagt, sie habe ihm damit gedroht, aber will sie es wirklich? Ist sie davon überzeugt, sich von diesem Mann zu trennen?“

„Oh ja, glaube mir, sie ist davon überzeugt. Sie hält es sogar für überlebenswichtig.“ Die Wirtin seufzte und blickte ebenfalls über den Fluss, zu einem kleinen Grubenhaus, vor dem ein Junge die Hühner fütterte.

„Mir tut es leid um ihn. Er gibt sich solche Mühe, dem Raufbold alles recht zu machen, und manchmal ist der auch recht freundlich zu ihm. Dann genügt wieder eine Kleinigkeit und der gute Teil von ihm macht dem bösen Platz. Ich würde alles tun, um so ein liebes Kind zu bekommen. Es würde ihm bei uns gut gehen. Diesen Vorschlag kann ich meiner Schwester natürlich nicht unterbreiten.“

Viviane legte der Wirtin mitfühlend die Hand auf die Schulter. Sie war nicht mehr ganz jung, aber längst nicht zu alt zum Gebären. „Habt ihr denn schon alles versucht?“

„Oh, ja.“ Die Wirtin nickte traurig. „Als wir sicher waren, es würde nicht von selbst, pilgerten wir manchmal zu unserem heiligen Birkenhain. Besonders um Beltane herum soll es Paaren Glück bringen, sich dort auf dem Opferstein zu vereinen. Fünf Jahre lang haben wir das nun schon gemacht, aber es hat nichts gebracht.“

Viviane wiegte den Kopf. „Was man ganz sicher auf dem Stein bekommt, ist abgeschmirgelte Haut, wenn man nicht gerade auf einem dicken Bärenfell liegt.“

Die Wirtin gluckste.

Viviane wackelte mit den Augenbrauen. „Ich kann dir nichts versprechen, allerdings wäre es einen Versuch wert“, überlegte sie und sah lange auf die riesige Hagebuttenhecke.

Die Wirtin nahm flehend ihre Hände. „Ich würde alles tun, um ein Kind zu bekommen.“ „Fürs Erste reicht es, wenn du die Blüten der Hagebutten sammelst, sobald die Zeit gekommen ist. Bereite einen Sud daraus und trinke drei Becher über den Tag verteilt, solange der Vorrat reicht. Lass aber noch ein paar Blüten an den Sträuchern, ihr wollt doch bestimmt noch Marmelade haben.“ Sie leckte sich genüsslich die Lippen und tätschelte ihren Bauch.

Strahlend vor neuer Hoffnung begleitete die Wirtin Viviane und Hanibu zum Grubenhaus.

Als Loranthus eintrat, lagen die Frauen bereits im großen Bett rechts von der Tür und hatten einen kunterbunt karierten Vorhang vorgezogen, der mittels Holzstange von einer Wand zur anderen ging. Gleichmäßiges Atmen war dahinter zu hören, darum ließ er sich leise ins Bett auf der linken Seite fallen, nahm einen betörenden Rosenduft wahr und schlief auf der Stelle ein.